Radikale Digitalisierung als Voraussetzung für KI in der Notaufnahme
Nur wenn dereinst der Prozess von der Präklinik bis hin zu den gesetzlichen Registern und den Forschungsregistern vollständig digitalisiert ist, kann künstliche Intelligenz und datengetriebene Diagnostik auch in der Notaufnahme Einzug halten.
In Spitälern sind Systembrüche und manuelle Datenübertragung nach wie vor Realität. So werden etwa von der Notfallabteilung die von den Präkliniken auf Papier überbrachten Berichte eingescannt oder als unstrukturierter Text manuell erfasst. Die Kodierung für die Abrechnung der Fälle (Diagnosekatalog ICD10, Schweizerischer Operationskatalog CHOP, Fallpauschalen SwissDRG) ist ein mehrheitlich manueller Prozess, bei dem viele Systeme geöffnet, die Berichte von spezialisiertem Personal durchgelesen und den einzelnen Abrechnungs-Codes zugeordnet werden. Müssen diese Daten zusätzlich in einem gesetzlichen Register erfasst oder der Forschung zur Verfügung gestellt werden, wird derselbe manuelle Prozess nochmals angestossen.
Künstliche Intelligenz (KI) in der Notfallstation zu Diagnosezwecken einsetzen zu wollen, ist deshalb heute noch nicht realistisch. Das Berichtwesen mit seinen unstrukturierten Texteingaben, dem Versenden von PDF und eingescannten Dokumenten ist dafür schlicht nicht geeignet. Verschiedene Projekte in Unispitälern haben denn auch die Hoffnung zunichte gemacht, dem Problem der unstrukturierten Daten mittels auf Algorithmen basierter Textanalyse Herr zu werden. KI ist nun einmal nur mit qualitativ ausreichender Datenbasis möglich.
Herausforderung Verwaltung und Kultur
Das vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation und dem Bundesamt für Gesundheit im Jahr 2016 angestossene Projekt Swiss Personalized Health Network (SPHN) der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften hat denn auch den Zweck, eine nationale, koordinierte Dateninfrastruktur zu schaffen. Das internationale Advisory Board unter dem Vorsitz von Professor Russ Altmann von der Standford University bewertet zwar in ihrem Bericht vom Dezember 2019 die Fortschritte der noch jungen Initiative positiv und stellt Erfolge fest. Es konstatiert aber auch, dass die Herausforderungen vor allem bei organisatorischen, verwaltungstechnischen und kulturellen und weniger bei technischen Fragen liegen.
Erste Erfolg versprechende Prototypen
Nichtsdestotrotz werden in Teilbereichen bereits diverse Prototypen eingesetzt, um datengetriebene, auf Algorithmen basierende Diagnostik zu ermöglichen. Die Erfahrung aus dem beratenden Alltag zeigt, dass sich mit einigen dieser Prototypen in den Spitälern die klinische Diagnostik mittels datengetriebener Anwendungen tatsächlich massiv verbessern lässt. So konnte etwa die drohende Erblindung einer MS-Patientin frühzeitig durch eine sehr simple Analyse der bestehenden Daten rechtzeitig erkannt und abgewendet werden. Soll in der Notfallstation oder anderen Abteilungen KI zu Diagnose- und Forschungszwecken flächendeckend eingesetzt werden, müssen aber die verschiedenen Silos in den Spitälern abgebaut, Systeme radikal konsolidiert und digitalisiert und die Daten strukturiert und nur ein Mal und richtig erfasst werden.
Spitaldigitalisierung der nächsten Generation
Selbstverständlich lässt sich diese Vision nicht von heute auf morgen realisieren. Auch darf die Arbeitsgeschwindigkeit der bereits heute meist überlasteten ärztlichen Belegschaft nicht durch eine strukturierte Dateneingabe gebremst werden. Um Medienbrüche und Doppelspurigkeiten zu vermeiden, bedarf es massiv verbesserte Eingabemasken der klinischen Systeme und eine Ende-zu-Ende-Automatisierung aller datenbasierten Prozesse. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Es ist zu hoffen, dass sich dannzumal auch die Erkenntnis bezüglich des Nutzenpotenzials insbesondere seitens der Ärzteschaft flächendeckend und abteilungsübergreifend etabliert hat.