Matthias Wälchli und Amadeus Petrig über die Entstehung der Migros-App "Amigos"
Der Master of Swiss Apps 2018 heisst "Amigos". Dreipol entwickelte die Gewinner-App im Auftrag der Migros. Matthias Wälchli, Leiter Abhol- und Lieferservices bei der Migros, und Amadeus Petrig, Verantwortlicher für die Customer Experience bei "Amigos", sprechen im Interview über Bringer, Besteller und den Reifegrad von Avocados.
Herzliche Gratulation zum Gewinn des Master of Swiss Apps 2018. Was bedeutet der Award für Migros?
Matthias Wälchli: Vielen Dank! Der Award zeigt auf, wie innovativ das grosse Unternehmen Migros ist und dass wir ausser dem klassischen stationären Handel bereits daran sind, die Zukunft des Detailhandels zu gestalten. Mit "Amigos" haben wir ein für die Schweiz völlig neues Belieferungsmodell entwickelt und erfolgreich eingeführt. Weiter hat die Migros mit der Interio-App den dritten Platz erreicht. Das sagt viel über die Innovationskraft unseres Unternehmens aus!
Bitte erklären Sie unseren Lesern kurz, wie "Amigos" genau funktioniert.
Wälchli: Die Idee von "Amigos" ist simpel. Migros-Kundinnen und -Kunden können für andere einkaufen: Der Besteller wählt seine Produkte schnell und unkompliziert online auf www.amigos.ch aus. Die Bringer in der Nähe sehen die Bestellung in der "Amigos"-App auf dem Handy und können den Einkauf des Bestellers so annehmen. Der Bringer geht für den Besteller in der Migros einkaufen und liefert ihm die Produkte anschliessend nach Hause. Der Bringer erhält nach Abschluss und Übergabe der Einkäufe für seine "nachbarschaftliche Hilfe" einen Verdienst.
Wie ist "Amigos" angelaufen?
Wälchli: Die ersten Monate haben gezeigt, dass das Peer-to-Peer-Modell im Kern sehr gut funktioniert. Sowohl die Bringer wie auch die Besteller sind begeistert vom Konzept. Dies zeigen die extrem hohen gegenseitigen Bewertungen sowie der Net Promoter Score, kurz NPS, nach der Nutzung des Dienstes. Besonders schön sind die unzähligen Geschichten, die "Amigos" jeden Tag aufs Neue schreibt. So gibt es beispielsweise einen Bringer, der mit seinem elektrischen Rollstuhl Einkäufe ausliefert, oder Besteller, die uns schriftlich danken, dass sie endlich ihre Nachbarschaft kennenlernen.
Wie viele Nutzer hat die "Amigos"-App?
Amadeus Petrig: Genaue Zahlen möchten wir momentan noch keine nennen. Fakt ist: Ein Peer-to-Peer-Modell ist wortwörtlich ein Balance-Akt. Nur wenn sich beide Peers in etwa die Waage halten, funktioniert das System nachhaltig. Momentan haben wir noch weniger Besteller als Bringer. Dies erstaunt uns aber in dieser Phase nicht besonders.
Was sind die Gründe für dieses Ungleichgewicht?
Petrig: Innovative Ideen brauchen häufig eine gewisse Vorlaufzeit. Die Akzeptanz und Nutzung tritt oft erst verzögert ein. Je etablierter ein Verhalten, desto länger braucht der Veränderungsprozess. Und genau hier haben wir eine Herausforderung, denn "Amigos" hat das ambitionierte Ziel, den alltäglichen Lebensmitteleinkauf zu vereinfachen. Gerade das Einkaufen ist eine dieser Tätigkeiten, die über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gefestigt wurde und bei der die Macht der Gewohnheit besonders stark wirkt. Das Aufbrechen dieser Gewohnheiten passiert nicht von heute auf morgen.
