Daniel Hürlimann im Interview

Wo die Schweiz in Sachen Legal Tech steht

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In Sachen Rechtsinformatik hat die Schweiz noch viel Aufholbedarf. Daniel Hürlimann, der erste Professor für Rechtsinformatik in der Schweiz, will das ändern. Er spricht über die Tücken der Digitalisierung des Schweizer Rechts, über das Gute am Nein zur E-ID und über den Hype um Smart Contracts.

Daniel Hürlimann, Professor für Rechtsinformatik und IT-Recht an der Berner Fachhochschule. (Source: zVg)
Daniel Hürlimann, Professor für Rechtsinformatik und IT-Recht an der Berner Fachhochschule. (Source: zVg)

Wie fühlt man sich als frisch habilitierter Professor?

Daniel Hürlimann: Die Professur und die Habilitation sind fast gleichzeitig erfolgt: Die Professur an der Berner Fachhochschule im November und die Habilitation an der Universität Luzern im Dezember. Über beides habe ich mich sehr gefreut. Die Universität Luzern hat mir die Lehrbefugnis für die Fächer Öffentliches Recht und Immaterialgüterrecht erteilt.

Was hat Sie dazu gebracht, sich auf IT-Recht und Rechtsinformatik zu fokussieren?

Ich habe mich schon immer für Recht und Informatik interessiert. Zu Beginn meines Studiums in der Rechtswissenschaft im ersten Semester habe ich bereits begonnen, in einem Unternehmen zu arbeiten, das sich auf diese Schnittstelle zwischen Recht und Informatik spezialisiert. Die Arbeit hat mein Interesse am IT-Recht verstärkt und das hat dazu geführt, dass ich eine Dissertation über das Thema "Haftung von Suchmaschinen" geschrieben habe.

Was macht einen guten Rechtsinformatiker aus?

Er muss gewissermassen zwei Sprachen sprechen: die Sprache der Informatikerinnen und Informatiker sowie die Sprache der Juristinnen und Juristen. Er muss sich natürlich auch in beiden Gebieten auskennen und sich für beide Welten interessieren. Er muss wissen, welche Vorbehalte die Informatikerinnen und Informatiker gegenüber dem Recht und welche Vorbehalte die Juristinnen und Juristen gegenüber der Informatik haben. Zudem muss er in beiden Gebieten stets die aktuellen Entwicklungen im Auge behalten.

Welche Themen beinhaltet die Rechtsinformatik?

Die Professur umfasst nicht nur Rechtsinformatik, sondern explizit Rechtsinformatik und IT-Recht. Ich verstehe unter Rechtsinformatik einerseits Software für Juristinnen (z.B. Document Automation, Recherchesoftware oder auch Software zur Auswertung von Rechtstexten wie beispielsweise Urteile oder Verträge) und andererseits Software, die die Tätigkeit von Juristen weitgehend übernehmen und in seltenen Fällen sogar ersetzen kann (z.B. Chatbots, die zum Schluss eine Beschwerde erstellen oder von einer solchen abraten). Hinzu kommt das IT-Recht, also die rechtliche Regelung der Informationstechnologie. Dazu gehören das Softwarerecht, Datenschutzrecht, Informationssicherheitsrecht, Wettbewerbsrecht, Lizenzrecht, Überwachungsrecht, aber auch Elemente des Medienrechts sowie des Verfassungs- und Verwaltungsrechts.

Inwiefern stellt die Digitalisierung für die Rechtswissenschaft eine Herausforderung dar?

Die Schweizer Rechtswissenschaft hat bisher nur wenig von den Möglichkeiten der Digitalisierung Gebrauch gemacht. Das führt teilweise dazu, dass andere (z.B. Journalistinnen oder Politikwissenschaftler) damit beginnen, das Recht mit digitalen Mitteln zu untersuchen. So war es zum Beispiel ein Journalist, der als erster untersucht hat, inwiefern die Parteimitgliedschaft von Richtern das Ergebnis von Asylentscheiden beeinflusst. Das betroffene Gericht hat zunächst gesagt, der Journalist verstehe zu wenig von Recht und habe deshalb Äpfel mit Birnen verglichen. Danach war es während einigen Jahren ruhig, bis ein Jurist die Untersuchung wiederholt und im Wesentlichen bestätigt hat. Wenn die Rechtswissenschaft weiterhin darauf verzichtet, digitale Methoden einzusetzen, werden dies andere Disziplinen übernehmen. Die Herausforderung ist also, digitale Kompetenzen in das Rechtsstudium zu bringen.

Gibt es auch positive Entwicklungen?

Diese neue Professur für Rechtsinformatik und IT-Recht ist sicherlich eine positive Entwicklung. Auch in Zürich wird demnächst eine Professur für Legal Tech besetzt, das ist natürlich sehr erfreulich.

Wo steht die Schweiz in Sachen Legal Tech?

