Sibylle Peuker gibt Auskunft

Webentwicklung: Technik, Trends und Userwünsche

Uhr | Aktualisiert

Neue Möglichkeiten bei der Webentwicklung, die Bedeutung von User Expericence und die verschwimmenden Grenzen zwischen Websites und Apps. Über die Veränderungen in der Branche und die Relevanz von UX Architects spricht Sibylle Peuker, Partner & User Experience Architect bei Zeix, im Interview.

Sibylle Peuker, Partner & User Experience Architect, Zeix (Source: zVG)
Sibylle Peuker, Partner & User Experience Architect, Zeix (Source: zVG)

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn sie die Worte "easy to use" bei einem Projekt hören?

Sibylle Peuker: Wenn ich diese Worte höre, sind sie wahrscheinlich eins von vielen Requirements: "Ach ja, easy to use soll es auch noch sein". "Easy to use" ist oft der einfachere Teil unserer Arbeit. Zentral für den Erfolg ist, dass das Produkt auch nützlich ist. Dieser wichtige Aspekt der User Experience (oder kurz UX) wird manchmal vergessen, besonders in Projekten, in denen technikverliebt grad drauflos programmiert wird. Es reicht nicht, wenn die Auftraggeberin von der Nützlichkeit der App überzeugt ist. Vielmehr untersuchen wir, wie die potentiellen User "ticken", was sie antreibt, welches Vorwissen sie haben und welches Problem wir eigentlich für sie lösen wollen. Das ist die Basis für die Konzeption einer Lösung, die am Ende "easy to use" ist. Der zweite Aspekt, der mir in den Sinn kommt: Mit "easy to use" ist meist der sogenannte "Happy Path" gemeint, also wenn ein User, den ich bei der Konzeption im Kopf hatte, das System genauso benutzt, wie das vom Product Owner vorgesehen wurde. Das ist aber bei weiten nicht immer der Fall. Menschen machen sich Technologie zu eigen, also benutzen sie so, wie es für sie am Besten passt und nicht so, wie es vom Entwickler gedacht war. Viele Menschen schicken sich zum Beispiel selbst E-Mails, um sich etwas zu merken oder an etwas zu erinnern. Warum kann ich mir eigentlich nicht selbst eine WhatsApp schicken? Ich bin sicher, dass das schon viele Menschen vermisst haben. Schliesslich fragen wir UX Profis bei der Anforderung "easy to use" gerne zurück "für wen"? Es gibt immer User, an die keiner denkt, zum Beispiel Kinder (mit eingeschränktem Wissen), alte Menschen (die oft weniger gut sehen können oder motorisch eingeschränkt sind), Menschen, die nicht gut deutsch sprechen und so weiter. Gerade in Projektteams, die hauptsächlich aus Männern bestehen, wird leider immer noch oft vergessen, dass "der User" oft eine Frau ist. Dafür gibt es viele Beispiele, zum Beispiel Gesundheitsapps, die alles tracken können ausser dem weiblichen Zyklus.

Wie haben sich Anforderungen an Webprojekte in den letzten Jahren verändert?

Webprojekte sind deutlich komplexer geworden. Man kann immer mehr direkt online erledigen, die Interfaces bieten immer neue Möglichkeiten. Auftraggeber und Nutzer halten inzwischen vieles für selbstverständlich, zum Beispiel, dass Websites responsiv sind, also optimiert auf die Grösse des Bildschirms angezeigt werden. Auch eine gute User Experience gilt als Selbstverständlichkeit, obwohl sie in einer komplexen Gerätelandschaft immer schwieriger herzustellen ist. Mit der Sprachein- und -ausgabe kommt gleich noch eine anspruchsvolle Interaktionsform dazu. Dafür wird der Unter­schied zwischen Websites und Apps immer geringer. Vieles, was früher nur in einer nativen App möglich war, läuft jetzt bereits im Browser.

Was bedeutet das konkret?

