Digitalisierung von Schweizer Apotheken

"Die Zukunft der Apotheken liegt nicht mehr im Verkauf von Medikamenten"

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Apotheken sind nicht gesetzlich dazu verpflichtet, ein elektronisches Patientendossier (EPD) anzubieten. ­Dennoch wirbt der Branchenverband Pharmasuisse bei seinen Mitgliedern für das EPD. Warum? ­Didier Ray, Vorstandsmitglied bei Pharmasuisse, erklärt, weshalb sich das Geschäft für Apotheken ­drastisch verändern wird und warum sich das EPD für Apotheker lohnen könnte.

Didier Ray, Vorstandsmitglied bei Pharmasuisse. (Bild: zVg)
Didier Ray, Vorstandsmitglied bei Pharmasuisse. (Bild: zVg)

Wie ist der Digitalisierungsgrad Schweizer ­Apotheken?

Didier Ray: Die Schweizer Apotheken sind zu über 99 Prozent digitalisiert. Es gibt praktisch keine Apotheke, die ohne EDV arbeitet. Die Apotheken begannen schon vor Jahren, ihre Systeme und Arbeitsprozesse zu digitalisieren. Allein schon wegen der Abrechnungen der Medikamente bei den Krankenkassen und der vorherigen Prüfung der Sicherungsdeckung der Patienten über Systeme wie Covercard oder Veka. Hierbei wird vor der Abgabe eines Medikaments an den Kunden geprüft, ob die Versicherung das gewünschte Medikament in der Grund- oder Zusatzversicherung bezahlt. Auch die Abrechnung läuft seit Jahren elektronisch über die EDV-Systeme. Für die Abrechnung benötigen wir auch die Zusammenarbeit mit Clearingstellen wie Medidata, Ofac oder Ifak. Die sichere und geschützte Übertragung aller Daten wird über eine Health Professional Card gewährleistet.

Woher kommt der Druck, zu digitalisieren?

Der Druck ist sehr gross, allein schon wegen der Lagerbewirtschaftung. Eine Apotheke muss etwa 5000 Produkte verwalten. Daneben gibt es Internetzugänge, die nicht direkt in die ­ERP-Systeme integriert sind und über das Web erreicht werden können.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein Beispiel ist das von Pharmasuisse initiierte Pharmasuisse-Net. Das ist eine B2B-Lösung, über die wir anonymisiert Daten sammeln für Studien, etwa um die Effektivität von Impfungen in einer Studie zu belegen. Ein anderes Beispiel ist eine Kampagne für Darmkrebs. Dieses Studienangebot wollen wir weiter ausbauen.

Die Apotheken müssen kein elektronisches Patientendossier anbieten. Dennoch setzt sich Pharma­suisse im Rahmen seiner E-Health-Strategie dafür ein. Warum?

Es kann nicht sein, dass Pharmasuisse das Thema E-Health aus­sen vor lässt, während andere Gruppen von Leistungserbringern sich des Themas annehmen. Wenn wir jetzt nicht mitarbeiten, entstehen uns mittel- bis langfristig Nachteile. Wir können den E-Health-Trend also nicht verschlafen. Stattdessen wollen wir Voraussetzungen schaffen, die es den Akteuren erlauben, sich positiv für die bessere Qualität der Patientenbehandlung einzusetzen. Das EPD ist in hohem Interesse der Patienten, denn sie können von einer effizienteren und besseren Behandlungsqualität ausgehen, wenn die Leistungserbringer auf möglichst viele relevante Daten der Patienten zurückgreifen können. Ich bin überzeugt, dass sich die Qualität und die Effizienz der Behandlungen bei gleichzeitig tieferen Kosten durch die verfügbaren Daten verbessern wird.

Der IT-Aufwand ist nicht unerheblich. Die IT-Sicherheit etwa dürfte sehr aufwändig werden. Inwieweit kann eine einzelne Apotheke den Aufbau und ­Betrieb eines EPD-Angebots überhaupt stemmen?

Auf die Apotheken werden Investitionen zukommen. Was die IT-Infrastruktur angeht, dürften die zusätzlichen Kosten gering sein, da die Digitalisierung schon weit fortgeschritten ist. Die Kosten, die bei den Stammgemeinschaften anfallen werden, sind eine andere Sache. Diese müssen die Kosten für Aufbau und Unterhalt der technischen Plattformen wieder reinholen.