Einerseits sind einige Start-ups vorhanden, die erstaunlich viel Kapital haben, bisher aber keinen Franken verdient haben. Dann gibt es andere, die in bestimmten Nischen (zum Beispiel im medizinischen Versicherungsrecht) spannende Produkte und damit auch Erfolg haben. Es wird interessant sein, zu beobachten, ob diese Lösungen auch für andere Rechtsbereiche adaptiert werden können. Teilweise wird besonders von Medien aber vieles behauptet, was noch lange nicht Realität ist. Weder Anwältinnen und Anwälte noch Richterinnen und Richter werden durch künstliche Intelligenz ersetzt. Das wird schon deshalb nicht passieren, weil das Recht viel zu unexakt ist und diese Unexaktheit bzw. Einzelfallabhängigkeit häufig auch gewollt ist.

Was läuft Ihrer Meinung nach schief in Bezug auf die digitale Transformation des Schweizer Rechts?

Bisher wurde die Digitalisierung des Rechts an Hochschulen nur wenig behandelt. Es werden zwar teilweise Weiterbildungen angeboten, im regulären Jus-Studium ist die Digitalisierung aber kaum ein Thema. Teilweise besteht zwar die Möglichkeit, Kurse in Data Science o.ä. zu besuchen, diese werden Jus-Studierenden aber häufig nicht angerechnet. Hinzu kommt, dass sich viele auf die Anwaltsprüfung fokussieren und auch deshalb keinen Anreiz haben, sich für digitale Themen zu engagieren. Im Bereich der Justiz ist der elektronische Rechtsverkehr zwar seit vielen Jahren möglich, wird aber nur sehr wenig genutzt. Zunächst konnten Gerichte von Anwältinnen und Anwälten verlangen, digital übermittelte Dokumente noch in Papierform nachzureichen. Diese Bestimmung wurde zwar aufgehoben, aber zu diesem Zeitpunkt haben sich alle schon damit abgefunden, weiterhin per Post zu kommunizieren. Kürzlich habe ich auch gehört, der elektronische Rechtsverkehr funktioniere deshalb nicht, weil die Post so zuverlässig sei. In anderen Ländern, wo die Post häufig nicht ankommt, sind die Vorteile des elektronischen Rechtsverkehrs natürlich umso grösser. In diesem Bereich wird sich in den kommenden Jahren aber einiges tun, namentlich mit dem Projekt Justitia 4.0. Es ist vorgesehen, dass Gerichte und Rechtsanwältinnen/Rechtsanwälte zwingend über das E-Justiz-Portal kommunizieren müssen.

Wie kann man Ihrer Ansicht nach den Schutz der Privatsphäre in einer digitalisierten Welt gewährleisten?

Wichtig ist, dass die Menschen wissen, was mit ihren Daten gemacht werden kann und gemacht wird. Hier bestehen sicher noch Lücken. Aber man kann auch beobachten, dass viele Menschen sehr wohl wissen, was alles mit den Daten gemacht werden kann und die Daten trotzdem zur Verfügung stellen. Auch ich nutze viele Dienste, bei denen ich weiss, dass sie meine Daten zum Beispiel für zielgerichtete Werbung einsetzen. Mich stört zielgerichtete Werbung nicht mehr als andere Werbung. Weil mich beides stört, habe ich Werbeblocker installiert, die recht gut funktionieren.

Was braucht es, damit die E-ID auch in der Schweiz endlich an den Start kommt?

Das wuchtige Nein hat mich erstaunt, aber rückblickend war es der richtige Entscheid. Er hat Platz für eine bessere Lösung geschaffen. Sicher wurde das eine oder andere Projekt etwas zurückgeworfen, aber ich denke nicht, dass z.B. E-Government jetzt schon deutlich weiter wäre, wenn das E-ID-Gesetz angenommen worden wäre. Jetzt wird ein neuer Entwurf erarbeitet und ich bin zuversichtlich, dass dieser besser ist und dass die E-ID mit zwei Jahren Verzögerung kommen wird. Die Vernehmlassung für das neue E-ID-Gesetz soll im Mai 2022 starten.

Sind Sie optimistisch, dass es angenommen wird?

Es sieht danach aus, dass die Bedenken des Volkes beim neuen Gesetzesentwurf aufgenommen werden. Ich gehe davon aus, dass es kein Referendum mehr braucht, weil man eine Lösung vorsieht, in der der Staat eine wichtigere Rolle hat.

Wie stellen Sie sich ein vollständig digitalisiertes Rechtssystem vor?

