Wie die Gornergrat-Bahn mit der Cloud fährt
Siemens Schweiz und die Gornergrat-Bahn haben das weltweit erste Bahnleitsystem geschaffen, das in einer Cloud betrieben wird. Jan Bärwalde, Leiter Unternehmenskommunikation bei der BVZ, erklärt im Interview, welche Chancen und Risiken die neue Lösung bringt.
Die Gornergrat-Bahn ist die erste elektrisch betriebene Zahnradbahn der Schweiz. Die historische Ausflugsbahn verbindet Zermatt mit dem Aussichtsberg Gornergrat. Sie gehört zur BVZ-Gruppe, einem Tourismusunternehmen, das in den Kantonen Wallis, Uri und Graubünden tätig ist.
Seit Beginn dieses Jahres fährt die Gornergrat-Bahn mit einem Bahnleitsystem, das aus der Cloud betrieben wird. IT-Infrastruktur und Software für die Leittechnik wurden bei Siemens aufgebaut, wie der deutsche Technologiekonzern mitteilte. Siemens versorgt die Gornergrat-Bahn mit den benötigten Diensten via Internet. Die Bahngesellschaft beschaffte die notwendigen Hard- und Softwaresysteme nicht mehr selbst, sondern bezieht die Dienste per Lizenzgeschäft.
Jan Bärwalde, Leiter Unternehmenskommunikation bei Matterhorn Gotthard Bahn und BVZ, erklärt im Interview, welche Chancen und Risiken die neue Lösung bringt.
Können Sie erklären, was ein Bahnleitsystem ist und was es leisten soll?
Jan Bärwalde: Über das Leit- und Informationssystem wird der Betrieb einer Bahnlinie weitgehend automatisiert abgewickelt. Dazu gehören unter anderem die Fernsteuerung der Stellwerke, die Überwachung des Betriebs und die Steuerung der Fahrgastinformationssysteme in den Stationen. Zur Lenkung der Züge gleicht das System die hinterlegten Fahrpläne mit den tatsächlichen Positionen von Zügen ab, die dem System aufgrund der Zuglaufverfolgung permanent bekannt sind.
Ein Bahnleitsystem sorgt also für den weitgehend automatischen Betrieb von Zügen. Was ist heute die Aufgabe des Zugführers?
Der Fahrdienstleiter überwacht in erster Linie das System. Dies tut er über eine schematische Darstellung auf dem Bildschirm. Bei Abweichungen vom Regelbetrieb kann er auch Einfluss auf den Bahnbetrieb nehmen. Das Leitsystem unterstützt den Fahrdienstleiter und ermöglicht so eine effiziente Nutzung des Schienennetzes und der eingesetzten Ressourcen. Bei der Gornergrat-Bahn regelt das Bahnleitsystem hauptsächlich die Stellwerksbedienung.
Was hat sich mit der Umstellung auf das neue System verändert?
Für den Anwender, sprich den Fahrdienstleiter vor Ort, heisst die Antwort schlicht "nichts". Die schematische Darstellung auf dem Bildschirm und die Nutzeroberfläche sind nahezu unverändert.
Welche Vorteile bringt die cloudbasierte Lösung für die BVZ?
Der "Remote"-Ansatz bringt zwei entscheidende Vorteile. Zum einen handelt es sich um ein Lizenzgeschäft: Wir zahlen Siemens als Systemprovider einen festen Betrag für Nutzung und Wartung des Systems, wodurch hohe Anfangsinvestitionen für den Aufbau einer eigenen IT-Landschaft für Hard- und Software entfallen. Zum anderen muss für mögliche Service- und Wartungsarbeiten kein Techniker aus Wallisellen anreisen. Stattdessen kann dies direkt im Rechenzentrum von Siemens vor Ort erledigt werden. Hinzu kommt, dass die Software immer auf dem aktuellen Stand gehalten wird.
Muss sich das neue System noch amortisieren, oder konnten Sie durch die Umstellung bereits Kosten sparen?
