Wie die Schweiz heute in der Fabrik von Morgen mitmischt
Industrie 4.0 ist das Schlagwort der Stunde. Digitale Technik soll Rohstoffabbau, Fertigung und Logistik in die nächste Ära katapultieren. Doch was macht die 4. industrielle Revolution eigentlich aus? Die Redaktion hat sich bei Schweizer Unternehmen auf dem wichtigsten Branchentreff der Welt umgehört, der Hannover Messe.
Was 5G für die Telkos und die künstliche Intelligenz (KI) für die Softwarehersteller sind, ist der Begriff Industrie 4.0 für die Fertigung, Energiewirtschaft und Logistik. Es gibt kaum ein Referat über die Fabrik der Zukunft, in dem der Begriff nicht erwähnt wird, kaum ein Anbieter von Industrielösungen, der nicht damit wirbt. Doch was macht die Industrie 4.0 beziehungsweise ihre Wegbereiterin, die 4. industrielle Revolution, eigentlich aus?
Produkte steuern Prozesse
Der beste Ort, um dieser Frage auf den Grund zu gehen, ist die Hannover Messe. Seit 1947 stellen dort Unternehmen ihre Lösungen für die Industrie aus, zuletzt Anfang April 2019. 215 000 Menschen besuchten die laut Veranstalter "international wichtigste Plattform für alle Technologien rund um die industrielle Transformation". Rund 6500 Aussteller präsentierten ihre Lösungen, darunter auch Firmen aus der Schweiz.
Die Hannover Messe ist nicht nur eine der wichtigsten Branchenmessen der Welt, sie war auch Geburtsort der Industrie 4.0. 2011 stellten deutsche Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft dort das Konzept als nächsten Schritt in der Entwicklung der Branche vor.
Nach der 1. (Einführung mechanischer Produktionsanlagen), der 2. (arbeitsteilige Massenproduktion von Gütern mittels elektrischer Energie) und der 3. (Einsatz von Elektronik und IT zur Automatisierung von Produktionsprozessen) stehe nun die 4. industrielle Revolution an, war nach der Messe in der "Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure" zu lesen. Diese Transformation umfasse:
den Aufbau eines Internets der Dinge (IoT) im industriellen Umfeld
die "digitale Veredelung von Produktionsanlagen und industriellen Erzeugnissen" mit Software, Sensoren, Speicher- und Kommunikationsfähigkeiten
eine Brücke zwischen virtueller und physischer Welt durch Synchronisation zwischen digitalem Modell und Realität
die Entwicklung intelligenter Überwachungs- und Entscheidungsprozesse, um Wertschöpfungsnetzwerke in Echtzeit steuern und optimieren zu können
Alles in allem, so die Idee hinter der Industrie 4.0, übernehme das Endresultat erstmals eine aktive Rolle. Nicht eine zentrale Instanz, sondern das entstehende Produkt selbst soll den Fertigungsprozess steuern, Sensordaten überwachen, mit Maschinen Informationen austauschen und bei Störungen entsprechende Gegenmassnahmen einleiten. Als smartes "Ding" werde es gewissermassen zum Beobachter, Akteur und Entscheider. Dies soll helfen, Prozesse effizienter zu machen, vor allem aber neue Dienstleistungen anzubieten.
Es gibt kaum ein Referat über die Fabrik der Zukunft, in dem der Begriff Industrie 4.0 nicht erwähnt wird, kaum ein Anbieter von Industrielösungen, der nicht damit wirbt. (Source: Netzmedien)
Mehr Power, mehr Vernetzung, mehr Intelligenz
Soweit die Theorie aus dem Jahr 2011, in der Praxis fallen die Einschätzungen dazu, was Industrie 4.0 wirklich ausmacht, unterschiedlich aus. Auch bei Firmen aus der Schweiz, wie ein Rundgang durch die Hallen der Hannover Messe zeigte. Für Sevensense Robotics etwa bedeutet Industrie 4.0 vor allem, dass bessere Sensoren, schnellere Kommunikationssysteme und mehr Rechenleistung auf immer kleinerem Raum zur Verfügung stehen. Damit lasse sich das IoT auf das nächste Level bringen, sagte Mitgründer und Operations Lead Andreas Pfrunder.