Das Rechtssystem wird nach meiner Einschätzung nie vollständig digitalisiert sein. Zwar wird in 7-8 Jahren vieles papierlos sein, was heute noch papierbasiert läuft. Aber Gerichtsverhandlungen werden in gewissen Bereichen (z.B. Familienrecht oder Strafrecht) auch weiterhin mit Menschen in einem Raum durchgeführt werden. Die letzten 20 Monate haben uns allen gezeigt, was alles fehlt, wenn man Sitzungen durch Videokonferenzen ersetzt. Gleichzeitig haben wir auch erfahren, was eben doch alles möglich ist und dass Videokonferenzen in gewissen Bereichen eine gute Alternative sind. Hier kann ich mir vorstellen, dass auch Gerichte oder Parlamente in Zukunft teilweise in dieser Form verhandeln bzw. debattieren. Bei der nächsten Pandemie sollte das Parlament jedenfalls fähig sein, trotz Versammlungsverbot weiterhin zu funktionieren.

Welche Themen behandeln Sie mit ihren Studierenden?

Ich möchte Rechtsthemen vermitteln, die für die digitale Verwaltung und Wirtschaft relevant sind.

Wie bereiten Sie die Studierenden auf die grundlegenden, digitalen Veränderungen im Rechtssystem vor?

Da an der Berner Fachhochschule keine Juristinnen und Juristen ausgebildet werden, behandeln wir auch weniger die digitalen Veränderungen im Rechtssystem. In der Lehre fokussieren wir uns auf das IT-Recht.

Warum ist Ihnen Open Access so wichtig?

Generell halte ich es für selbstverständlich, dass aus Steuern finanzierte Forschungsarbeit für die Steuerzahler zugänglich ist. Das gilt für sämtliche Wissenschaftsbereiche. In der Rechtswissenschaft kommt hinzu, dass ein grundrechtlicher Anspruch auf Zugang zum Recht besteht. Der Zugang zum Recht wird unbestrittenermassen verbessert, wenn auch Nichtjuristen und -juristinnen auf juristische Literatur zugreifen können. Häufig wird behauptet, dass Zugang zu wissenschaftlicher Literatur ohnehin nur für die Wissenschaftlerinnen und Wirtsschaftler der entsprechenden Disziplin relevant sei. Das sehe ich ganz anders. So habe ich beispielsweise für meine Habilitation (Recht und Medizin am Lebensende) sehr viele medizinische Artikel gelesen. Natürlich habe ich nicht alles verstanden. Die Fragestellung und die Ergebnisse sind aber in der Regel auch für Fachfremde, die sich etwas damit beschäftigen, verständlich. Und wenn man über rechtliche Aspekte der Palliativmedizin oder über die verschiedenen Formen der Sterbehilfe schreibt, ist es aus meiner Sicht unerlässlich, sich auch mit medizinischer Literatur auseinanderzusetzen. Das ist aber nur möglich, wenn man Zugang zu dieser Literatur hat.

Mithilfe von Smart Contracts könnte man juristische Vorgänge automatisieren. Was halten Sie davon?

Smart Contracts ist ein schöner Begriff, der viele falsche Assoziationen weckt. Smart Contracts sind in der Regel nicht smart und auch nicht Contracts. Es sind meistens einfache Wenn-dann-Algorithmen, die allenfalls auf einer vertraglichen Grundlage basieren. Also zum Beispiel: Wenn die Ware beim Besteller eintrifft, wird automatisch das auf einer Plattform hinterlegte Geld dem Verkäufer überwiesen. Sowohl mit Smart Contracts als auch mit der Blockchain generell will man häufig Vertrauensprobleme lösen. In Einzelfällen ist das sicher sinnvoll und hilfreich. In vielen Fällen besteht aber gar kein Vertrauensproblem oder aber es wird durch die Technologie nicht behoben. Ein schönes Beispiel sind Temparaturmessungen bei Lieferketten. Mithilfe der Blockchain soll lückenlos nachvollziehbar sein, ob eine Ware während der gesamten Lieferkette nicht zu warm geworden ist. Warum soll ich aber dem Thermometer trauen? Wer bestätigt, dass tatsächlich das korrekte Thermometer die Daten an die Blockchain schickt? Und wer schaut, dass das Thermometer tatsächlich in der Ware und nicht in einem Kühlfach steckt? Hier sehen wir, dass die Aufzeichnung von Temperaturen auf der Blockchain das Vertrauensproblem nicht wirklich lösen kann.

Smart Contracts werden den Juristen also nicht die Jobs wegnehmen.

Nein, die Blockchain und Smart Contracts werden Anwälte nicht arbeitslos machen. Sie werden auch sonst nicht wahnsinnig viel verändern. Generell besteht aber die Hoffnung, dass Legal Tech den Zugang zum Recht verbessern kann. Das sind aber häufig nicht Fälle, die heute bei Anwälten liegen, sondern Fälle, in denen das Recht heute gar nicht durchgesetzt wird. Zum Beispiel, weil die Anwalts- und/oder Gerichtskosten im Vergleich zum Streitwert viel zu hoch sind. Wenn diese Kosten mithilfe von Rechtsinformatik-Mitteln teilweise ganz wegfallen und teilweise sinken, kann das Recht so auch für Fälle mit kleinem Streitwert bzw. für Menschen mit wenig finanziellen Mitteln zugänglich werden.

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