Das schlummernde Digitalisierungspotenzial der Arztpraxen
Die Gesundheitskosten für Schweizer Haushalte steigen ungebremst. Wie kann diesem Trend entgegengewirkt werden, ohne das Leistungsangebot oder die Qualität des Gesundheitswesens einzuschränken? Mit der Digitalisierung öffnen sich vielversprechende Möglichkeiten für Arztpraxen, ihre interne Effizienz zu steigern und Patienten eine höhere Behandlungsqualität zu bieten.
Im Frühjahr 2020 wird das elektronische Patientendossier (EPD) schweizweit verfügbar sein. Beim EPD handelt es sich um eine Sammlung persönlicher Dokumente mit Informationen rund um die Gesundheit der Patienten. Das Gesetz verlangt, dass sich jedes Spital einer zertifizierten EPD-Gemeinschaft anschliesst und so am EPD teilnehmen muss.
Was für Spitäler bald Realität wird, könnte in absehbarer Zeit auch für Arztpraxen zur Pflicht werden. In der Schweiz existieren 14 200 Arztpraxen, wovon ein beachtlicher Teil noch weit entfernt von einer zentralen digitalen Verwaltung von Patientendaten und somit einem EPD ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wo die Herausforderungen für Praxisinformationssysteme liegen und wohin deren Reise in Zukunft führt.
Stolpersteine im Praxisalltag
In einer Arztpraxis gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Abläufe von der Terminkoordination über die Verwaltung der Krankengeschichte, Medikation und Laborbefunde bis hin zur Leistungsabrechnung. Für einen Teil dieser Aufgaben nutzt eine Mehrheit der Praxen einzelne separate und nicht integrierte Lösungen, sogenannte Insellösungen.
Auf eine vollständige Digitalisierung und Vereinheitlichung sämtlicher Abläufe setzen allerdings nur etwa die Hälfte aller Praxen in der Schweiz. Die anderen 50 Prozent schreiben die komplette Krankengeschichte nach wie vor auf Papier. Dies hat zwar den Vorteil, dass die Informationen rasch und unkompliziert notiert werden können, birgt jedoch auch verschiedene Nachteile. So muss beispielsweise das Praxispersonal auf der Basis einer handgeschriebenen Notiz der Ärzte eine Überweisung des Patienten ins Spital verfassen. Das ist ineffizient, fehleranfällig und generiert unnötige Kosten.
Praxisinformationssysteme versuchen deshalb, die Eingabe von Informationen unter anderem in der Krankengeschichte zu vereinfachen und optimal zu unterstützen, zum Beispiel mit vordefinierten Textbausteinen. So kann die Hürde, die Daten direkt elektronisch zu erfassen, abgebaut und die Eingaben effizienter durchgeführt werden. Schliesslich soll nicht die Erfassung von Informationen im Zentrum einer Behandlung stehen, sondern die Patienten.
Chancen der digitalen Transformation
Mit der Digitalisierung heutiger Abläufe ist das Potenzial jedoch bei Weitem nicht ausgeschöpft. Was digitale Transformation bedeuten kann, wird am folgenden Beispiel einer medizinischen Diagnose aufgezeigt.
Bei der Definition von Austauschformaten wurde ersichtlich, dass grosse Differenzen in der Erstellung von Terminologien beziehungsweise Klassifikationen bestehen. Die wiederkehrende Notwendigkeit für eine umfassendere und vor allem domänenübergreifende Terminologie wurde erkannt – wie auch der Bedarf, komplexe medizinische Sachverhalte einheitlich, semantisch korrekt und mit der notwendigen fachlichen Aussagekraft zu kodieren.
Der etablierte internationale Standard SNOMED CT (Systematized Nomenclature of Human and Veterinary Medicine – Clinical Terms) bietet eine Kodierung von medizinischen Informationen in den notwendigen Austauschformaten. Auf diese Weise können Diagnosen mittels standardisierter und sprachunabhängiger Codes erfasst und damit die Basis für die semantische Interoperabilität zwischen Systemen gelegt werden.
Im Anwendungsfall einer Patientenüberweisung wird es möglich, die Semantik einer Diagnose vom Praxisinformationssystem an ein Zielsystem zu übertragen. Dies vereinfacht es dem empfangenden Fachpersonal, eine Diagnose zu interpretieren. Des Weiteren können im Zielsystem mittels Clinical Decision Support automatisch Behandlungsmethoden vorgeschlagen oder auf mögliche Komplikationen hingewiesen werden.