Sevensense ist ein ETH-Spin-off, das eine Automationslösung für mobile Roboter entwickelt. Es präsentierte sie am Schweizer Gemeinschaftsstand "Research & Technology" in Halle 2 zum ersten Mal an der Hannover Messe. Mit Kameras, inertialen Messeinheiten, Lasermessung und Machine Learning könne dieses Kit einem Roboter mitteilen, wo er sich im Raum befinde und wie er unfallfrei an sein Ziel gelange. Das funktioniert laut Pfrunder im Unterschied zu ähnlichen Lösungen nicht nur draussen, sondern auch drinnen, wo kein GPS vorhanden ist, oder in dynamischen Umgebungen, etwa auf einem Flughafen. Das heisse aber nicht, dass Sevensense keine Mitbewerber habe. Mit State-of-the-Art-Technologie aus der ETH Zürich und einem klaren Fokus auf bestimmte Branchen sei das Start-up aber gut aufgestellt, um international zu den Besten zu gehören. Ein Grund hierfür sei auch, dass Zürich einer der globalen Hotspots für Robotik sei und viele hochtalentierte Arbeitskräfte habe, sagte Pfrunder.
Gianluca Cesari und Andreas Pfrunder von Sevensense. (Source: Netzmedien)
Roboter, die mitgehen und mitfühlen
Neben der ETH und Jungunternehmen sind es Firmen wie Stäubli, die den Ruf von Zürich als Hub für die Roboterentwicklung begründeten. Stäubli ist kein Start-up mehr. 1892 in Horgen gegründet, ist die Firma seit Anfang der 80er-Jahre in der Robotik tätig und war mit ihren Produkten schon mehrfach an der Hannover Messe präsent. 2019 standen bei Stäubli die Themen mobile Roboter und "Cobots" im Vordergrund. Mobile Roboter können dank eigenem Antrieb in einer Fabrik an verschiedenen Orten Aufgaben erledigen und so auch ihre Batterien selbstständig aufladen. Der Cobot von Stäubli ist ein Roboterarm, der mit einer weichen Aussenhülle und Berührungssensoren für die Zusammenarbeit mit Menschen konzipiert ist.
Industrie 4.0, das bedeute vor allem eine neue Form der Kommunikation innerhalb der Industrieanlage, sagte Gerald Vogt, Group Division Manager Robotics von Stäubli. Maschinen könnten eine immer grössere Bandbreite von Informationen untereinander austauschen. So teile ein Roboter dem anderen mit, wie lange ein Fertigungsschritt noch dauere. Dadurch liessen sich die Abläufe in einer Fabrik optimieren. Diese Vernetzung umfasse nicht nur die Maschinen, so Vogt. Digitalisierung heisse auch, dass alle Prozesse und Informationen aufeinander abgestimmt würden. Möglich werde das etwa durch digitale Zwillinge, mit denen sich Abläufe und Anlagen immer detaillierter simulieren liessen. Allgemein sei 2019 mehr Dynamik in der Robotik-Branche vorhanden. Neue Player kämen auf den Markt, und was vorher bloss ein Schlagwort gewesen sei, werde nun konkret. "Jetzt sind die Lösungen da", sagte Vogt.
"Jetzt sind die Lösungen da", sagte Gerald Vogt von Stäubli. (Source: Netzmedien)
Die Grenzen des Hypes
Dass die Entwicklung 2019 mehr Dynamik hat und der Industrie-4.0-Hype langsam aber sicher in der Wirklichkeit ankommt, stellte auch Daniel Gillmann, Stiftungsgründer der "Cafeteria I4.0", fest. Die Cafeteria I4.0 zeigte im Swiss Pavilion in Halle 6 technische Lösungsansätze für industrielle Prozesse. Besucher bekamen einen Kaffee serviert, der von der Bestellung im Webshop, über die Personalisierung des Bechers bis zur Konfektionierung mit Zucker und Rahm die Möglichkeiten der Digitalisierung demonstrieren sollte. Wie beim 2011 an der Messe vorgestellten Konzept steuerte das Produkt dabei bis zu einem gewissen Grad seine Entstehung selbst.
