Gesundheitsdaten-Ökosysteme

Das Eldorado für medizinischen Fortschritt

Uhr
von René P. Buholzer, Geschäftsführer, Interpharma

Digitale Gesundheitsdaten-Ökosysteme sind das Fundament eines nachhaltigen Gesundheitswesens. Ein Hauptgrund dafür ist: Sie sind der Nährboden für medizinische Innovation und ­Fortschritt. Die Pandemie hat das nochmals verdeutlicht.

Selten stand die medizinische Forschung derart im Fokus wie zuletzt. Was hilft im Kampf gegen das Virus Covid-19? Wie kommen wir zu medizinischem Fortschritt? Die Antwort wurde mehrfach gegeben. Am Anfang steht ein vermuteter Zusammenhang. Zum Beispiel: Menschen mit der Blutgruppe O stecken sich weniger häufiger an. Nun brauchen die Wissenschaftler für Fortschritt vor allem eines: Daten. Und zwar in einer ausreichenden Menge, damit allgemeingültige Aussagen gemacht werden können. Die bekommen sie in digitalen Gesundheitsdatenökosystemen.

Früher war der Goldstandard, Daten in klinischen Studien zu gewinnen. Die Digitalisierung bietet heute neue Möglichkeiten, wichtige Gesundheitsdaten zu erheben, zu speichern und nutzbar zu machen. In diesen Gesundheitsdaten-Ökosystemen zirkulieren neben Daten aus klinischen Studien auch Realweltdaten. Also Daten, die im klinischen Alltag anfallen, wenn der Arzt beispielsweise die Blutgruppe im elektronischen Patientendossier oder einem Informationssystem des Spitals einträgt. Oder wenn die Patientin ihr Fieber zuhause digital misst.

Dezentrale Studien bewähren sich

So lassen sich etwa Daten über Blutgruppen und die Infektionen einfacher verlinken und aggregieren. Gesundheitsdaten-Ökosysteme bieten den Forschenden weitere Vorteile – von denen auch Patienten profitieren. In dezentralen Studien müssen sie nicht in ein Spital gehen, sondern können ihre Daten zuhause erfassen. Insbesondere in der Pandemie hat sich das bewährt. Auch ermöglicht der Zugriff auf Realweltdaten synthetische Kontrollarme. Für klassische klinische Studien werden Kontrollgruppen gebildet, Patienten erhalten dort Placebos. Gerade bei schweren Krankheiten ist das ethisch heikel. Können Forschende auf anonymisierte Daten aus EPDs zugreifen, lassen sich Kontrollgruppen ohne Placebo-Behandlung bilden. Zudem erhöhen digitale Gesundheitsdaten-Ökosysteme die Wahrscheinlichkeit, dass Forschende zu ausreichend Daten für generalisierbare Aussagen kommen – was beispielsweise bei seltenen Krankheiten eine Herausforderung ist. Zentral für die Forschenden sind hierbei keine Daten, die Rückschlüsse auf einzelne Personen ermöglichen. Sondern solche, die sich anonymisieren und zu möglichst grossen Sets verknüpfen lassen.

Was steht im Weg?

Der Nutzen für Wissenschaft und Gesellschaft von Gesundheitsdatenökosystemen ist unbestritten, viele Länder investieren stark in den Aufbau. Die EU hat jüngst ihren Europäischen Gesundheitsdatenraum präsentiert. Der Aufbau eines solchen Systems setzt eine umfassende, kohärente Strategie voraus, die verschiedene Barrieren aus dem Weg räumt. So braucht es neben einem robusten Datenschutz beispielsweise ein rechtliches Rahmenwerk, dass die Nutzung von Daten mit klaren Bedingungen ermöglicht. Zentraler Teil sollte eine unabhängige Koordinationsstelle sein, die den Zugriff auf Realwelt- und anderen Daten orchestriert. Finnland hat einen One-Stop-Shop errichtet, Findata, die EU geht in dieselbe Richtung. Ebenfalls wichtig sind ein einheitlicher Identifikator und ein einfaches Einwilligungsverfahren. Für die Forschung wäre hier ein Widerrufsrecht wie im finnischen System ideal.

Genauso wichtig wie ein One-Stop-Shop ist für die Forschung, dass es strukturierte Daten in angemessener Qualität gibt. Dafür müssen gemeinsame Standards für die Interoperabilität und technologische Infrastrukturen wie etwa das EPD mit der entsprechenden Finanzierung bestehen. Und vor allem braucht das System Anreize, dass Daten strukturiert erhoben werden. Denn das ist äusserst aufwendig.

Während andere Länder eine solche Strategie umsetzen, fehlt diese in der Schweiz. Rankings wie der Digital Health Index der Bertelsmann-Stiftung zeigen, dass fast nirgends Gesundheitsdaten so wenig genutzt werden wie hier. Was das für die Forschung bedeutet, hat BAK Economics aufgezeigt: Patente im Pharma-Bereich mit digitalen Elementen werden nicht in der Schweiz, sondern den USA oder Asien mit stärkerer Dynamik gemeldet. Und so gross das Interesse der Forschung am Zusammenhang zwischen Blutgruppe und Covid-Infektion ist – zahlreiche Studien gibt es mittlerweile zum Thema, noch gibt es aber keine abschliessende Meinung: Beiträge von Forschenden mit Daten aus der Schweiz sucht man vergebens.

Will die Schweiz auch in Zukunft einen kompetitiven Forschungsstandort und ein nachhaltiges Gesundheitswesen haben, muss sie jetzt handeln. Wir brauchen den politischen Willen, alle betroffenen Akteure einzubeziehen und gemeinsam eine Strategie zu erarbeiten und umzusetzen. Die Schweiz hat die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Gesundheitsdatenökosystem. Sie muss aber jetzt handeln.

Webcode
DPF8_266255