Wie hoch schätzen Sie die Kosten für eine Apotheke ein, die ein EPD anbieten will?

Heute muss eine durchschnittliche Apotheke etwa 25 000 Franken pro Jahr für den IT-Betrieb einkalkulieren. In Zukunft mit dem EPD, aber auch durch Investitionen im B2B- und B2C-Bereich, dürften die IT-Kosten einer Apotheke schätzungsweise um etwa 50 Prozent steigen. Das ist auch abhängig davon, was man alles machen und anbieten will. Ich hoffe hier auf viel Wettbewerb der Anbieter in Sachen IT-Lösungen für elektronische Patientendossiers, aber auch bei sinnvollen Lösungen in den nicht minder wichtigen Bereichen des E-Commerce. Sonst wird es noch teurer.

Wie kann eine Apotheke das stemmen?

Rund 20 Prozent aller Apotheken erwirtschaften keine 50 000 Franken Ebitda. Hier wird es vermutlich zu einer Marktbereinigung kommen. Das bedeutet leider auch, dass viele kleinere Apotheken, in Quartieren oder auf dem Land, wegfallen werden. Diese sind wegen der kurzen Wege insbesondere für ältere Patienten wichtig. Künftig werden etwa Patienten auf dem Land statt 5 bald 10 Kilometer fahren müssen, um die nächste Apotheke besuchen zu können.

Und die anderen Apotheken?

Die werden die Belastung stemmen können. Sie haben auch keine andere Wahl. Wenn eine Apotheke hier den Anschluss an die neuen digitalen Möglichkeiten verliert, werden andere in die Lücke springen wie etwa Onlineversender von Medikamenten und Pharmafirmen, die möglichst direkt an Patienten heran­rücken wollen. Apotheken werden künftig ihre Umsätze ohnehin durch mehr Services erwirtschaften müssen. An ein florierendes Geschäft ausschliesslich durch den Medikamentenverkauf ist bei dem Preiszerfall in Zukunft nicht mehr zu denken.

Das sind düstere Aussichten. Wie unterstützt ­Pharmasuisse seine Mitglieder?

Wir bieten alles, was die Apotheker in Zukunft brauchen werden, um weiterhin erfolgreich im Markt bestehen zu können. Zudem vertreten wir die Interessen unserer Mitglieder gegenüber der Politik, den entsprechenden Ämtern, aber auch den Versicherern im Gesundheitswesen. So arbeiten wir nicht nur daran, bestehende Serviceleistungen adäquat vergütet zu erhalten, sondern auch alle potenziellen Leistungen der Apotheken in der Grundversorgung in die Leistungskataloge zu integrieren. Die Plattform zur Erfassung neuer Leistungen, die wir unter Pharma­suisse-Net initiierten, wollen wir künftig mit den Plattformen der Stammgemeinschaft verknüpfen. Wir werden hierfür mit verschiedenen Anbietern von Stammgemeinschaften verhandeln, sodass Apotheker die freie Wahl haben und über verschiedene Stammgemeinschaften auf das System zugreifen können. Aus­serdem versuchen wir durch den regelmässigen Austausch mit Anbietern von IT-Systemen für Apotheken, diese für die Bedürfnisse und Notwendigkeit zu sensibilisieren. Wir erarbeiten auch Pilotprojekte für neue B2B- und B2C-Lösungen etwa für Studien. Ansonsten überlassen wir die Entwicklung aber bewusst dem Markt.

Und beim EPD?

Pharmasuisse entschied sich, in den Aufbau einer Stammgemeinschaft zu investieren und begleitet im Moment den von Ofac, einer apothekereigenen Genossenschaft, initiierten Aufbau einer gesamtschweizerischen Stammgemeinschaft. Allerdings unter der Voraussetzung, dass weitere Leistungserbringer an Bord sind, respektive dem Unterfangen eine breite, interdisziplinäre Trägerschaft unterlegt wird. Wir wollen unsere Mitglieder aber nicht dazu drängen, sich einer bestimmten Stammgemeinschaft anzuschlies­sen. Im Gegenteil, jede Apotheke wird für sich entscheiden müssen, welcher Stammgemeinschaft sie angehören will, ob einer regionalen oder überregionalen oder beiden gleichzeitig.