Wälchli: Als Bringer erhalte ich zudem bei jedem Auftrag eine Push Notification und werde aktiv an "Amigos" erinnert. Als Besteller jedoch muss ich in den entscheidenden Momenten an "Amigos" denken. Hier liegt der grosse Unterschied. Eine schöne Anekdote unterstreicht dies: Ein Projektmitarbeiter war mit Hexenschuss ans Bett gefesselt und hat sich mit Krücken in die nächste Migros geschleppt. Ihm kam nicht in den Sinn, dass er "Amigos" nutzen könnte. Dies zeigt eindrücklich, wie stark die Macht der Gewohnheit ist.
Wer nutzt momentan "Amigos"?
Petrig: Bei den Bringern gibt es zwei klar unterscheidbare Nutzungsmotive: ökonomische oder soziale Gründe. Gerade jüngere Bringer schätzen die flexible Art, wie sie ihr Sackgeld aufbessern können. Bei der Nutzungsanalyse waren wir jedoch erstaunt, wie viele Bringer bei "Amigos" den Community-Gedanken leben. Viele registrierte Bringer sind Eltern, die mit ihren kleinen Kindern gemeinsam für andere einkaufen gehen.
Wälchli: Bei den Bestellern stehen hauptsächlich praktische Gründe im Vordergrund. Die Same-Day-Zustellung und die Geschwindigkeit – die schnellste Lieferung dauerte gerade einmal 24 Minuten – sind hier die wichtigsten Treiber. Für Einzelhaushalte wird häufig die fehlende Mindestbestellmenge als wichtigstes Nutzungskriterium genannt.
Was kann bei der Lieferung schiefgehen? Und wie verhindern Sie das?
Wälchli: Es passiert erstaunlich wenig. Natürlich kann es vorkommen, dass ein Bringer krankheitshalber ausfällt oder aus einem anderen Grund nicht ausliefern kann. In solchen Fällen haben wir ein grosses Support-Team, das den Einkauf stornieren und erneut aufgeben kann. Weiter kann es natürlich auch vorkommen, dass eine Bestellung keinen Bringer findet, meist in ländlichen Gebieten. Dies geschieht aber glücklicherweise sehr selten.
Was war die Herausforderung bei der Entwicklung von "Amigos"?
Petrig: In der Schweiz, aber auch international, gibt es praktisch keine vergleichbaren Peer-Modelle im Lebensmittelbereich. Dies war eine Herausforderung, machte das Projekt aber so einzigartig. So mussten wir die gesamten Prozesse und den Matching-Algorithmus auf der grünen Wiese designen. Uns war zudem bewusst, dass eine gute UX und eine hohe Convenience der Schlüssel zum Erfolg ist. Denn digitale Dienste wie "Amigos" leben vor allen Dingen von der Bequemlichkeit, mit der sie genutzt werden können. Egal ob als Bringer oder Besteller. Umso mehr freut uns der Gewinn des Master of Swiss App, da hier kein "Copy & Paste" stattgefunden hat, sondern vieles komplett neu konzipiert worden ist.
Wie wurde in der Entwicklung vorgegangen?
Petrig: Das tiefe Verständnis beider Endkunden (Bringer und Besteller) und deren Bedürfnisse war die Basis für die Konzeption. Ein zweiter wichiger Pfeiler in der Konzeptionsphase war der frühe Einbezug der Endkunden in den Entwicklungsprozess. Mit interaktiven Prototypen wurden die Prozesse unzählige Male mit echten Kunden im echten Umfeld durchgespielt. So konnten wir in mehreren Iterationen – noch bevor die erste Zeile codiert wurde – den Service immer näher an den Bedürfnissen der Endkunden ausrichten.
Die Lieferung einer Papier-Tragetasche kostet 5,30 Franken, jede weitere 2,30 Franken. Wie haben Sie diese Preise berechnet?
Wälchli: Aufgrund einer Marktstudie und Kundenbefragungen haben sich diese Preise als optimal erwiesen, was aber nicht heisst, dass wir ständig daran sind, das Preismodell zu überdenken und ev. abzuändern. Der Markt ist aktuell sehr dynamisch und viele Anbieter überarbeiten ständig ihre Belieferungsmodelle. Auch wir werden weitere Preismodelle testen. Genau dafür wird auch ein Pilottest gemacht.
Warum sind Kreditkarten auf amigos.ch die einzige Bezahlmöglichkeit? Was ist mit Twint?
