Allianz der Praktiker
Die Coronapandemie zeigt schonungslos auf, dass die Schweiz in Sachen Digitalisierung des Gesundheitswesens eher zu den Schlusslichtern gehört. Die digitale Transformation kann nur durch neue Ansätze befördert werden.
Im Jahr 1 nach der Inkraftsetzung des Bundesgesetzes über das elektronische Patientendossier EPDG (15.4.2020) zeigt die gegenwärtige Krise schonungslos auf, dass die Schweiz in Sachen Digitalisierung des Gesundheitswesens auf nationaler Ebene nicht zur Weltspitze, sondern eher zu den Schlusslichtern gehört. Es muss von einem eigentlichen Scheitern des bisherigen Vorgehens gesprochen werden. Aktuell überholen uns etwa Länder wie Marokko in der raschen und pragmatischen Umsetzung einer nationalen digitalen Lösung zur Unterstützung der Impfkampagne. Und in Deutschland lanciert eine Rockband erfolgreich eine einfach und hip gestaltete Tracing-App, während die staatliche Lösung vor sich hindümpelt. Wo liegen die Ursachen dafür?
Ursachenforschung
Vielfach wird der Föderalismus oder die Ärzteschaft, die sich dagegen wehre, als Grund dafür angeführt. Schuldzuweisungen greifen zu kurz, denn im kleineren Rahmen der Leistungserbringer hat die Digitalisierung schon längst Einzug gehalten. Sie wird von den Ärztinnen und Ärzten nicht nur akzeptiert, sondern auch aktiv vorangetrieben.
Auch politisch fehlt es nicht an der Einsicht oder dem Willen, Schwung in die Sache zu bringen, wie etwa die Motion der Präsidentin der Gesundheitskommission, Nationalrätin Ruth Humbel, zeigt. Der Wettbewerb des Föderalismus ist eine Stärke unseres politischen Systems. Beispielhaft dafür steht die innovative EPD- und B2B-Gemeinschaft im Südosten, die diesbezüglich am weitesten fortgeschritten ist. Die Ursachen liegen also nicht darin begründet, sondern in der bisherigen Herangehensweise.
Maximale Komplexität
Am EPD lässt sich das Kernproblem beispielhaft darstellen. Die Konstruktion des Systems leitet sich nicht von den Anforderungen der Nutzer – Bürgerinnen und Bürger sowie Leistungserbringer – ab, sondern ist primär von juristischen, technischen und politischen Überlegungen geprägt. Dieser Mix ergibt eine maximal mögliche Systemkomplexität. Diese führt, angereichert mit überzogenen Zertifizierungsvorgaben, zu hohen Kosten, organisatorischem Aufwand bei den Anwendern und zu technisch unerprobten, spezifisch helvetischen Implementierungen.
Die Zertifizierung garantiert zudem keine Usability, welche die Voraussetzung für die Nutzerakzeptanz ist. Dafür steht anschaulich das Beispiel der an sich möglichen ISO-Zertifizierung einer Fabrik für Schwimmringe aus Beton. Dazu passt die (wohl nicht ganz ernst gemeinte) Aussage eines EPD-Anbieters, dass man das Benutzerportal habe derart schlecht machen müssen, weil es das Gesetz so vorschreibe (sic!).
Disruptive Denkansätze sind nötig
Neue Denkansätze könnten helfen, diese Probleme zu überwinden. Dazu muss man sich jedoch aus dem Korsett der vorgegebenen Technologien, juristischen Zwänge und des politischen Taktierens befreien. Die Schweiz verfügt über eine grosse Community an innovativen Herstellern von digitalen Lösungen für das Gesundheitswesen sowie über versierte und an der Praxis orientierte Fachleute aus der IT, aber auch aus Medizin und Pflege in den Gesundheitsinstitutionen selbst. Diese Community kennt die Bedürfnisse der Nutzer aus der Praxis, die bei den Machern praktikable und mit den medizinisch-pflegerischen Arbeitsweisen kompatible Lösungen einfordern.
Dieses Potenzial an Erfahrung und Wissen sollte genutzt werden, um die Anforderungen an Public-Health-Lösungen, wie etwa an das EPD, zu spezifizieren. Die notwendigen juristischen, gesetzgeberischen und politischen Forderungen an die Lösungen können dann in einem nächsten Schritt durch die Spezialisten auf diesem Gebiet erfolgen.
Ein Weiterwursteln nach dem gleichen Muster wie bisher bringt uns der Lösung nicht näher. Es braucht eine Allianz der Praktiker, die bei den Behörden, auch ausserhalb der gewohnten eingefahrenen Wege via Lobbyorganisationen, Gehör findet.