Dossier

Netzwoche Nr. 5/2016

Editorial von Christoph Grau

Hochmut kommt vor dem Fall

Die USA und das Silicon Valley gelten als das Nonplusultra, wenn es um IT-Trends geht. Nicht zu Unrecht. Denn dort entstanden ­Firmen wie Apple, Google, Facebook oder auch Uber, die unseren Alltag von Grund auf veränderten. Daher ­pilgern die Entscheidungsträger aus aller Welt regelmässig in die USA, um sich inspirieren zu lassen.

Bei dieser Fixiertheit auf die USA geht aber schnell vergessen, dass sich auch in anderen Regionen der Welt technologisch viel tut. Nicht nur in den grossen Software-Entwicklungs-Zentren in Indien und ­Pakistan. Besonders die ICT-Landschaft in China taucht häufig nicht auf dem Radar westlicher Entscheidungsträger und Medien auf. Zu Unrecht, denn im Reich der Mitte ist ein ICT-Ökosystem ­herangewachsen, das auch den Vergleich mit den USA nicht mehr zu scheuen braucht.

Eine massgebliche Rolle spielte hierbei die chinesische Regierung. Sie öffnete das Land für einige ausländische IT-Firmen. ­Microsoft und Apple kennt in China jedes Kind. Daneben entstand in China eine eigenständige ICT-Landschaft. Dies zum einen durch bewusste Verbote, wie etwa von Facebook und Twitter, und zum anderen durch die Förderung von sogenannten "nationalen Helden", die eine Strahlkraft auf die gesamte Branche entfalten sollten.

Auch die Gründerszene ist sehr dynamisch. Gleich mehrere ­chinesische Start-ups finden sich auf der "Unicorn List" von CB-­Insights, auf der die Jungunternehmen mit mehr als einer Milliarde US-Dollar Wert verzeichnet sind. Auch in China gibt es ein grosses ­Reservoir an Risikokapital, das die Start-up-Branche befeuert.

Bisher wagten erst wenige chinesische ICT-Unternehmen den Schritt ins Ausland. Bekannte Ausnahmen sind Huawei (Seite 12 und 13), Lenovo oder Alibaba. Weitere Riesen sind aber schon in den Startlöchern und warten nur darauf, die westliche ICT-Landschaft aufzumischen. Darunter etwa die Softwareriesen Baidu und Tencent. Das Erfolgsrezept dieser Firmen liegt bei weitem nicht mehr nur im Kopieren von bestehenden Ideen. Mit selbst entwickelten Technologien und Geschäftsmodellen behaupten sich immer mehr chinesische Firmen im In- und Ausland. Der aufmerksame Beobachter sieht diese Trends. Aber in den Köpfen vieler Entscheidungsträger ist China oft nur ein Absatzmarkt oder Billigproduzent. Softwareentwicklungen und junge aufstrebende ­Unternehmen sind hierzulande fast unbekannt.

Auch die Journalistenkaste muss sich hier an der eigenen Nase fassen. Über Entwicklungen in China wird gerne hinweggesehen. Hingegen wird über jedes noch so wage Gerücht aus dem Silicon Valley überall und ausführlich berichtet. Mich erinnert diese Einstellung an das Sprichwort "Hochmut kommt vor dem Fall". Denn ein Blick in die Geschichte mahnt zu Vorsicht.

Vor wenigen Jahrzehnten mischten schon Japan und Korea die Automobil-, Uhren- und Kameraindustrie auf. Ganze Industriezweige in Europa verschwanden. Gleichzeitig etablierten sich die Länder in der damaligen Hochtechnologie. Ähnlich viel disruptives Poten­zial sehe ich in China bei der nun anstehenden digitalen Transformation. China hat bereits zum Überholen angesetzt. Die chinesische Zentralregierung erklärte die Industrie 4.0, in China "Internet Plus" genannt, zur Chefsache. Das Bild Chinas als Billigproduzent soll nach Ministerpräsident Li Keqiang bald der Vergangenheit angehören. Sein Ziel ist es, China als Hochtechnologieland zu etablieren. Und China ist auf dem besten Weg dahin.

Zu dieser Erkenntnis bin ich bei meinem letzten China-Aufenthalt gekommen. Ich kenne mich mit dem Land sehr gut aus und spreche auch die Sprache. Ich hatte engen Kontakt zu den Menschen und habe Augen und Ohren offen gehalten. Die digitale Transforma­tion in China ist mit den Händen zu greifen. Von meinen Erfahrungen und den wichtigsten Trends lesen Sie in meiner Reportage ab Seite 14.