Wälchli: Die Einführung eines sicheren Zahlprozesses war eine grosse Herausforderung im Projekt. Wir mussten ein Zahlmittel für Besteller und Bringer finden, das weitherum akzeptiert wird, maximale Convenience und Sicherheit garantiert. Für die Einführung eines MVP haben wir auf die Kreditkarte und das IBAN-Konto gesetzt: der Besteller bezahlt mit Kreditkarte, der Bringer erhält den Einkaufs- und Lieferbetrag auf seiner IBAN gutgeschrieben. Weitere Bezahlmöglichkeiten wie Twint, Postcard und Barzahlung werden aktuell geprüft.
Gibt es Cumulus-Punkte für die Einkäufe? Wer erhält sie?
Wälchli: Jeder Besteller, der seine Cumulus-Karte hinterlegt hat, erhält die Cumulus-Punkte für seinen Einkauf gutgeschrieben. Das funktioniert, indem der Bringer während des Zahlprozesses in der Migrosfiliale aufgefordert wird, den Strichcode der Cumulus-Karte des Bestellers vorzuzeigen.
"Amigos" funktioniert nicht in der ganzen Schweiz. Warum?
Wälchli: Die Migros ist genossenschaftlich organisiert. Das vereinfacht es, mit ein oder zwei Genossenschaften einen Pilottest durchzuführen und das Liefergebiet danach Schritt für Schritt zu vergrössern. Ziel ist ein schweizweiter Rollout. Die Möglichkeiten für den Ausbau von "Amigos" sind beinahe unbegrenzt. So könnten neben zusätzlichen Produkten auch Dienstleistungen wie die Installationen von Fernsehern oder die Mithilfe an Gartenarbeiten zukünftig angeboten werden.
Sammelt Migros mit "Amigos" auch Daten? Und wenn ja, welche?
Wälchli: Im Bestellprozess und während der Registrierung der Bringer werden natürlich personenbezogene Daten benötigt. Die Migros sammelt jedoch keine Daten der Nutzer und hält den Datenschutz strikt ein.
Petrig: Verhaltensbezogene Daten hingegen, wie sich der User auf der Website und in der App bewegt, bei welchem Prozessschritt er beispielsweise die Registrierung oder die Bestellung abbricht oder welche Lieferfenster ausgewählt werden, werden anonymisiert getrackt. Denn diese Daten sind – neben den Kundenumfragen – eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung des Diensts.
Welche Features möchten Sie noch in die App einbauen?
Petrig: Wir haben einen riesigen Speicher an Weiterentwicklungsthemen, den wir aufgrund des Kundenfeedbacks laufend befüllen, bewerten und umsetzen. Aktuell sind wir daran, die interaktive Einkaufsliste zu optimieren, um den Bringer noch effizienter und schneller durch die Filiale zu begleiten.
Wälchli: Ein weiteres Feature, das wir momentan diskutieren, ist die Wahl des Reifegrads von Avocados. Im Ernst, die Kunden sollen pro Produkt angeben können, wie die Beschaffenheit der gewünschten Artikel sein soll.
Warum hat Migros für die Umsetzung der App auf Dreipol gesetzt?
Petrig: Wir hatten bereits vor "Amigos" erfolgreiche Projekte mit Dreipol durchgeführt. Wir wussten, dass sie ein sehr hohes Qualitätsverständnis haben. Zudem teilten sie von Anfang an die Leidenschaft, mit "Amigos" etwas Neuartiges und Innovatives zu erschaffen.
Wie verlief die Zusammenarbeit mit Dreipol?
Wälchli: Das Zusammenspiel beider Agenturen mit dem Projektteam war effizient. Auch zwischenmenschlich hat die Zusammenarbeit extrem gut funktioniert. Das ist das A und O in solch intensiven Projekten.
Wer war für Sie der wichtigste Ansprechpartner bei Dreipol?
Wälchli: Designer, App-Entwickler, Geschäftsleiter und vor allem die Projektleitung. Schnell haben wir ein gemeinsames Projektteam aufgestellt und mittels Workshops Arbeitspakete definiert, die wir in kleinen Teams angegangen sind.