Wie Unternehmen die Datenwissenschaften für sich nutzen können
Viele Industrieunternehmen sammeln zwar Daten, werten diese dann aber nicht aus. Olivier Verscheure, Executive Director des Swiss Data Science Center, sagt im Interview, warum gerade die Fertigungsindustrie von Datenprojekten profitieren könnte, in welcher Branche er gute Beispiele entdeckt hat und was er von Process Mining hält.
Was tut das Swiss Data Science Center genau?
Olivier Verscheure: Der Auftrag des SDSC lautet, die Adoption von Datenwissenschaften, maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz im Bildungswesen, der Industrie und im öffentlichen Sektor voranzutreiben. In der Industrie gibt es hinsichtlich Datenwissenschaften eine Menge Probleme, um die sich die grossen Konzerne, namentlich GAFAM (Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft) zu wenig kümmern.
Wie ist das SDSC heute aufgestellt?
Wir haben ungefähr 70 Mitarbeitende an zwei Niederlassungen in Zürich und Lausanne – demnächst eröffnen wir einen dritten Standort am Paul Scherrer Institut in Villigen.
Was sind die Schwerpunkte ihrer Arbeit?
Einerseits ermöglichen wir den Zugang zu Daten und zum Wissen, welches daraus gewonnen wird. Dafür entwickeln wir die Plattformen Renku und Swiss Data Custodian. Zweitens wollen wir die Industrie, den Bildungs- und den öffentlichen Sektor dabei unterstützen, die Daten mit Hilfe künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen ihre Daten bestmöglich zu nutzen und zu monetarisieren. Industrieunternehmen helfen wir auch bei der Suche und Ausbildung von Fachkräften. Und wir zeigen den Unternehmen auf, was und wie viel sie von Datenwissenschaften erwarten können. Drittens widmen wir uns der Aus- und Weiterbildung im Bereich der Datenwissenschaften. Dabei arbeiten wir mit privaten Unternehmen zusammen, um den Begriffe wie Digitalisierung, künstliche Intelligenz oder Datenwissenschaften zu entmystifizieren.
Was unterscheidet die Fertigungsindustrie hinsichtlich Datenwissenschaften von grossen Tech-Konzernen?
Für Tech-Unternehmen wie Google oder Uber sind Daten eine strategische Anlage, und sie sind von Anfang an ein wichtiger Bestandteil ihres Geschäftsmodells. Bei traditionellen Industrieunternehmen kommen Daten nur zum Teil in der Strategie vor. Ich finde es faszinierend und fast beängstigend, wie viele dieser Fertigungsunternehmen zwar Daten von ihren Maschinen sammeln und speichern, diese dann aber nicht nutzen. Dennoch ist alleine die Speicherung der Daten mit Kosten verbunden. Die grössten Unterschiede zwischen den Unternehmen, die strategisch auf Daten setzen und den traditionellen Industrieunternehmen sind die Qualität der Daten, die harmonisierung der Daten über verschiedene Silos hinweg und wie die Daten zur Wertschöpfung genutzt werden.
Warum sollte ein traditionelles Unternehmen in seine Daten investieren?
Die meisten Fertigungsunternehmen setzen sich zum Beispiel klare Betriebsziele, wie etwa die Fertigungskosten zu senken. Entsprechend suchen sie nach Möglichkeiten, die Abläufe effizienter zu machen. Hierbei können Daten wertvolle Erkenntnisse liefern. Ein anderes Beispiel ist die Kundenzentriertheit, die in manchen Branchen oberstes Gebot ist. Hier ist es wichtig, den Kunden und seine Bedürfnisse zu kennen – auch dafür sind Daten essentiell.
Wie kann ein CIO ein Data-Mining-Projekkt der Geschäftsleitung schmackhaft machen?
Oftmals kommt dieser Anstoss gar nicht aus der IT-Abteilung. Denn diese verhält sich oft eher defensiv: Sie sammelt zwar Daten, aber schützt diese dann vor allem. Die offensive Rolle übernimmt vielmehr ein Chief Digital Officer. Er will die Daten möglichst breit nutzen und so gut wie möglich monetarisieren. Häufig ist das Data-Science-Team gar nicht Teil der IT-Abteilung, sondern näher an den Geschäftseinheiten.
Wie verkauft also der CDO seine Datenprojekte?
