CEO von TI&M im Interview

Thomas Wüst: "Die Geschichte hat mir Recht gegeben."

Uhr | Aktualisiert

Anfang 2005 hat Thomas Wüst TI&M gegründet. Heute ist sein Unternehmen einer der grössten Digitalisierer der Schweiz. Im Interview blickt Wüst auf 15 Jahre Firmengeschichte zurück und sagt, wie sich TI&M in der aktuellen Krise schlägt.

Thomas Wüst, CEO, TI&M. (Source: Copyright: Daniel Graf)
Thomas Wüst, CEO, TI&M. (Source: Copyright: Daniel Graf)

Die Weltwirtschaft durchlebt gerade turbulente Zeiten. Wie wirkt sich die Coronakrise auf TI&M aus?

Thomas Wüst: Das Coronavirus hat die Welt fest im Griff und stellt uns alle vor nie dagewesene Herausforderungen. Wir mussten innerhalb kürzester Zeit alle Aktivitäten auf Homeoffice oder A/B-System umstellen, ohne TI&M oder gar unsere Kundenprojekte und Cloud-Lösungen zu gefährden. Dies haben wir dank grossem Teamgeist aus meiner Sicht sehr gut gemeistert und so wachsen wir auch in diesen ungewöhnlichen Zeiten nachhaltig weiter. Verteilt über unsere vier Standorte haben wir aktuell 40 Stellen offen, die wir dieses Jahr besetzen wollen und werden.

Wie gehen Sie persönlich mit der Situation um?

Mir fehlt, wie wahrscheinlich allen von uns, der direkte soziale Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen. Ich selbst bin, natürlich immer mit zwei Meter und mehr Abstand, noch sehr oft im Office und stelle die Präsenz vor Ort sicher. Videomeetings sind zwar unpersönlicher, aber oftmals sehr effizient und das bringt auch gewisse Vorteile mit sich. Generell kommuniziere ich nun halt noch extensiver mit digitalen Medien aller Art und versuche so, die Verbindung zu den TI&M-Kollegen in allen Niederlassungen, zu unseren Kunden, aber auch zu Freunden zu halten. Und neben dem Anspruch, inhaltliche Lösungen zu finden, habe ich dabei auch immer das Ziel, mit der Art und Weise der Kommunikation einen kleinen sozialen Beitrag zur Hebung von Stimmung und Moral zu leisten.

Was geht unter diesen Bedingungen, was geht nicht?

Bestehende funktionierende Teams stellen sich sehr schnell auf die neuen Bedingungen ein. Da kommt uns natürlich auch unsere agile Arbeitsweise zugute. Die Teams sind es gewohnt, sich selbst zu organisieren und maximale Effektivität zu erzielen. Beim Verkauf und Marketing ist das schon schwieriger, da wir uns sehr stark auf persönliche Treffen und Events ausgerichtet haben. Abgesehen davon, dass wir uns auch auf die veränderte Situation beim Kunden einstellen müssen, ist die Ansprache über Skype oder Lifesize doch etwas anderes als das persönliche Gespräch. Bei unseren Events schätzen die Besucher eben auch die persönliche Interaktion mit den Experten und das Netzwerken.

Fehlt durch die Reduktion auf digitale Kanäle etwas?

Ich glaube, auch aufgrund unseres stabilen und nachhaltigen Beziehungsnetzes, das wir uns in den vergangenen 15 Jahren aufgebaut haben, funktionieren die digitalen Varianten manchmal überraschend gut und wir erzielen gute Resultate. Auch bei Neuanstellungen setzen wir in der ersten Bewerbungsphase auf digitale Interviews. Das funktioniert leidlich gut, aber zum «Finale» gibt es nach wie vor ein physisches Gespräch. Auf diesen einen persönlichen Eindruck wollen wir nicht verzichten.

Was braucht es Ihrer Meinung nach in so einer Ausnahmesituation?

