«Agilität ist ein Enabler effektiver IT-Beschaffung»
Mirko Kleiner ist Mitbegründer von Flowdays. Er begleitet Unternehmen bei der Transformation zu agileren Organisationen. Mit dem agilen Vorgehen Lean-Agile Procurement will er eine Alternative zum heutigen Beschaffungswesen aufzeigen. Er erklärt im Interview, wie Auftraggeber und Dienstleister von agileren Beschaffungen profitieren können.
Was stört Sie am bisherigen Beschaffungssystem?
Mirko Kleiner: Meiner Ansicht nach ist das Beschaffen von IT-Lösungen momentan für beide Seiten eine Lose-Lose-Situation. Die Prozesse sind viel zu langwierig, unflexibel und fokussieren vor allem auf die Lösung. Dem gegenüber steht die rasante Entwicklung am Markt. Das aktuelle Vorgehen stammt noch aus einer Zeit, wo es darum ging, überschaubare und auch komplizierte Dinge wie etwa Ersatzteile zu beschaffen. Dies passt im komplexen Umfeld der IT nur bedingt. Ausschreibungen dauern heute von der Idee über die Ausarbeitung des Lasten- und Pflichtenhefts bis zum Zuschlag schnell drei bis zwölf Monate oder länger. Eine Ewigkeit in der Branche. So lange kann weder der Auftraggeber noch der potenzielle Partner warten.
Sehen sie noch weitere Schwächen?
Einer der zentralen Knackpunkte ist, dass Beschaffungen bereits auf die Lösung (Features & Funktionen) beziehungsweise die harten Faktoren fokussieren. Der Fokus sollte jedoch vorwiegend auf die Probleme aus Kunden- oder Nutzersicht gelegt werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass diese Probleme echt und somit auch lösenswert sind. Des Weiteren sind bei der Beschaffung meist – weder auf Auftraggeber- noch auf Auftragnehmerseite – nicht alle wichtigen Stakeholder von Anfang an miteinbezogen. So sind etwa auf der Anbieterseite oft nur Vertreter des Verkaufs dabei, aber nicht die Teammitglieder selbst, die mit dem Auftraggeber zusammen ein agiles Team bilden werden. Dies führt dann dazu, dass die eigentlichen Probleme nicht richtig verstanden werden und daraus unqualifizierte Aussagen zum Timing und Aufwand folgen. Ein weiteres Beispiel ist, dass für die Annahme eines Angebots meist weitere Loops mit den Entscheidungsträgern und Anwälten beider Parteien nötig sind, was erneut viel Zeit in Anspruch nehmen kann.
Wie wollen Sie mit Lean-Agile Procurement gegensteuern?
Unser Ziel ist es, dass wir nur so viel Zeit wie nötig, aber so wenig Zeit wie möglich in die Beschaffung investieren, um dann gleich aktiv loslegen zu können. Agil und lean eben. Bei der Entwicklung des Vorgehens stellen wir uns zwei zentrale Fragen. Erstens: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um eine Beschaffung in nur einem Tag durchzuführen? Und zweitens: Kann dies auf einer Seite zusammengefasst werden? Beide Fragen konnten wir mit Ja beantworten.
Wie soll das agile Beschaffen funktionieren?
Damit eine Beschaffung in nur einem Tag möglich wird, legen wir zuerst den Fokus auf die für die Entscheidungsfindung nötigen Aspekte einer jeden Beschaffung. Das Resultat daraus ist ein strukturiertes Blatt, auf Neudeutsch «Lean Procurement Canvas» genannt. Dieses unterteilt sich in drei Elemente. Auf der rechten Seite befinden sich die Angaben des Auftraggebers über die Ausgangslage mit einem starken «Welches Problem soll gelöst werden»- Fokus. Auf der linken Seite, der Anbieterseite, stehen Lösungsvorschläge zu den einzelnen Problemfeldern. In der Mitte wird die strategische Relevanz dieser Partnerschaft aufgezeigt. Auf Grundlage dieser Angaben kann sehr schnell aufgezeigt werden, wie weit diese zueinander passen.
Es geht aber nicht nur um harte Faktoren, wenn ich Sie richtig verstehe?
Richtig. Agile Prinzipien wie Transparenz, gemeinsame Kultur, nicht zuletzt die Menschen selbst werden mitberücksichtigt, sowohl auf dem Canvas als auch im Vorgehen selbst. Diese bilden die Basis einer erfolgreichen, nachhaltigen Partnerschaft und sind meiner Meinung nach mindestens genauso wichtig wie die harten Faktoren.
Aber ein A4-Blatt ist da nicht genug?