Die Realität sieht aber anders aus. Ärzte erfassen eine Diagnose vorwiegend in Freitextform, da aus ihrer Sicht eine umfassendere Beschreibung nötig ist. Dies hat zur Folge, dass die Diagnosen in unstrukturierter Form in Praxissoftwaresystemen abgespeichert werden.
Daher stellt sich die Frage, wie heutzutage die Brücke zwischen Freitext auf der einen Seite und strukturierter Eingabe mit Codiersystem auf der anderen Seite geschlagen werden kann. Der Einsatz von Natural Language Processing (NLP) kann die Verbindung schaffen. NLP stellt eine Technik und Methode zur computerbasierten Verarbeitung natürlicher Sprache dar. Mittels Regeln und Algorithmen können die im Freitext beschriebenen Diagnosen automatisch auf Codiersysteme wie SNOMED CT abgebildet werden. Solche Systeme werden in Spitälern bereits vereinzelt eingesetzt und über kurz oder lang auch den Weg in die Praxisinformationssysteme finden.
Self-Empowerment durch Kollaboration
Doch wie könnten Informationen ohne jegliche manuelle Eingabe in ein Praxissoftwaresystem gelangen? Im Zusammenhang mit E-Health ist immer wieder die Rede von "Self-Empowerment". Dabei geht es um die Stärkung der individuellen Gesundheitskompetenz sowie die Sensibilisierung der Bevölkerung, mehr Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen und somit zu einer gesünderen Lebensweise zu motivieren. Digitale und mobile Lösungen wie Fitness-Tracker und Gesundheits-Apps unterstützen heute bereits dabei.
Nicht nur Digital Natives, sondern auch vermehrt ältere Generationen sammeln heutzutage zahlreiche Daten in Gesundheits-Apps. Sie messen eigenständig gesundheitsrelevante Werte wie beispielsweise den Blutdruck, um Datenverläufe zu visualisieren, auszuwerten und gesundheitsfördernde Massnahmen einzuleiten, sogenanntes "quantified self". Weiter kann basierend auf Körperwerten das emotionale Wohlbefinden und der Lebensstil wie Sport, Ernährung, Stress und Schlaf der eigene Gesundheitszustand in Echtzeit verfolgt und anhand eines Health-Scores ausgedrückt werden.
Für eine Auswertung dieser Daten in einem grösseren Kontext ist es von Interesse, diese in ein Praxisinformationssystem zu übertragen, wo sie systemgestützt durch Fachpersonen analysiert werden, um gegebenenfalls Massnahmen einleiten zu können.
Mit Fast Healthcare Interoperable Resources (FIHR) etabliert sich aktuell ein Standard, der einen Datenaustausch zwischen den von Apps gesammelten Daten und den Praxisinformationssystemen möglich machen kann – ohne manuelle Eingabe. Mit diesem Datentransfer wird ein ganz neues Dienstleistungsangebot möglich. Ein Praxisinformationssystem kann beispielsweise Patienten "automatisiert" überwachen und bei einem Notfall das Fachpersonal alarmieren. Auch in einer gesamtheitlichen Betrachtung kann bei Auffälligkeiten reagiert und zum Beispiel der Patient zu einem Arzttermin eingeladen oder ihm automatisch ein Rezept zur Medikation zugestellt werden. Pflegebedürftige Menschen können zuhause wohnen und trotzdem eine optimale Gesundheitsversorgung erhalten. Gleichzeitig werden Kosten durch eine effizientere Gestaltung der Prozesse eingespart.
Qualitätssteigerung durch Neugestaltung
Die Digitalisierung der Prozesse und Systeme der Arztpraxen stecken heute noch in den Kinderschuhen. Es gibt nach wie vor sehr viele Praxen, in denen nur ein kleiner Teil der Abläufe digitalisiert ist. Demgegenüber stehen die vielfältigen technischen Möglichkeiten und Standards, um die heutigen Abläufe nicht einfach nur zu optimieren, sondern von Grund auf neu zu gestalten. Durch die effizientere Interoperabilität zwischen den Systemen und die stärkere Einbindung der Patienten in die Prozesse kann die Digitalisierung einen Ausweg aus der Kostenspirale bieten und das Dienstleistungsangebot ausgebaut werden. Dies kommt nicht nur den Patienten zugute, sondern auch den Ärzten, die dadurch ihren Patienten mehr Zeit und eine bessere Behandlungsqualität bieten können.