Die Lizenzkosten und die bei einer eigenen Lösung anfallenden Investitions- und Betriebskosten halten sich aktuell in etwa die Waage. Finanziell noch interessanter wird das Modell, wenn sich andere Bahnbetreiber ebenfalls entschliessen, die Cloud-Lösung zu nutzen. Je mehr Anwender beteiligt sind, desto weniger muss der Einzelne für Betrieb und Unterhalt zahlen.
Warum hat die BVZ gerade die Gornergrat-Bahn gewählt, um das erste cloudbasierte Bahnleitsystem einzuführen?
Die Leittechnik der Gornergrat-Bahn (GGB) musste erneuert werden, da sie softwareseitig auf einem Betriebssystem basierte, für das es auf dem Markt keine Ersatzrechner mehr gab. Vor diesem Hintergrund wurden verschiedene Varianten für die Ablösung des Systems evaluiert. Eine davon war der virtuelle Ansatz. Nach intensiver Prüfung haben wir uns bei der GGB für die cloudbasierte Lösung entschieden.
Werden Sie die Lösung auch für andere Bahnstrecken einsetzen?
Aktuell bestehen keine Planungen für eine Ausweitung, da für das bestehende Leitsystem bei der Matterhorn-Gotthard-Bahn aktuell kein Bedarf besteht. Sollte dies aber in einigen Jahren der Fall sein, wird das sicher eine denkbare Möglichkeit sein.
Sie haben die Infrastruktur für die Leittechnik an Siemens ausgelagert. Welche Risiken entstehen durch die Umstellung?
Als Bahnbetreiber hat das Thema Sicherheit bei uns höchste Priorität. Wenn wir bei der Cloud-Lösung nur den geringsten Zweifel an der Sicherheit hätten, wäre diese nicht zum Einsatz gekommen. Auch für das Bundesamt für Verkehr (BAV) war das der Knackpunkt. Die Nachweisführung der sicheren Verbindung über das öffentliche Datennetzwerk sowie die zum Einsatz kommende Verbindung mittels eines sogenannten sicheren "Daten-Tunnels" waren mit die grössten Herausforderungen bei der Umsetzung.
Sie sprechen die Herausforderungen an, die Sie bei der Umsetzung der neuen Lösung überwinden mussten. Was waren die grössten Hürden?
Zentral für die Realisierung war der Schutz der Leitungen gegen mögliche Fremdeinwirkungen. Dieser wird durch den Einsatz neuer Sicherheitstechnologien gewährleistet. Als zusätzliche Rückfallebene wird während der sogenannten Leistungserprobungsphase in den kommenden drei Jahren noch ein Ersatzcomputer in Zermatt vorgehalten, den der Fahrdienstleiter bei Bedarf aktivieren und die Stellwerke der GGB wieder autonom vor Ort bedienen kann. Durch diese Massnahmen kann ein Höchstmass an Sicherheit gewährleistet werden, weshalb das BAV schliesslich die Bewilligung für den Einsatz erteilte.
Wollen Sie in Zukunft weitere Dienste digitalisieren? Spielt die BVZ sogar mit dem Gedanken, eines Tages autonome Züge einzusetzen?
Zunächst gilt es, die beiden Thematiken zu trennen. Der Betrieb des Leitsystems in einer Cloud hat nichts mit dem führerlosen Fahren von Zügen zu tun. Gleichwohl ist der autonome Betrieb ein allgegenwärtiges Thema in der Branche, das wir sehr genau beobachten. Bereits seit einigen Jahren setzt die Matterhorn-Gotthard-Bahn beispielsweise im Stellwerkbereich auf Digitalisierung. Mit dem Ersatz der analogen Relais-Stellwerke durch elektronische Stellwerke schaffen wir bereits jetzt die Grundlage, um künftige Innovationen realisieren zu können. Aber bis das autonome Führen von Zügen tatsächlich umgesetzt wird, werden voraussichtlich noch einige Jahre vergehen.