KI im Schweizer Gesundheitswesen: Chancen und Herausforderungen
Die Medienfrequenz von Anwendungen der künstlichen Intelligenz (KI) im Schweizer Gesundheitswesen hat sich in den letzten Jahren sichtbar erhöht. Ein untrügliches Zeichen, dass in manchen Bereichen der Sprung von der reinen Forschung in den klinischen Alltag nicht mehr allzu weit ist.
Der Begriff künstliche Intelligenz (KI) triggert bei vielen zuerst die Assoziation eines künstlich erschaffenen, menschenähnlichen Wesens. Das betrifft allerdings nur die sogenannte starke KI, deren Ziel es ist, die gleichen intellektuellen Fertigkeiten von Menschen zu erlangen oder zu übertreffen, gepaart mit der weiterhin offenen Frage, ob das auch zu einem eigenen Bewusstsein des Kunstwesens führen kann. Davon sind wir aber sowohl inhaltlich als auch zeitlich noch weit entfernt, und das ist zurzeit mehrheitlich Thema philosophischer Diskurse. Viel spannender sind jedoch Anwendungen der schwachen KI, die vielerorts bereits anzutreffen sind, wie zum Beispiel Spracherkennung, Bilderkennung, Expertensysteme oder automatisierte Übersetzung.
Die Sujets der starken KI werden meist als Werbung für Anwendungen der schwachen KI eingesetzt, was zugleich Fluch und Segen ist. Ein Fluch, weil falsche Erwartungen suggeriert werden, die auch zu manch Enttäuschung führt, wie am Beispiel der im Jahr 2017 aufgekündigten Zusammenarbeit von IBM (IBM Watson) und MD Anderson, das onkologische Zentrum der University of Texas, zu sehen ist. Ein Segen, weil es Gelder für die Forschung und Entwicklung freimacht, die diesem wirklich vielversprechenden Wissenschaftsbereich zugute kommen und die Bench-to-Bedside-Distanz, also den Weg vom Forschungslabor zum Krankenbett, verkürzt.
KI eröffnet dem Gesundheitswesen Chancen
Die Kostenträger im Gesundheitswesen versetzen die KI-Entwicklungen in Jubelstimmung, denn laut einer Studie von PwC könnten in Europa in den nächsten zehn Jahren rund 170 Milliarden Euro im Gesundheitswesen eingespart werden ("Sherlock in Health: How artificial intelligence may improve quality and efficiency, whilst reducing healthcare costs in Europe", Juni 2017). Andere sind mit durchaus berechtigten beruflichen Zukunftsängsten konfrontiert. Nach einem Artikel aus dem Jahre 2017 von Dr. Ziad Obermeyer, Harvard Medical School, im renommierten "New England Journal of Medicine" sollen die Entwicklungen zum Verschwinden der Berufsgruppe der Radiologen und Pathologen führen. Angesagte Revolutionen finden zwar nicht statt, aber auf jeden Fall wird sich die Arbeitswelt in diesem Bereich massiv verändern, die Diagnosen schneller und genauer werden und letztlich dem Patienten zugutekommen.
Aber was sind nun die Anwendungen, die im Gesundheitswesen Furore machen? Die künstliche Intelligenz hat vor allem in der Bildverarbeitung in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Das liegt an mehreren Entwicklungen:
Mit Deep Learning, einem Teilbereich der KI, kamen spezielle neuronale Netzarchitekturen zum Einsatz, die erstaunliche Erfolge in der automatisierten Objekterkennung mit sich brachten.
Durch die aktive Teilnahme von grossen Playern wie Google, Amazon oder Facebook wurden enorme finanzielle und technische Mittel frei, die den Umgang mit grossen Datenmengen ermöglichen.
Die Freigabe der Deep-Learning-Algorithmen und Werkzeuge in der Open-Source-Community hat eine ungeheure Breite an Forschern an dieser Entwicklung teilhaben lassen.
Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass gerade in klinischen Bereichen, die viel mit Bildern zu tun haben, wie Radiologie, Pathologie oder Dermatologie, einige beachtenswerte Ergebnisse erzielt wurden. Typische Bildquellen sind Magnet Resonanz Imaging (MRI), Computertomographie (CT) oder auch herkömmliche Röntgenbilder in der Radiologie, Aufnahmen von Gewebeproben in der Pathologie, oder mit Spezialkameras aufgenommene dermatologische Bilder.