Ein Beispiel dafür ist der Zugriff auf Ortsdaten oder auf den Bewegungssensor. Auch wandern viele Funktionalitäten vom Server zum Client. Was früher im Back-End programmiert werden musste, findet heute oft im Front-End statt. Positiv ist, dass Auftraggeber viel mehr bei Konzept und Design mitarbeiten, weil die User Experience als strategisch wichtig erkannt wird. Es gibt zum Beispiel viel mehr Workshops. So kann das Wissen, das in der Firma bereits vorhanden ist, viel besser in das Projekt einfliessen. Andererseits haben wir die Erfahrung gemacht, dass kleine, gut durchmischte und entscheidungsbefugte Projektteams die beste User Experience hervorbringen.

Gibt es in der Schweiz genug gute Webentwickler?

Schon – aber nur, wenn wir genauso viele gute Webentwicklerinnen hätten - dann kämen wir hin! Im Ernst: es reicht nicht, das zeigen die vielen offenen Stellen, obwohl viele Firmen bereits im Ausland programmieren lassen. Aber es fällt schon auf, dass die Schweizer Webszene zu wenig divers ist. Dabei gibt es in Webprojekten so viele verschiedene spannende Aufgaben. Wir bei Zeix haben in Webprojekten meist drei Rollen vertreten: UX-Architect, Visual Designer und Programmiererin. Einige im Team sind gut in zwei Disziplinen, aber alle drei Aufgaben wirklich gut zu beherrschen, ist fast unmöglich. Wichtig ist, dass diese drei Kerndisziplinen mit der Business Linie und der (internen) IT gut zusammenarbeiten, sich ergänzen und es zu schätzen wissen, was die anderen beitragen. Das ist unserer Meinung nach Voraussetzung für gute User Experience. Das vermitteln wir auch in unseren Lehrgängen an diversen Fachhochschulen.

Wie sollen sich Webentwickler heute weiterbilden?

Webentwickler müssen sich ständig mit den neuen Frameworks und Möglichkeiten befassen und dürfen sich keine langjährige "Lieblingstechnologie" erlauben. Ein sehr anspruchsvoller Job und ohne Weiterbildung ist man schnell abgehängt. Wie man sich weiterbildet, ist sehr individuell. Viel passiert autodidaktisch, zum Beispiel mithilfe von Online-Tutorials, in Projekten oder bei Hack-Events Peer-to-Peer. Wir bieten zum Beispiel im Juni Hackdays an, bei denen man sich in Voice-Technologien vertiefen kann.

Woran arbeiten Sie derzeit?

Gute User Experience ist ein Dauerbrenner. Nur die Interfaces beziehungsweise die Geräte ändern sich. In jedem Projekt lassen wir uns dazu auf die Menschen ein, die das Produkt nutzen, auf die Aufgabe, die es erfüllen soll und den Kontext, in dem es benutzt wird. Das ist immer wieder spannend, und es gibt auch nach 20 Jahren noch keinen Algorithmus, der das macht. So hat der Computer als Verbindungsglied zwischen Mensch und Informatik (fast) ausgedient. Heute haben wir eine allgegenwärtige Digitalisierung: entsprechend befassen wir uns mit mehr diversen Geräten – etwa Smart Speaker, Chatservices, Terminals, AR-Devices – beziehungsweise der Umwelt der Nutzer und mit den Algorithmen, die aus Big Data Gold machen sollen, sprich: "künstliche Intelligenz". Der wesentliche Anspruch an die UX ist heute, dass wir die Digitalisierung so betreiben, dass am Ende etwas herauskommt, was tatsächlich unser Leben als Technologieanwender besser macht und wir die negativen Konsequenzen in den Griff bekommen. Denn einfach automatisieren ist nicht immer besser, oft nicht mal billiger. Diese Denkweise hat sich in den letzten Jahren zum Meta­trend "Digital Ethics" entwickelt mit vielen Subtrends, wie Inclusive Design, Truth Design, Future Design.

Wie weit verbreitet ist künstliche Intelligenz in der Entwicklung von Websites?

Das ist nicht so kurz zu beantworten, weil es schon keine einheitliche Definition davon gibt, was künstliche Intelligenz genau ist. Inzwischen ist es zwar verbreitet, zum Beispiel Produktempfehlungen aufgrund von grossen Datenmengen (Big Data) zu geben, dabei sind aber bei Weitem nicht immer komplizierte Algorithmen oder Machine Learning im Spiel.