Zuallererst braucht es Mut. Den Mut, seinen Job trotz Ängsten und Unsicherheiten weiterhin unbeirrt zu erledigen und so die Gesellschaft am Laufen zu halten. Lob und Dank für diesen Mut geht natürlich zuallererst an die Beschäftigten in den Spitälern und an die Verkäufer und Verkäuferinnen bei der Migros und bei Coop. Nicht zu vergessen sind auch die, die mehr im Hintergrund wirken und somit die grundlegenden Infrastrukturen unserer Gesellschaft. aufrecht erhalten. Das sind etwa auch unsere Ingenieure, die mehr als 30 kritische Banken- und Versicherungslösungen am Laufen halten und weiterentwickeln. Zudem werden wir Trauer, Beileid und Solidarität aufbringen müssen. Trauer und Beileid für die Angehörigen, die einen geliebten Menschen verloren haben. Und generell Solidarität mit allen Betroffenen, die das Virus aus der Bahn geworfen hat. Das ist auch der Arbeiter oder die Angestellte, die ihren Job verloren haben oder der Unternehmer, der in die Insolvenz gehen musste. Wenn das Gröbste erst einmal vorbei ist, dann brauchen wir die Fähigkeit zur Reflektion und Selbstkritik. Denn nur aus unseren Fehlern können wir lernen, um so die nächste Krise noch besser meistern zu können.

Hat sich aufseiten der Kunden etwas verändert?

Ja natürlich, auch unsere Kunden sind von ihrem ursprünglichen Fahrplan abgekommen. Auch sie mussten sich innerhalb kürzester Zeit pandemie-resistent aufstellen und sich den speziellen Herausforderungen ihrer Branche stellen. Einige, wie beispielsweise die Luftfahrt­industrie oder der Einzelhandel, hat es schnell und hart getroffen. Andere hingegen haben gemerkt, dass ein hoher Digitalisierungsgrad bei solchen Bedrohungen wie dieser Pandemie ein wesentlicher Überlebensfaktor sein kann. Sie werden diese Digitalisierung nun erst recht mit Hochdruck vorantreiben. Was ich bei allen Kunden feststelle, ist ein hohes Mass an Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Mitarbeitenden und der Gesellschaft sowie eine hohe Solidarität zueinander und zu den Partnern. Das ist eine starke Erfahrung und stimmt mich insgesamt sehr positiv.

Die gegenwärtige Krise könnte den Bestrebungen zu Digitalisierung und Automatisierung in Unternehmen gewaltigen Schub verleihen. Wie sehen Sie das?

Das ist definitiv richtig. Die Menschen erfahren gerade, wie viel Mehrwert digitalisierte Prozesse im täglichen Leben generieren können. Wenn jetzt in dieser Krise der Kontakt zu Freunden und Familie per Chat oder per Video gehalten werden kann, dann wird das zum Beispiel auch im Kontakt mit der Bank gefordert werden. Das digitale Onboarding wird ebenso als Selbstverständlichkeit erwartet wie der Kontakt zum Berater per Chat oder die digitale Terminvereinbarung. Die gesamte digitale Interaktion eines Unternehmens mit seinen Kunden, seinen Partnern und auch seinen Mitarbeitern war schon vor der Krise weit oben auf der Agenda der CDOs, wird jetzt aber noch einen weiteren Schub erfahren und sich flächendeckend und nachhaltig durchsetzen.

Sie gründeten TI&M im Februar 2005. Was trieb Sie damals an?

Eigentlich nur ein Gedanke: "Alles, nur nicht langweilig sein." Ich verstehe mich nach wie vor als passionierter Software-Engineer, der seinen Spass und seine Erfüllung darin findet, coole Lösungen zu erstellen, die dann auch echten Nutzen bringen. Genau diesen Entwicklerstolz, das damit verbundene Engagement und Streben nach Exzellenz wollte ich in meiner Firma als Wertebasis verankern. Bei aller gebotenen Demut und Bescheidenheit muss ich sagen, dass TI&M das sehr gut macht.

Wie kamen Sie auf den Namen «Technology, Innovation & Management»?

Ingenieure sollten wohl besser kein Marketing machen, heute würde ich wohl einen einfacheren Namen wählen. Aber andererseits steht TI&M für genau das, was ich machen wollte, was wir heute tun und auch in Zukunft tun werden, nämlich mit neuesten Technologien Innovationen realisieren und Kunden erfolgreich machen.

Wie hat sich Ihr Geschäft in den vergangenen 15 Jahren verändert?

Vor 15 Jahren sind viele Unternehmen auf den Offshoring-Zug aufgesprungen. Es herrschte die Überzeugung, dass jegliche IT-Tätigkeit reine "Commodity" sei, die man einfach an die Orte mit den niedrigsten Arbeitskosten verlagern kann. Meine Überzeugung – nämlich dass Software­entwicklung ein kreativer und agiler Prozess ist, aus dem heraus Innovationen erwachsen und der nur in enger Kommunikation mit dem Kunden schnelle und gute Ergebnisse liefert – stand damals ziemlich quer zu diesem Trend.