Am Universitätsspital Zürich wurde eine Deep-Learning-Software genutzt, um Brustkrebs in Mammographien zu entdecken (Prof. Dr. med. Andreas Boss, Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie). Die Erkennungsrate der Software zeigte vergleichbar gute Resultate wie jene erfahrener Radiologen. Ähnliche Erfolge melden auch die Pathologen in der Metastasenerkennung von Gewebeproben aus Lymphknoten (holländische Studiengruppe der Universitäten Nijmegen und Utrecht um Dr. Paul van Diest). Wissenschaftlern der Universität Heidelberg ist es mit dem Einsatz eines Convolutional Neural Networks gelungen, gutartige und bösartige Hautverfärbungen zu unterscheiden und schnitten dabei besser ab als Dermatologen.
Spannend wird auch die Entwicklung in den Critical-Care-Bereichen, wie Intensivmedizin, Anästhesie oder Neonatologie, wo durch den Einsatz von speziellen medizinischen Informationssystemen, im Fachjargon als PDMS-Systeme bezeichnet, die automatische Dokumentation von Vitaldaten möglich wird. Diese Vitaldaten, wie Blutdruck, Herzfrequenz, EKG, Gehirndruck, Sauerstoffsättigung etc., werden in Echtzeit gemessen und aufgezeichnet. Der Einsatzbereich der KI liegt hier aber weniger in der Diagnostik als vielmehr in der prädiktiven Analyse, also in der frühzeitigen Vorhersage von kritischen Ereignissen. Natürlich sind Ärzte und Pflegepersonal Experten im Umgang mit Intensivpatienten und dem Erkennen von klinischen Problemen. Die KI-Algorithmen haben allerdings wesentliche Vorteile: Sie werden nicht müde, sind nicht durch Stress beeinflussbar und sie ermöglichen eine frühzeitigere Erkennung von kritischen Ereignissen, was eine rechtzeitige Aktion anstatt Reaktion erlaubt. Prof. Dr. med. Emanuela Keller kann in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich und Supercomputing Systems unter Einsatz von KI-Methoden bereits erste Erfolge in der Reduktion von Falschalarmen und der Früherkennung von Sauerstoffmangel im Gehirn (Hypoxie) von Neurointensivpatienten verzeichnen.
Die Herausforderungen der KI
Was sind aber nun die Herausforderungen? Ein Merkmal der KI-Algorithmen im Allgemeinen und in neuronalen Netzen im Speziellen ist, dass sie aus Daten lernen. Dazu braucht es aber eine wirklich grosse Menge an Daten und zum Lernen die dazugehörige Rechenpower. Diese steht zwar in der Forschung punktuell zur Verfügung, ist aber im klinischen Alltag schwer einzubauen. Glücklicherweise braucht man die Rechenpower nur zum Lernen, die gelernten Systeme kommen mit sehr viel weniger Performance aus.
Ein zusätzliches Problem ist, dass den KI-Systemen vor allem im Deep Learning oft die Erklärungskomponente fehlt. Ein System kann auf ein malignes Gewebe in einem Bild hinweisen und dieses darstellen, aber erklären, warum es diesen Bereich ausgewählt hat, das kann das System noch nicht. Der Mensch oder auch herkömmliche regelbasierte Expertensysteme haben hier Vorteile, da sie erklären können, wie sie zu relevanten Aussagen kommen.
Eine zweite grosse Herausforderung liegt in der Sensibilität von Patientendaten und den Rechten von Patienten auch im Lichte der neuen Datenschutz-Grundverordnung der EU. Patienten haben das Recht, zu bestimmen, dass ihre Daten nicht für die Forschung verwendet werden dürfen oder komplett gelöscht werden. Ein Umstand, der bremsend in der Forschung wirken kann, aber auch sonstigen Neuerungen in der medizinischen IT (z.B. E-Health) entgegenwirkt.
Die dritte grosse Herausforderung ist der Einbau in den klinischen Alltag – also in Softwaresysteme wie Krankenhaus- oder Arztpraxis-Informationssysteme. Die Landschaft der Gesundheitsinformatik ist in dieser Hinsicht eher träge, was zum einen an den verschiedenen Regularien liegt, am hohen Sensibilitätsgrad von Gesundheitsdaten und am eher kleinen Wirtschaftsmarkt. Der rechtliche Umgang und die Zertifizierung von KI-Systemen ist auch noch ein Knackpunkt. Aber erst, wenn KI-Module zur Selbstverständlichkeit und im klinischen Alltag verwendet werden, sind sie wirklich angekommen.
Es ist zu erwarten, dass wir noch einige "Deep Blue"-Momente (benannt nach Garry Kasparovs Niederlage gegen IBMs Deep-Blue-Schachcomputer im Jahr 1997) erwarten können, also Ereignisse, wo die Maschine den Mensch übertrumpft. Künstliche Intelligenz in geordneten Bahnen hat das Potenzial, die Gesundheitsdienstleister in ihrer Arbeit zu unterstützen und zu entlasten, die Behandlungsqualität zu erhöhen bei gleichzeitiger Reduktion