Wie wollen Sie und Ihre Mitglieder die Bürger davon überzeugen, ein Patientendossier bei Apotheken anzulegen?

Pharmasuisse wird eine Kampagne lancieren, um Konsumenten für die Vorteile des EPDs zu sensibilisieren. Es hilft den Nutzern, die Behandlung und somit die Lebensqualität zu verbessern. In der Notfallstation brauchen heute die Anesthäsisten im Durchschnitt mehr als 30 Minuten, um einen Teil der wichtigsten Medikation eines ohnmächtigen Patienten zu eruieren. Das Vorliegen eines upgedateten EPD kann hier lebensrettend sein!

Wie stellen Sie sich die Apotheke der Zukunft vor?

Der Verkauf von Medikamenten wird nicht mehr reichen. Apotheker werden sich daher umorientieren und neue Services anbieten müssen. Die Aufgabe der Apotheke der Zukunft liegt daher darin, die Probleme der Patienten möglichst exakt zu erkennen und sofort zu lösen. Da ist das EPD sicher ein richtiger Weg, der durch die doppelte Freiwilligkeit der Patienten aber nur halbherzig beschritten wird. Jeder Patient kann Dinge streichen oder nicht kommunizieren. Das EPD ist für Apotheker daher unter diesen Umständen auch ein Hochrisiko. Das ist schade. Denn derzeit investieren Apotheken viel, ohne zu wissen, was der Return on Investment sein wird. Dennoch: Wenn die Apotheken die digitale Entwicklung verschlafen und die Bedürfnisse etwa junger Kunden ignorieren, stehen sie morgen wirtschaftlich schlecht da. Unsere Position als sehr vertrauenswürdige Fachpersonen und als Team, das ohne Termin jederzeit erreichbar ist, prädestiniert uns in der modernen Welt, wo man alles sofort will, jedem Menschen eine Lösung für seine Probleme anzubieten oder zu empfehlen. Vertrauen heisst auch Verantwortung. Die nimmt unser Berufsstand wahr, und darauf bin ich sehr stolz.

Wie kann die Therapieuntreue mit dem EPD bekämpft werden, wo doch der Patient bestimmt, wer welche Informationen aus dem EPD erhält?

Wer gut betreut werden will, hat Interesse daran, alle Daten einzutragen. Aber viele wollen das nicht. Es ist wie bei der Impfangst. Dem könnte man mit entsprechenden Incentiveprogrammen seitens der Krankenkassen begegnen. Auch wenn diese nie Einblick in die Daten haben dürfen. Die Krankenkassen wären aber ideal, da sie auch die Kosten für die Behandlungen tragen.

Welche wirtschaftlichen Chancen bietet das EPD?

Der Zugriff auf möglichst viele relevante Daten der Kranken- und Medikationsgeschichte erlauben grosse Effizienzsteigerungen im Apotheken-Alltag. Die Konsultation des Medikamentenplans erlaubt nicht nur Rückschlüsse auf die Effizienz der Behandlung, Compliance und mögliche Inkompatibilitäten der Behandlung. Eine unkomplizierte Fortsetzung der Therapie ist für jeden Patienten in jeder Apotheke gewährleistet, sofern der Patienten der Apotheke Einblick in das Dossier gewährt. Um eine Dosierung oder das Risiko einer unerwünschten Wirkung zu beurteilen ist es manchmal entscheidend, wenn ich als Apotheker mit Zustimmung des Patienten erfahren kann, was das Behandlungsziel des verschreibenden Arztes ist. 2018 werden auch die Apotheken so weit sein, EPDs anbieten zu können. Ein wichtiges Element bleibt, dass die Eröffnung eines Dossiers respektive die Erfassung der Patientendaten optimal unterstützt werden. Mit einem Masterpatienten-Index kann man übergreifend die Daten abgleichen und ein Patientendossier hoffentlich mit nur minimalen Aufwand eröffnen. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass möglichst schnell eine maximale Anzahl von Patienten über ihr EPD verfügen. Derzeit ist die zwingende Dossiereröffnung nur an einen Spitalaustritt gebunden. Auf dieser Basis verläuft die Evolution des EPD viel zu langsam. Da können wir Apotheker helfen, das System rasch zu verbreiten. Zudem gilt es, weiterhin auf politischer und regulatorischer Ebene einzuwirken, damit die Leistungserbringer und Patienten über eine adäquate Informationsbreite, -tiefe und -qualität verfügen, die das Dossier unersetzlich machen. Noch ist der Nutzen des EPD in seiner jetzigen Konstellation doch eher noch gering.

