"Nur Nudisten haben nichts zu verbergen"
Die Pläne für eine schärfere Internetüberwachung sorgen in der Schweiz für Gesprächsstoff. Denis Simonet, Präsident der Piratenpartei Schweiz, kritisiert das Vorgehen von Justizministerin Simonetta Sommaruga – und warnt vor einer Einschränkung unserer Grundrechte.
Interview: Marcel Urech
Herr Simonet, nach den Anschlägen in Oslo wurden Rufe nach einer stärkeren Überwachung des Internets laut. Können Sie dies nachvollziehen?
Zumindest überrascht es mich nicht, da ich genau dies erwartet hatte. Viele sind geschockt und fordern mehr Überwachung. Nun liegt es an der Politik zu informieren, dass es eine absolute Sicherheit nie geben kann – auch nicht im Internet.
Ganz konkret: Was spricht gegen mehr Internetüberwachung?
Wir alle haben ein Recht auf Privatsphäre und die Achtung unseres Privatlebens. Diese Freiheitsrechte sind in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Beim Thema Internetüberwachung bedeutet dies, dass das Gebot der Verhältnismässigkeit oberste Priorität hat. Jeder Rechtsstaat muss sich an diesen Grundsatz halten.
Ist es unverhältnismässig, wenn Justizministerin Simonetta Sommaruga verlangt, die Überwachung auf Onlineaktivitäten wie Chats, Google-Abfragen oder Video-Streams auszuweiten?
Die geplante Echtzeitüberwachung aller Onlineaktivitäten lehnen wir grundsätzlich ab. Die Änderung der Verordnung über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (VÜPF) sieht ausserdem eine Erweiterung der Vorratsdatenspeicherung vor. Sprich: Daten auf Vorrat sammeln und bei Verdacht auswerten. Das ist ein Eingriff in verfassungsmässige Grundrechte, der nicht über eine Verordnung geregelt werden darf. Das sagen auch Verfassungsgerichte in Deutschland, Irland, Bulgarien und Rumänien, die ähnliche Bestrebungen als widerrechtlich eingestuft haben.
Der Bund spricht von einer «rückwirkenden Überwachung».
Das ist eine Illusion. Überwachung ist nie rückwirkend. Sobald ein Staat Daten sammelt, überwacht er. Wohin dies führen kann, hat uns die Geschichte schmerzhaft vor Augen geführt. Überwachung muss also immer in einem klar definierten Rahmen stattfinden, und eine zentrale Lagerung der Daten ist auf jeden Fall zu vermeiden. Sonst droht zum Beispiel bei einem Hackerangriff auch noch ein massives Datenschutzproblem.
Zur Vernehmlassung über die VÜPF-Revision wurden weder ICTSwitzerland noch die politischen Parteien eingeladen. Nimmt man ihre Anliegen nicht ernst?
Offenbar hat der Bund gedacht, dass diese Parteien nichts zur Sache beitragen können. Anders ist das nicht erklärbar. Aber es gibt da noch ein ganz anderes Problem: Im Sommer 2010 hat der Bundesrat eine Revision des Gesetz über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF) angeregt. Diese liegt nun auf Eis, und ein Vernehmlassungsbericht wurde nie veröffentlicht. Dennoch will Frau Sommaruga auf dessen Grundlage eine Verordnung durchboxen. Dieses Vorgehen ist höchst undemokratisch und für ein System wie die Schweiz völlig untypisch.
Provider befürchten steigende Kosten, falls die BÜPF-Revision wie geplant umgesetzt wird. Teilen Sie diese Befürchtung?
Für viele Provider ist die Revision ein gewaltiges Problem. Die vorgesehene Streichung des Beitrages der Behörden an die Kosten von Überwachungsmassnahmen ist falsch. Vor allem, wenn diese dazu gezwungen werden, teure Überwachungsanlagen zu kaufen. Gerade für kleinere Anbieter ist dies existenzgefährdend. Zudem besteht die Gefahr, dass der Staat unverhältnismässig viele Anfragen für Handy-Ortung oder IP-Rückverfolgung stellen wird. Denn was nichts kostet, wird genutzt.
FDP-Nationalrat Ruedi Noser führte im Tages-Anzeiger sogar an, dass die Verordnung technische Voraussetzungen für Methoden schaffe, die gesetzlich nicht erlaubt seien und die das Parlament in Debatten klar abgelehnt habe.
Das ist richtig. Dass Frau Sommaruga – immerhin ehemalige Konsumentenschützerin – versucht, über eine Verordnung ein Bundesgesetz zu umgehen, muss zu denken geben. Eine Verordnung darf in der Schweiz nie weiter gehen als das Gesetz, auf dem sie basiert. Es hat den Anschein, als ob damals viel Kritik kam und nun versucht wird, über die Hintertüre noch schnell eine neue Regelung einzuführen. Die momentane Entwicklung ist gefährlich, und viele der Ideen, die jetzt im Raum schweben, werte ich als puren Aktionismus.
Wie meinen Sie das?
Einige Akteure versuchen, mit weitreichenden Forderungen nach Regulierung aus den Ängsten der Bevölkerung politisches Kapital zu schlagen. Das läuft darauf hinaus, dass wir unsere eigenen Grundrechte beschneiden, ohne dies zu merken. Stattdessen sollten wir innehalten und uns überlegen, was ein freies Internet für unsere Gesellschaft für einen Wert hat.
Gibt es denn keine Situation, in der Überwachung Sinn macht?
