Interview mit Vincent Turgis

Warum ein Pharma-CIO dezentrale IT liebt

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Vincent Turgis ist CIO von Ferring. Seiner Ansicht nach kann nur eine dezentrale IT wirklich innovativ sein. Im Interview spricht Turgis über die Tücken direkter Kundenbeziehungen, Sicherheitsrisiken und die Herausforderungen der Digitalisierung in der Pharmabranche.

Vincent Turgis, CIO, Ferring. (Source: Netzmedien)
Vincent Turgis, CIO, Ferring. (Source: Netzmedien)

Multinationale Unternehmen pendeln oftmals zwischen einer zentralen und einer dezentralen IT-Organisation. Wie sieht es bei Ihnen aus?

Vincent Turgis: Wir verfügen sowohl über eine zentrale IT als auch über dezentrale Einheiten auf geografischer und geschäftlicher Ebene. Die IT-Zyklen und Bedürfnisse der Forschung unterscheiden sich stark von denen der Produktion oder des Marketings, sei es bei Daten oder Systemen. Manchmal ist es sinnvoll, eine globale Lösung zu haben, manchmal aber auch nicht. Ich habe mehr als 15 Jahre Erfahrung in der Pharmabranche und kann sagen, dass es kein Patentrezept für dieses Problem gibt.

 

Sprechen die Chancen, die mit neuen Technologien verbunden sind, für eine stärkere Zentralisierung von IT-Organisationen?

Ich bin ein Verfechter der dezentralisierten Informatik, die im Business integriert ist – in diese Richtung gehen wir. Ich hätte kein Problem damit, die Rolle des CIO mit einem sehr kleinen Team zu übernehmen. Gesetzt den Fall, es gibt eine starke Strategie, eine starke Governance und eine starke Architektur. Ohne diese Bedingungen wären Integrationsprobleme zwischen den Systemen vorprogrammiert und wir hätten nicht die notwendigen Daten für innovative Projekte. Das Pendel schwingt nun in Richtung Zentralisierung. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Pendel zurückschlägt und wir wieder dezentralisieren können. Wir brauchen diese starke Struktur. Was es an neuen Technologien gibt – Cloud, künstliche Intelligenz, Mobilität, Internet der Dinge – muss im und durch das Business genutzt werden. Diese Innovationen können mit einer monolithischen IT nicht erreicht werden.

 

Was sollte diese gemeinsame zentralisierte Basis enthalten?

Wichtiger als Industrie- oder Geschäftssysteme sind die Daten. Man muss die richtigen Datenmanagementprozesse gestalten, auf die richtigen Daten zugreifen und sie in geeigneter Weise zur Verfügung stellen können. Ich sehe die Rolle der IT im Wesentlichen im Berufsfeld Data Engineering. Was hingegen mit der Nutzung von Daten zusammenhängt, ist eher eine Domäne des Business. Man kann wohl unterschiedliche CRM-Systeme haben, aber man muss sicherstellen, dass man die richtige Architektur, die richtigen Management-, Reporting- und Datenanalyseplattformen hat. Zudem erfordern innovative Projekte natürlich eine Zusammenarbeit, die IT- und Business-Skills zusammenführt und sich auf Methoden wie Agile und Design Thinking stützt.

 

Haben Sie tatsächlich mehrere CRM-Systeme?

Heute haben wir mehrere CRM-Lösungen im Einsatz. In der Pharmaindustrie stehen wir vor der Herausforderung, dass wir nicht direkt an unsere Kunden verkaufen können. Wir bewerben unsere Produkte, Ärzte verschreiben, was die Behörden ihnen erlauben, Menschen kaufen in Apotheken – das variiert natürlich von Land zu Land. Das Schweizer System unterscheidet sich komplett vom französischen oder amerikanischen System. Wir haben deswegen kein einheitliches Vertriebsmodell, das sich in einem globalen CRM-System abbilden liesse.

 

Ist es ein Anliegen, eine direkte Beziehung zu den Kunden zu ­haben?

Das ist eindeutig ein Anliegen. Bisher hatte die IT in der Pharmaindustrie hauptsächlich eine Support- und Backoffice-Funktion. Aber mit dem Aufkommen neuer Technologien können wir Lösungen entwickeln, die ein integraler Bestandteil des Angebots für Patienten sind. Nehmen wir als Beispiel meinen früheren Arbeitgeber, ein Unternehmen, das auf die Behandlung von Diabetes spezialisiert ist. Da hatten wir zum Beispiel vernetzte Injektionsstifte sowie Plattformen für die Erfassung und Analyse von Blutzucker- oder Ernährungsdaten. Die Herausforderung besteht darin, dass man nicht direkt mit den Patienten sprechen kann. Daher ist es notwendig, dass sich alle betroffenen Akteure – Behörden, Pharmaunternehmen, Versicherer und Patienten – auf ein gemeinsames Interesse einigen, was nicht einfach ist.

Pharmaunternehmen müssen an ihrer digitalen Fitness arbeiten, sagt eine Studie von PwC. Erfahren Sie hier mehr darüber.