Nein. Das Lean Procurement Canvas ist vielmehr eine Zusammenfassung, womit alle wichtigen Informationen auf einem Blick sichtbar und damit vergleichbar werden. Es soll aber nur das wirklich Nötige gemeinsam erarbeitet werden, ansonsten wäre es nicht mehr lean. Wenn man sich die bisher üblichen dicken Bewerbungsmappen vor Augen führt, ist dies aus meiner Sicht ein erheblicher Fortschritt. Erste rechtliche Abklärungen haben zudem gezeigt, dass das Lean Procurement Canvas auch ein agiler Vertrag ist. Ein weiterer zeitaufwendiger Übersetzungsschritt entfällt somit.
Wie wird dieses Blatt genau ausgefüllt?
Das Blatt wird an dem einen Tag gemeinsam mit dem potenziellen Partner ausgefüllt. Wir nennen dies «Big Room Evaluation Day». Vor dem Meeting ist natürlich eine ent- sprechende Vorbereitung notwendig. Die Idee ist, dass alle nötigen Stakeholder zusammenkommen. Idealerweise sind dies das zukünftige Projektteam, deren Stakholder, Vertreter der Rechtsabteilung und auch die späteren Nutzer selbst. Es müssen von beiden Parteien alle Leute vor Ort sein, damit effizient auch Fragen beantwortet und Entscheide gefällt werden können. Mittels Breakout-Sessions wird das Lean Procurement Canvas gemeinsam vervollständigt. Man kann sich dies wie ein Speed-Dating vorstellen, wo Auftragnehmer und Auftraggeber anhand erster konkreter Fragestellungen zusammenarbeiten und gleich feststellen, ob es passt. Moderiert wird dieser Tag im übrigen von den Beschaffern. Ihre heutige Rolle und Akzeptanz in der Organisation wird sich mit diesem Vorgehen sehr zum Positiven wandeln.
Und mit jedem Anbieter müsste ich diesen Prozess dann wiederholen?
Der Prozess kann mit beliebig vielen Anbietern durchlaufen werden, um den passenden zu finden. Mit dem Lean Procurement Canvas gibt es dann jeweils eine Zusammenfassung, die die Basis bildet für den Anbietervergleich beziehungsweise -Entscheid.
Wann kann es dann losgehen?
Im Prinzip kann die Entwicklung gleich nach dem Entscheid beginnen. Das gemeinsam erarbeitete Lean Procurement Canvas und die agile Roadmap inklusive priorisierter Problemstellungen bilden dabei die Grundlage für die ersten zwei bis drei Sprints. Ist der Entscheid nicht ganz eindeutig, könnte sogar mit zwei Partnern parallel gestartet werden. Der Entscheid würde dann nach einigen Sprints gefällt. Selbstverständlich würden die Aufwände bezahlt, da ja bereits Mehrwert für die Nutzer geliefert wird. Meiner Ansicht nach überwiegen bei diesem mehrgleisigen Vorgehen die Vorteile die Kosten. So lernen sich die Vertragspartner besser kennen und erfahren anhand echter Problemstellungen das Produkt, deren Services/Expertise etc. Transparenz gegenüber allen Parteien ist hierbei immer oberstes Gebot.
Erproben Sie Ihr Konzept auch schon in der Praxis?
Lean-Agile Procurement ist noch ziemlich neu und fand bereits in der agilen Community weltweiten Zuspruch. Erste namhafte Unternehmen wie auch Hochschulen machen erste Erfahrungen mit dem agilen Vorgehen. Deren Ausschreibungen umfassen Volumen von zum Teil mehreren Millionen Franken. Es konnte aufgezeigt werden, dass komplexe Ausschreibungen aus dem IT-Umfeld unkompliziert und schnell durchgeführt werden können. Case Studies aus echten Anwendungen werden in den nächsten Monaten folgen.
Eignet sich das Verfahren auch für die öffentliche Hand?
Auch Unternehmen der öffentlichen Hand haben ihr Interesse an Lean-Agile Procurement bekundet. Das Dialogverfahren bietet die rechtliche Grundlage, WTO-Anforderungen gerecht zu werden. Momentan befinden wir uns aber noch auf der Ebene der freihändigen Verfahren und sehen dies als weiteren Ausbauschritt.
Wie soll es weitergehen?
Aktuell folgen weltweit weitere Vorträge, Inspiration-Workshops, Trainings beziehungsweise die Sensibilisierung für diese neue Option der agileren Beschaffung. Daneben arbeite ich zurzeit an einem Buch über Lean-Agile Procurement, in dem ich das Vorgehen und auch die Erfahrungen aus den ersten Anwendungen beschreiben werde. Dieses entsteht übrigens auch in einem agilen Vorgehen Kapitel für Kapitel, in engem Austausch mit der Agile-Community. Interessierte sind herzlich willkommen, mitzuwirken!