Zunächst geht es darum, den Wert der Datenprojekte herauszufinden. Dazu laufen Prozesse zwischen den Geschäftseinheiten und dem Datenteam ab, und zwar in beide Richtungen. Die Datenwissenschafter erhalten von den Geschäftseinheiten mögliche Use Cases, während die Datenwissenschafter den Geschäftseinheiten spezifische Erkenntnisse aufzeigen. Natürlich ist es frustrierend, wenn entweder die Datenwissenschafter den vorgeschlagenen Use Case nicht umsetzen können oder die Geschäftseinheiten sich nicht für die neuen Erkenntnisse interessieren. Diese Prozesse sind komplizierter und dauern länger in Unternehmen, die Daten nicht als strategische Anlage behandeln. Je nach Branche gibt es da Unterschiede.
Wo sehen Sie gute Beispiele?
Mich überraschen beispielsweise bestimmte Pharma-Unternehmen, die den Ansatz von FAIR Data (Abkürzung von "Findable, Accessible, Interoperable and Reusable") umsetzen wollen. Der Zugang zu Daten soll also gänzlich demokratisiert werden, natürlich unter einer angemessenen Governance. Es soll nach wie vor klar sein, Wer die Daten genutzt hat und wozu. Dieses Prinzip könnte längerfristig zu mehr Erkenntnissen, weniger Ping-Pong und weniger Frust zwischen Geschäftseinheiten und Datenteams führen.
Welche Branchen sollten Ihrer Meinung nach mehr in Datenwissenschaften investieren?
Die Fertigungsindustrie, und vor allem jene Unternehmen mit geringen Margen auf ihren Produkten, könnte von den mittels Data Mining entdeckten Prozessverbesserungen profitieren. Dies wäre umso wichtiger, zumal neu gegründete Konkurrenten, namentlich aus den USA oder China, ihr Geschäft von Anfang an auf Daten-getriebene Prozesse ausrichten.
In Zusammenhang mit Datenprojekten wird oft von Process Mining gesprochen. Was halten Sie davon?
Process Mining ist nach unserer Erfahrung eines der trojanischen Pferde der Digitalisierung. Viele Unternehmen gewinnen tatsächlich neue, oft überraschende Erkenntnisse zu ihren Betriebsabläufen, wenn sie zum Beispiel die Transaktionen aus dem ERP-System grafisch darstellen. Sie können etwa unnötige Prozessschleifen erkennen. Allerdings ist es mit Process Mining alleine nicht getan. Um es sinnvoll zu nutzen, muss das Unternehmen dafür die Betriebsabläufe auch überwachen und optimieren, also eine passende Governance entwickeln. Ein Unternehmen sollte sich auch bewusst sein, dass die Einblicke in die Betriebseffizienz, die das Process Mining ermöglicht, nicht von allen gewünscht werden, namentlich nicht von dejnenigen, die für die ineffizienten Betriebsabläufe verantwortlich zeichnen. Die Demokratisierung von Daten bringt also nicht nur Vorteile, sondern kann auch Ängste auslösen.
Für mich klingt es so, als ob Datenprojekte ein ganzes Unternehmen tangieren.
Das ist korrekt, und es ist auch eine Schlüsselerkenntnis für alle Digitalisierungsprojekte. Datenwissenschaften lassen sich meiner Meinung nach nicht mit einigen Pilotprojekten einführen. Sie erfordern Veränderungen in der Unternehmenskultur, in der governance und in den Betriebsabläufen – kurz: Es braucht eine echte digitale Transformation. Dazu gehören auch Fragen zur Ethik und Transparenz. Ich kenne nicht viele Unternehmen, die sich erfolgreich gewandelt haben.
Welche Herausforderung sehen Sie in der Schweiz hinsichtlich Datenwissenschaften?
In der Schweiz gibt es einen fantastischen Pool an Talenten in den Bereichen des maschinellen Lernens und künstlicher Intelligenz – Forscher, Professoren und Experten in der Privatwirtschaft. Entsprechend mache ich mir keine Sorgen um Algorithmen und Technologien, denn ich glaube, dass wir für deren Entwicklung gut aufgestellt sind. Mich beschäftigt aber etwas anderes: Die Menschen neigen dazu, zu vergessen, dass künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen keine Zaubermittel sind. Um wirklich zu funktionieren, benötigen sie gigantische Mengen an Daten hoher Qualität. Wir müssen uns fragen, wie wir diese Daten sammeln und verwalten, innerhalb der ethisch angemessenen Rahmenbedingungen, damit die Technologien sie verarbeiten können.