 

Wie sieht es mit der Konkurrenz durch Technologieunternehmen aus, die in den Gesundheitssektor drängen und ihren Zugang zu Kundendaten ausnutzen?

Wir sehen in der Tat grosse Technologieunternehmen, die komplette Ökosysteme im medizinischen Bereich aufbauen. Ich denke insbesondere an Google, das in den Versicherer Oscar Health investiert und mit Sanofi ein Joint Venture gegründet hat, um therapeutische Lösungen und Diagnosemittel für Diabetes zu vermarkten. Diese Unternehmen profitieren von ihrer Expertise in Technologien, Geräten und Algorithmen. Und sie entwickeln Gesundheitsplattformen, die bessere Ergebnisse für die Patienten und eine bessere Vorhersehbarkeit für die Interessengruppen im Gesundheitswesen bieten.

 

Sehen Sie den Bereich E-Health als Chance für die Pharmabranche?

Zu dieser Frage herrschen in der Pharmabranche drei verschiedene Ansichten vor. Die eine geht davon aus, dass am Ende immer das beste Medikament gewinnt und dass die wissenschaftliche Innovation wichtiger ist als die technologische. Andere glauben, dass E-Health eine Bedrohung ist und dass wir uns dagegen wehren müssen. Wiederum andere betrachten E-Health als Chance, die Stärken von Technologie und Wissenschaft zu kombinieren.

 

Und was denken Sie?

Ich glaube, dass es für die Pharmaindustrie viele Möglichkeiten gibt, diese neuen Technologien zu nutzen. Für uns in der IT ist es auch eine interessante Entwicklung. Wir kommen aus dem Maschinenraum und sind plötzlich in der Lage, Teil des Produkts zu sein. Aber es ist auch eine Herausforderung, weil wir am Anfang stehen und viele Regulierungs- und Sicherheitsfragen im Zusammenhang mit diesen neuen Medizingeräten noch nicht gelöst sind. Aber es ist klar, dass wir bei Ferring an diesen Fragen arbeiten. Wir haben ein Innovationslabor, das mit diesen neuen Technologien experimentiert, um Informationen aus Daten zu gewinnen und Lösungen für Patienten zu entwickeln.

 

Sie haben die Frage der IT-Sicherheit angesprochen. Was sind die wichtigsten Cyberrisiken für ein Pharmaunternehmen?

Da gibt es einige. Beim Schutz vertraulicher Informa­tionen besteht ein Risiko, insbesondere im Zusammenhang mit Innovationen, die noch nicht patentiert sind. Es stellt sich auch die Frage der Integrität, denn in unserem Geschäft müssen wir beweisen können, dass die Daten nicht verändert wurden. Und es gibt auch das operative Risiko, wenn man bedenkt, was für einen Schaden die Malware «NotPetya» angerichtet hat. Solche Vorfälle können die Liefer- oder Produktionskette eines Unternehmens über mehrere Wochen hinweg blockieren. Es ist eine sehr grosse Verantwortung, wenn man lebensrettende Medikamente herstellt und diese nicht geliefert werden können. Daher ist es notwendig, die wichtigsten Daten und Systeme zu verstehen und zu schützen.

 

Wie schätzen Sie das Risiko eines IT-Sicherheitsvorfalls ein?

Ich gehöre nicht zu denen, welche die Sicherheit unter dem Vorwand vernachlässigen, dass absoluter Schutz nicht möglich ist und dass wir auf jeden Fall gehackt werden. Aber es ist kompliziert. Ich denke zum Beispiel an Disaster-Recovery-Pläne. Wir sind darauf vorbereitet, dass ein, zwei Systeme ausfallen. Aber wir wären wohl kaum bereit, wenn plötzlich alle Systeme auf einmal ausfielen und wir notfallmässig tausende Computer und Server kaufen und installieren müssten.

Die Webbranche hat Techniken entwickelt, um widerstands­fähiger zu sein. Die Webbranche hat uns weit vorangebracht. Und sie leistet beeindruckende Arbeit. Für uns ist es schon eine He­rausforderung, vier Releases pro Jahr umzusetzen, wohingegen manche Softwareunternehmen wöchentlich oder sogar kontinuierlich ausrollen.

 

Wie verändert sich die Pharma-Informatik?

Die IT der Pharmabranche steckt in einer spannenden Phase, wo wir die Potenziale neuer Technologien nutzen, von der künstlichen Intelligenz bis hin zum Internet der Dinge. Aber um diese Potenziale auszuschöpfen, müssen wir uns von schnellen Entwicklungsmethoden inspirieren lassen, sei es Agilität oder DevOps. Die Veränderungen, die wir heute an unserer Architektur vornehmen, müssen uns auf die Zukunft vorbereiten.

 

Was genau kommt auf die Branche zu?

Ich glaube, wir erleben im Bereich E-Health etwas Ähnliches wie im Web um die Jahrtausendwende. Das sieht man insbesondere an den massiv steigenden Investitionen. Ich glaube, dass wir in zehn Jahren sagen können, dass es in Bezug auf E-Health ein Vorher und ein Nachher gab – und dass diese Zäsur gerade jetzt stattfand.

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