Doch, aber es muss klar zwischen Prävention und Repression unterschieden werden. Repression bedeutet für mich zum Beispiel Internetüberwachung auf Vorrat. In der Hoffnung, dass Leute unter Androhung einer Strafe etwas nicht tun. Präventive Überwachung sorgt dafür, dass ein Schadensfall erst gar nicht eintritt oder der Schaden zumindest gemindert werden kann.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Die Stadt Winterthur überlegt sich, «Lockvogel-Fahrräder» mit GPS-Sendern auszustatten. Bewegt sich ein solches, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Dieb am Werk. Die Überwachung ist in diesem Fall verhältnismässig und zweckgebunden – und sie kommt ohne Kameras aus. Das Problem mit repressiver Überwachung ist, dass sie nur dann funktioniert, wenn sie flächendeckend und lückenlos eingesetzt wird. Das führt aber zu einem Überwachungsstaat, und das will hoffentlich niemand.
Trotzdem: Internetkriminalität muss doch unterbunden werden.
Natürlich, aber ein übereifriges Handeln führt nirgends hin. Es gibt keine einzige Studie, die beweist, dass eine verstärkte Internetüberwachung zum gewünschten Ziel führt. Auch gibt es keine Garantie dafür, dass die vorgeschlagenen Massnahmen wirklich effektiv sind. Was zum Beispiel, wenn jemand Anonymisierungs- und Verschlüsselungstechnologien wie Tor oder PGP einsetzt? Wer wirklich kriminell ist, wird immer Wege finden, sich zu verstecken.
Das Argument kann man aber auch umdrehen: Wer nichts zu befürchten hat, braucht sich auch nicht zu verstecken.
Wer das sagt, denkt nicht zu Ende. Nur Nudisten haben nichts zu verbergen. Wir haben ein Recht darauf, uns im Internet frei zu bewegen. Anonymität ist ein wichtiger Grundsatz einer freiheitlichen Gesellschaft. Klarnamen im Internet müssen freiwillig bleiben. Vielen Nutzern von sozialen Netzwerken wie Facebook, Google+ oder Twitter ist gar nicht klar, was ihre Teilnahme bedeutet. Es herrscht der Irrglaube vor, dass die Angebote gratis sind.
Sind sie das nicht?
Natürlich nicht. Soziale Netzwerke sind ein Tauschgeschäft: Der Nutzer gibt seine Daten und erhält dafür vom Anbieter einen Account. Das muss man den Leuten erst erklären.
In Deutschland wird das Thema Anonymität im Internet auf politischer Ebene breit diskutiert. In der Schweiz hingegen kaum. Warum ist das so?
Eine gute Frage. Vielleicht geht es uns einfach zu gut? Anonymität ist ein Recht, das jeder von uns hat. Ich bin sogar der Meinung, dass Unternehmen, die Daten sammeln, ihre Kunden auch darüber informieren müssen. Und diese müssen das Recht haben, eine Löschung zu verlangen. Diese informationelle Selbstbestimmung gehört zu den elementaren Grundrechten jedes Internetnutzers. Wir von der Piratenpartei versuchen, auf genau solche Themen aufmerksam zu machen.
Die Piratenpartei Schweiz wurde vor rund 25 Monaten ins Leben gerufen. Was hat sich seither getan?
Unser grösster Erfolg war die Lancierung der Kamerainitiative in Winterthur. Nun kann die Bevölkerung in Winterthur wählen, ob künftig das Parlament über die Installation zusätzlicher Überwachungskameras abstimmen soll oder nicht. Aber auch sonst haben wir einiges erreicht: In einem Verbund mit anderen Parteien haben wir das Referendum zur Buchpreisbindung zustande gebracht, die Transparenzinitiative mitlanciert, und beim Thema Wikileaks konnten wir uns weltweit über die Medien Gehör verschaffen.
Dennoch wird ihre Partei oft als «Ein-Themen-Partei» kritisiert: Digitalpolitik, sonst nichts.
Das haben wir vor allem in den Anfängen oft gehört. Häufig lautet der Vorwurf, dass es nur um Gratis-Downloads geht. Doch Digitalpolitik betrifft alle Lebensbereiche. Die Bevölkerung muss merken, dass sich das Internet heute über alle möglichen Themenbereiche auswirkt. Natürlich stimmt es, dass unsere Kompetenz in erster Linie bei der Digitalpolitik liegt. Aber eben nicht nur: Unser Beschluss zur Trennung von Kirche und Staat ist Staatspolitik und die Revision des Patentwesens, die wir schon lange fordern, greift ein grosses Problem der Wirtschaft auf. Man muss auch bedenken, dass wir in den letzten zwei Jahren wiederholt neue Positionen beschlossen haben. Wir gehen von einer gesellschaftsliberalen Haltung aus und erweitern dementsprechend.
Haben die traditionellen grossen Schweizer Parteien das Thema Digitalpolitik vernachlässigt? Braucht es darum die Piraten?
Ganz klar. Die grossen, etablierten Parteien in der Schweiz haben die Digitalpolitik komplett verschlafen. Als die Wikileaks-Geschichte aufkam, waren wir als einzige Schweizer Partei weltweit in den Medien präsent. Wir haben schnell eine klare Position vertreten, während andere Parteien nicht einmal begriffen, wie Wikileaks überhaupt funktioniert.
Oft wird der Piratenpartei vorgeworfen, sie unterstütze Hackergruppen wie Anonymous oder Lulzsec. Was sagen Sie dazu?
Das ist Humbug. Ich verstehe zwar die Motivation, doch auch diese Gruppierungen müssen sich an Gesetze halten und sollen bei Übertretungen ihre gerechte Strafe kriegen. Die DDoS-Attacke auf Postfinance zum Beispiel haben wir als erste Partei in der Schweiz überhaupt klar verurteilt. Was wir wollen ist Transparenz und Gerechtigkeit, nicht Anarchie.