Wo sehen Sie das grösste Potenzial für künftige Einsatzgebiete?

Kooperation! Die erfolgversprechendsten künftigen Einsätze für KI sind die, wo Mensch und künstliche Intelligenz zusammenarbeiten, also bewusst Schnittstellen im Prozess und gegenseitige Lern- und Anpassungsmöglichkeiten vorgesehen sind. Es sollte nicht darum gehen, ob die Maschinen uns ersetzen, sondern darum, dass sie uns unterstützen, wo es sinnvoll ist.

Welche Rolle spielt Transparenz bei der Entwicklung mit KI?

Transparenz ist eine Forderung vieler Ethikboards. Das ist aber oft nicht so einfach. Es gibt KI-Systeme, die mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einer richtigen Entscheidung kommen als ein Mensch, in denen es aber nicht möglich ist, nachzuvollziehen, wie die Entscheidung des Systems zustande gekommen ist. Das ist vielleicht nicht so schlimm, wenn es um Filmempfehlungen geht. Sobald aber über Menschen entscheiden wird, darf man nicht einer Maschine die Entscheidung überlassen, ohne dass man nachvollziehen kann, wie diese Entscheidung zustande gekommen ist.

Wie kann sichergestellt werden, dass die KI keine Anwender benachteiligt?

Hier sehe ich das größte Problem in der Technikgläubigkeit vieler Menschen. Künstliche Intelligenz ist bei Weitem nicht so "schlau" wie viele Anwender glauben. "Der Algorithmus hat's gesagt" - mit dieser Begründung wird heute schon viel Ungerechtigkeit und Dummheit gerechtfertigt. Hier müssen viele Menschen im Projekt mithelfen: Gemeinsam herausfinden, welche Menschen benachteiligt werden, wo die Daten herkommen und ob sie ein Bias haben, welche Vorurteile der Algorithmus unterstützt, dem User klar machen, wo die Grenzen der Maschine liegen.

Was sind 2020 die Herausforderungen in Webprojekten?

Der Fokus auf das "Welt-Design". Wir müssen lernen, stärker zu hinterfragen, wie wir die digitalisierte Welt gerne hätten, anstatt uns nur auf neue Tools und Technologien zu konzentrieren. Konkret gehört dazu etwa, die beschriebene steigende Komplexität zu managen, insbesondere, weil sie nicht immer mit einer Erhöhung des Budgets einhergeht. Ausserdem geht es darum, die Privacy zu wahren. In vielen Projekten werden immer mehr Kundendaten gesammelt. Da haben wir als UX Architects einerseits die Aufgabe, zu hinterfragen, wozu diese Daten überhaupt gesammelt werden, und müssen dies dann dem Nutzer verständlich machen. Andererseits müssen die Entwickler sicherstellen, dass die Daten dann auch sicher gespeichert werden.

Was sind aus Ihrer Sicht andere heisse Technologietrends für Webprojekte, und weshalb?

Erstens: Accessibility. Hier geht es längst nicht mehr nur um Blinde, sondern um alle möglichen, auch temporären Einschränkungen. Man hat auch gemerkt, dass Lösungen, die für Menschen mit Einschränkungen gebaut werden, oft für sehr viele einen Mehrwert bringen. Zum Beispiel waren Untertitel zuerst für Gehörlose gedacht, werden jetzt aber von sehr vielen Menschen in verschiedenen Situationen genutzt. Zweitens: Progressive Web Apps. PWAs und der Umgang damit sind sicher ein grosses Thema. Bisher fehlt den Usern oft noch das mentale Modell dazu, zum Beispiel zum Speichern auf dem Homescreen: "Wie kann ich die App jetzt installieren, wenn sie nicht im App Store ist?" Drittens: No-Code-Plattformen. Menschen ohne Programmierkenntnisse haben immer mehr Möglichkeiten, sich eine App, eine Website oder einen Chatbot "zusammenzuklicken".

Webcode
DPF8_173424