War die Überzeugung gerechtfertigt?

Die Geschichte hat mir Recht gegeben. Für die Unternehmen, die auf Offshoring gesetzt haben, hat sich diese Strategie als echter Bumerang erwiesen. Nicht nur, dass die IT-Kosten sogar gestiegen sind. Viel schlimmer noch, sie haben durch das Outsourcing Kernwissen des Unternehmens abgebaut und damit Innovationsfähigkeit und Steuerungsoptionen für ihre Produkte und Prozesse verloren. Heute gelten Agilität, Innovationsfähigkeit und Time-to-Market als die Schlüsselfaktoren für erfolgreiche Unternehmen, was mich natürlich sehr freut, da auf diesen Eckpfeilern TI&M aufgebaut ist.

Sie haben an einem "Digitalisierungskochbuch" mitgewirkt. Wie unterscheidet sich Ihr Rezept von dem anderer Digitalisierungsköche?

Das Grundrezept unterscheidet sich wahrscheinlich nicht so sehr von dem, was auch von anderen Digitalisierern propagiert wird. Aber wie im Restaurant erfüllt erst der Esprit und die Passion des Koches das Rezept mit Leben und Würze. In diesem Fall hat sich eine Gruppe von Leuten zusammengerauft, die Digitalisierung wirklich leben und atmen, und die ihre eigenen Erfahrungen und ihre teils unkonventionellen Vorstellungen zu einem Ganzen komponiert haben.

Was ist Ihre geheime Zutat?

Die gar nicht so geheime Zutat, die ich zu all unseren Projekten und Produktentwicklungen beitrage, ist wohl eben diese Passion und die Neugier, mit der ich IT betreibe. Diese Neugier und der Spass an der Zusammenarbeit mit Talenten, die teilweise ziemlich verrückte Ideen einbringen, geben mir auch den Mut, Neues zu realisieren. Das unbezahlbare Privileg, eine innovative und unabhängige Firma mit tollen Talenten zu leiten und damit meinen Traumjob ausüben zu dürfen, verleiht mir unheimlich viel Schub und Energie.

"Als CEO bin ich gegen das Out- und Nearshoring von Entwicklungsteams", steht in Ihrem Linkedin-Profil. Warum ist das so?

Zumindest das Offshoring von Neuentwicklungen hat sich in sehr vielen Fällen aus den oben aufgeführten Gründen nicht bewährt. Innovation wird immer nur im intensiven Dialog mit dem Kunden und zwischen allen beteiligten Disziplinen entstehen und weiterwachsen. Vielleicht gilt das nicht für Altlösungen, die keinen grossen Änderungen mehr unterworfen sind, aber das ist halt nicht unser Geschäftsfeld.

2018 stellte TI&M Blockchain-Lösungen ins Rampenlicht, lud Brian Behlendorf nach Zürich. Wo stehen Ihre Blockchain-Pläne zwei Jahre später?

Die erfolgreiche Adaption von Blockchain-Technologien ist leider noch nicht sehr viel weitergekommen. Viele Versprechen wurden bis anhin noch nicht erfüllt, die Unternehmen tasten sich sehr vorsichtig an die relevanten Business Cases heran. Das wird auch in den nächsten 2 Jahren nur langsam voran gehen. Es gibt jedoch ein paar Anwendungsbereiche, wie zum Beispiel die Self Sovereign Identity, die bereits eine gewisse Maturität erreicht haben und um die herum Zug um Zug interessante Projekte auftauchen. Wir bleiben da dran und werden weiterhin Vorreiter sein, wo wir auch Erfolgspotenziale für unsere Kunden sehen.

Im vergangenen Herbst wurden Sie mit "VIA Strassenabgaben" zum ersten Mal Master of Swiss Apps. Was bedeutet der Preis für Sie?

Der Preis ist eine tolle Anerkennung für unsere Fähigkeit, innerhalb kürzester Zeit echte Digitalisierung umzusetzen. Speziell ist es natürlich eine Anerkennung für das gesamte multidisziplinäre Team, das an der Konzeption und der Umsetzung der Lösung gearbeitet hat.

Best of Swiss ist traditionell eine Auszeichnung der Agenturwelt. Ist TI&M jetzt auch eine Digitalagentur?