Am Ablauf der Kaffeeproduktion liessen sich viele Themen aus der Industriewelt erklären, sagte Gillmann. Industrie 4.0 heisst seiner Ansicht nach zuerst einmal, digitale Technik überhaupt in die Industrie zu bringen und daraus neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. IT-Themen wie Cloud Computing, ERP-Integration oder Fernwartung per Augmented Reality seien nämlich für viele Unternehmen noch Neuland. Entsprechend gebe es, was den Kenntnisstand anbelangt, Nachholbedarf.
Die Anbieter von Industrie-4.0-Lösungen hätten sich dies ein Stück weit auch selbst zuzuschreiben. Mit Werbebotschaften über die Verheissungen der 4. industriellen Revolution hätten die Hersteller bei den Industriefirmen grosse, zum Teil überzogene Erwartungen geweckt. Bei manchen Abnehmern herrsche eine "Consumer-Mentalität" in Bezug auf Produkte und Preise, sagte Gillmann. Die Realität sei freilich oft komplizierter, aufwändiger. Sie erfordere eine sorgfältige Prüfung der Anforderungen, der Machbarkeit und der Wirtschaftlichkeit in jedem Anwendungsfall. Dazu brauche es nicht nur mehr Erfahrungen in der IT, sondern auch Entwickler und Techniker mit Verständnis für die Industrie und ihre Projekte. Diese Digitalisierung zu fördern, sei das Ziel der Cafeteria I4.0. "Wir müssen aufklären, erklären und auch realistisch sein", so Gillmann.
Daniel Gillmann und Roland Neeser von der Cafeteria I4.0. (Source: Netzmedien)
Handwerk im 21. Jahrhundert
Nicht alles ist in der Umsetzung so einfach, wie es die Broschüren und Shows der Hannover Messe suggerierten. Und manchmal ist Industrie 4.0 auch durchaus analog, wie Gregory Pross am Stand gleich neben Cafeteria I4.0 zeigte. Pross ist Product Manager beim Komponentenhersteller Phoenix Mecano Komponenten aus Stein am Rhein. Von dort hatte er das Montageleitsystem "Setago" mitgebracht. Setago rüstet den Arbeitsplatz eines Produktionsmitarbeiters gewissermassen digital auf. Die Arbeit wird dabei immer noch von Hand ausgeführt, allerdings angeleitet durch Sensoren, Bilder und Info-Videos. Das System erkenne zum Beispiel, wenn der Arbeiter ein Bauteil aus einer Ablage nehme und blockiere den Montageprozess, wenn ein falsches Teil entnommen werde.
Das Interesse an einem solchen "intelligenten Arbeitsplatz" sei gross, denn er sei im Prinzip sehr einfach, lasse sich aber auch in umfassende, teilautomatisierte Fertigungslinien integrieren. Setago eigne sich dadurch für Kunden, die innerhalb ihrer manuellen Produktionsumgebung besonderen Wert auf Prozesssicherheit legten. Setago müsse nicht zwingend in der Montage eingesetzt werden. Denkbar wäre auch der Einsatz in der Kommissionierung im Lager. Dem Einsatz der an jeder Ecke der Hannover Messe ausgestellten Roboter stand Pross eher skeptisch gegenüber, da oftmals der Integrationsaufwand für KMUs nicht rentabel sei. In diese Nische greife Setago, da es mit vergleichsweise geringem Aufwand in bestehende Umgebungen integriert werden könne.
Gregory Pross demonstriert die Montagelösung von Phoenix Mecano Komponenten. (Source: Netzmedien)
Sevensense, Stäubli, die Cafeteria I4.0 und Phoenix Mecano Komponenten standen stellvertretend für die vielen verschiedenen Perspektiven auf die Industrie 4.0 an der Hannover Messe. Und sie zeigten auf ihre eigene Weise, wie Schweizer Unternehmen das Thema mitgestalten und Lösungen für die Fabrik von morgen entwickeln. Einen gemeinsamen Nenner hatten sie dann aber doch. Wie schon 2011 von den deutschen Experten vorgeschlagen, sahen die besuchten Firmen den Kern der kommenden Industriegeneration in der digitalen Vernetzung aller Prozesse und Informationen in der Industrie. Die Technik sei dafür bereit, waren sich Aussteller und Besucher auf der Hannover Messe 2019 einig. Was es jetzt noch brauche, seien Standards, firmenübergreifende Partnerschaften, Erfahrungen bei der Umsetzung und Mut, sich beim Schritt in die digitale Zukunft auch mal neu zu erfinden.