Editorial

Kleine Lügen

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René Jaun, Redaktor. (Source: Netzmedien)
René Jaun, Redaktor. (Source: Netzmedien)

Meine Balkontüre steht offen. Seit Wochen, ja seit Monaten schon. Dies behauptet zumindest meine Smarthome-Zentrale – ein nerdiges Kons­trukt der Marke Eigenbau. Und die Behauptung ist, wie ich nach eigenhändiger Prüfung bestätigen kann, falsch.

Die Ursache für diese unkorrekte Information habe ich auch gefunden: Den Öffnungszustand der Balkontüre erfährt meine Smarthome-Zentrale eigentlich jeweils von einem Funksensor; dessen Batterie versagte aber offenbar eines schönen Herbstnachmittags vergangenen Jahres und müsste seither ersetzt werden.

Wenn ich rational denke, ist mir natürlich klar, dass meine Smart­home-Zentrale nicht mit Absicht oder aus bösem Willen Unwahrheiten verbreitet. Im geschilderten Beispiel bin ich gar selbst an der Misere schuld. Ich weiss, dass ein IT-System nur ausführt, was jene wollen, die es bauen – freilich gepaart mit ihrem Können und ihrem Tun. Manchmal faszinieren mich die kleinen Lügen aber doch, die mir digitale Systeme und die Menschen dahinter tagtäglich unterbreiten. Und mitunter machen sie mich auch richtig wütend.

So geschehen vor ein paar Tagen, als mein Paketzustelldienst mir per App mitteilte, eine Sendung sei "im Ablagefach hinterlegt" worden. Tatsächlich war das Fach leer. Und der Chatbot, bei dem meine Nachfrage landete, riet mir, mich zwecks Diebstahlanzeige an die Polizei zu wenden. Tage später fand ich mein Päckchen. Es war nicht gestohlen, sondern vom Paketboten im Treppenhaus abgelegt worden.

Per Briefpost drohte mir unlängst eine Versicherung mit der Betreibung, denn ich hätte meine Monatsprämie nicht bezahlt. Die Drohung kam einen Monat, nachdem ich dem Unternehmen 12 Prämien im Voraus überwiesen hatte – eine Handlung, die das Buchhaltungssystem offenbar hoffnungslos überforderte.

Zum Schäumen können mich auch freundlich gemeinte Textbausteine bringen. So erinnere ich mich an meinen E-Mail-Austausch mit der Bundesverwaltung. Dabei ging es um eine Karte, auf der die Verwaltung wichtige Standorte markiert. Da ich blind bin, kann ich mit dieser Darstellungsform nichts anfangen und somit bat ich die Behörde um eine barrierefreie Version. Meine Anfrage verschickte ich – kein Scherz – im Jahr 2008. In der Antwort bat mich das Amt "um ein bisschen Geduld" und beschied mir, man bemühe sich aktiv um Barrierefreiheit. Letzteres mag in gewissen Bereichen stimmen. Doch eine barrierefreie Version der Karte, um die ich damals bat, bietet die Behörde auch mehr als 15 ­Jahre später nicht an – etwas lang für "ein bisschen Geduld", oder?

Aus diesen Geschichten lassen sich kaum neue, aber ein paar wichtige Lektionen ableiten: Als User müssen wir wissen, dass uns ein digitales System anlügen kann und wird, ohne sich dabei zu schämen. Als Entwickler müssen wir unsere Systeme auf so viele Eventualitäten wie möglich vorbereiten. Und als Gesellschaft tun wir gut daran, den Worten, die wir verbreiten, auch Taten folgen zu lassen. Und in allen drei Fällen gilt: Im Alleingang werden wir höchstwahrscheinlich scheitern.

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