Digitalisierung ist heute wesentlich mehr als "nur" Software-Entwicklung. Unser Versprechen ist es, dass wir ganzheitliche und am Kundenbedürfnis ausgerichtete Lösungen entwickeln. Dazu müssen wir die gesamte Entstehungsgeschichte eines Produktes abdecken können, wir nennen das "vertikale Integration". Das geht nur mit multidisziplinären Teams, die in einem iterativ-inkrementellen Kreativprozess von der Idee bis zum fertigen Produkt zusammenarbeiten. Und zu diesen Disziplinen gehört der Designer genauso wie der Business Analyst und der Software Engineer. Insofern verschwimmen die Grenzen zwischen Digitalagentur, Berater und Softwarehaus. Wir vereinen alles unter einem Dach und sind damit mehr als die Summe der Einzeldisziplinen.

In welche drei Schlüsseltechnologien sollten Unternehmen heute investieren?

Da sehe ich für unsere Kunden drei Schwerpunktbereiche. Erstens den effizienten, flexibel auf dynamische Anforderungen reagierenden Betrieb von Lösungen. Hier wird jedes Unternehmen seinen Weg in die Cloud und mit der Cloud individuell finden müssen. Zweitens müssen die Unternehmen auf dieser Basis in die Interaktion mit ihren Kunden, also die Kundenbindung im digitalen Raum investieren. Moderne, flexible und am Kundenbedürfnis ausgerichtete Front-ends mit komplexer Interaktionsfunktionalität wie digitales Onboarding sind hier gefragt. Last but not least – die Technologie, die derzeit am meisten Potenzial verspricht, ist sicherlich die Künstliche Intelligenz, genauer gesagt alle Formen des maschinellen Lernens. Die Chance, aus seinen Daten echte Erkenntnisse zu gewinnen, sollte sich kein Unternehmen entgehen lassen.

Was sind die grössten Fehler, denen Sie bei Digitalisierungsprojekten immer wieder begegnen?

Der grösste Fehler vieler Unternehmen besteht nach wie vor darin, dass sie ihre Lösungen nicht vom Bedürfnis des Kunden her entwickeln. Es wird nach wie vor viel zu oft in alte Lösungen investiert, oder es werden alte analoge Prozesse digitalisiert. Damit wird das Potenzial der Digitalisierung verschenkt. In meiner Welt heisst Digitalisierung, das Business neu zu denken, dabei konsequent nach vorne zu schauen und die veränderten Kunden­erwartungen und das neue technische Potenzial für die Generierung von wirklich innovativen Produkten zu nutzen.

Wie sehen Ihre Pläne für TI&M aus?

Auf Basis einer nachhaltigen Zukunfts- und Eignerstrategie wird TI&M auch weiterhin seinen Namen zum Programm machen, das bedeutet, technologiegetrieben Innovation zu managen, in Zusammenarbeit mit unseren Kunden, die uns ihr Vertrauen schenken, mit unseren Mitarbeitern, die täglich unsere Werte leben, und in der Schweiz, die bei aller Internationalität stets unsere Heimat und Wertebasis sein wird. Die Firma wird weiterhin unabhängig agieren und langfristig im Besitz von mir und meiner Familie sowie einiger Schlüsselmitarbeiter sein.

Wie lautet der Titel Ihres nächsten Buches?

Auf ein nächstes Buch habe ich im Moment keine Lust, dafür zahlreiche Ideen für unser TI&M-Special, in dem wir jeweils aktuelle Themen aufgreifen und von allen Seiten beleuchten – aus der Theorie, aus der Praxis, aus gesellschaftlicher oder aus technischer Perspektive. So werden im kommenden Heft unsere Digitalisierungsprodukte und die Dinge, die TI&M die letzten 15 Jahre stark gemacht haben, im Fokus stehen. Das Feedback unserer Kunden zeigt uns, dass sich unser TI&M-Special als Informationsquelle und auch als Ausgangspunkt für so manche spannende Diskussion etabliert hat. Was will man mehr, genau das bringt uns alle weiter auf dem Weg in eine digitale, für den Menschen gemachte Zukunft.

Zur Person

Thomas Wüst hat Informatik an der ETH Zürich studiert und beschäftigt sich seit mittlerweile über 30 Jahren mit IT-fokussierter Innovation. 2005 gründete er TI&M und leitet das Unternehmen seitdem als CEO. Von 2002 bis Anfang 2005 war er als Geschäftsführer von SD&M Schweiz, einer IT-Tochtergesellschaft von Capgemini, tätig. Davor verantwortete er während sechs Jahren die P&L für den Anwendungsentwicklungsbereich einer Schweizer Beratungsfirma. Während seiner Karriere veröffentlichte er mehrere Bücher und publizierte zahlreiche Fachartikel.

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