Eine steile These. Wie begründen Sie diese?

Das EPD und eine Stammgemeinschaft sind sinnvolle Elemente. Die Begleitung des Patienten zwischen seinen Apothekenbesuchen wird das EPD aber nicht richten können, da es vorab nur eine zwar aktuelle, aber einfache Patientenablage ist. Es braucht intelligente Tools, um Patienten auch ausserhalb der Apotheke zu begleiten. Etwa über Apps. Apotheken könnten Betreuungsprogramme für bestimmte Patientengruppen, zum Beispiel Compliance-, Chronic-Care-Programme, anbieten, die etwa von den Krankenversicherungen oder Patienten selbst bezahlt werden, sofern der Mehrwert für sie gegeben ist. Da stehen wir aber noch am Anfang der Entwicklung.

Wenn die Apotheker aber näher an den Patienten heranrücken, nehmen sie doch dadurch den Ärzten Aufgaben weg.

Das ist die Antwort auf das Problem, dass die Hausärzte weniger Nachwuchs haben. Die Politik hat dieses Problem erkannt und sieht, dass in den Apotheken viel Wissen brachliegt, das sinnvoll in die medizinische Grundversorgung der Patienten eingebracht werden kann. Aufgrund der neuen Gesetzgebung wird der Apotheker verstärkt in die Ersttriage eingebunden sein. Auf Basis seiner Ausbildung wird er vermehrt diagnostische Tätigkeiten für häufige Erkrankungen in der Grundversorgung wahrnehmen sowie bestimmte, bisher verschreibungspflichtige Medikamente für eine effiziente Behandlung einsetzen. Mit seinem Engagement im Bereich der Vorsorge und der Prävention wird er aktiv werden mit seiner Impftätigkeit und im Bereich der Behandlung chronisch kranker Patienten mit einer optimalen Begleitung. Dadurch wird für Patienten zu Recht der Gang zum Apotheker teilweise den Gang zum Arzt ersetzen. Aber da werden auch Patienten an den Arzt verwiesen, die sonst nicht zu ihm gegangen wären. Auch der Beruf des Hausarztes dürfte durch diese Entwicklung durchaus interessanter werden, da die Mediziner von Bagatellen und einfachen Arbeiten entlastet werden und sich dafür wieder vermehrt um interessantere und komplexere Fälle kümmern können.

In welchen Fällen können Apotheker helfen?

Wir kennen etwa 20 bis 30 Symptome, die die Kundschaft in der Regel primär in die Apotheke führt. Beispielsweise eine Gürtelrose. Hier kann der Apotheker umgehend das richtige Medikament abgeben. Hiervon profitiert ein Patient. Etwa wenn er keinen Hausarzt hat und deshalb von Pontius zu Pilatus geschickt wird. Oder ein Patient mit einem einfachen Problem sucht direkt die Notaufnahme auf, was viel kostet. Auch bei Patienten mit chronischen Erkrankungen können wir viel mehr zwischen den Arztkonsultationen helfen. Durch das sinkende Angebot an Hausärzten wird eine neue Aufgabenteilung zwingend nötig werden. Cholesterinwerte überprüfen zu lassen, geht auch in der Apotheke, sinnvollerweise vor der Repetition einer Medikamentenpackung.

Wie sieht es mit technischen Hürden beim Datenaustausch zwischen den verschiedenen Leistungserbringern und Stammgemeinschaften aus?

Der Austausch sollte zumindest im Bereich des EPD durch die geltenden technischen Spezifikationen geregelt sein. Hürden sehe ich woanders, etwa beim Datenaustausch zwischen Tools und Apps zwischen den Stammgemeinschaften. Es ist noch nicht klar geregelt, wie der Austausch bei ergänzenden B2B- und B2C-Lösungen funktionieren soll. Es gibt keine Regelung. Auch der Anteil der Daten in den Primärsystemen der Leistungserbringer, der im EDP zugänglich gemacht wird, bleibt undefiniert. Das muss man sich anschauen.

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