"Die Lehre wird interaktiver und intensiver"
In Zeiten der künstlichen Intelligenz dürften Austausch und Reflexion in der Lehre im Vergleich zur Wissensvermittlung mehr Gewicht einnehmen. Die Universitäten sollten sich zudem klar darüber werden, welche Kompetenzen nicht durch KI ersetzt werden können. Dies postuliert ein Positionspapier der Digital Society Initiative der UZH.
Wenn Künstliche Intelligenz (KI) Texte schreibt, die kaum mehr von jenen aus Menschenhand zu unterscheiden sind, oder ein Programm von Google DeepMind das Level für eine Silbermedaille an der Mathematik-Olympiade erreicht, dann muss die Lehre an den Universitäten neu gedacht werden. "Wir können nicht so weiterfahren, wie wir es lange Zeit gewohnt waren", sagt Abraham Bernstein, Direktor der Digital Society Initiative (DSI) der Universität Zürich (UZH) und Co-Autor eines Positionspapiers des DSI Strategy Lab zu Künstlicher Intelligenz in Bildung, Forschung und Innovation.
Das Grundsatzpapier enthält Szenarien, wie sich Lehre und Forschung angesichts der raschen Entwicklung von KI verändern könnten und formuliert Empfehlungen, wie die Universität Zürich und Universitäten allgemein damit umgehen können und sollten. "Wir wissen nicht genau, wo die Reise hingeht", sagt Bernstein. Die Entwicklung zwinge die Universitäten aber, sich jetzt Gedanken über die nahe Zukunft zu machen: "Wie sieht unsere Lehre aus in einer Zeit, in der jede und jeder mit einer KI zusammenarbeiten kann?"
Weitreichende Empfehlungen
Nach Ansicht der Expertinnen und Experten, die die Szenarien und Empfehlungen in einem mehrstufigen Prozess seit vergangenem Sommer erarbeitet haben, ist eine Antwort klar: Die Lehre wird sich für alle Beteiligten, Dozierende und Studierende, grundlegend ändern. Entsprechend sind auch die Empfehlungen umfassend: Sie reichen von der Form und dem Inhalt einzelner Lehrveranstaltungen bis zur Art der Abschlüsse und der Anpassung der baulichen Infrastruktur.
"Die Lehre wird interaktiver und intensiver werden", ist Bernstein überzeugt. Reine Wissensinhalte können statt in grossen Vorlesungen vermehrt in digitalen Formaten, wie Videos oder interaktiven Lerneinheiten, vermittelt werden. In den Lehrveranstaltungen dürften Formate, die den Austausch zwischen Dozierenden und Studierenden in den Vordergrund stellen, grösseres Gewicht erhalten.
So könnte eine Lehrveranstaltung in Zukunft aussehen. Das Bild wurde mit der Generativen Künstlichen Intelligenz Dall-E3 erzeugt. Die Aufgabe lautete: Bitte erzeuge ein Bild einer Lehrveranstaltung in der nahen Zukunft. Das Interieur soll modern, aber nicht science-fiction-mässig sein. Zeige eine Dozentin in einer engagierten Diskussion mit einer diversen Gruppe von Studierenden. Sie sollten in einem Halbkreis sitzen und Tablets nutzen. (Source: UZH)
Bernstein nennt als Beispiel den "flipped classroom": Die Wissensvermittlung passiert dabei über Videos oder Online-Inhalte. In der eigentlichen "Vorlesung" steht die aktive Auseinandersetzung mit der so angeeigneten Materie im Vordergrund. Je nach Stufe beantwortet der Dozent, die Dozentin Fragen der Studierenden, löst mit ihnen Aufgaben, diskutiert mit fortgeschrittenen Studierenden gemeinsam die Materie oder bearbeitet Fallstudien.
"Es gibt vieles, das wir weiterhin üben müssen, um unsere kognitive Entwicklung zu unterstützen, auch wenn es Maschinen besser können", sagt Bernstein.
Mehr Austausch – stärkere Individualisierung
In diesem verstärkten Austausch mit Dozierenden sieht Bernstein einen Mehrwert, den die Universität auch im Umfeld von digitalisierten Tools nach wie vor haben wird. KI-Tools bieten hier eine Chance, diesen Austausch auch in grossen Gruppen individualisierter zu gestalten. "Wenn wir dahin kommen, dass jede und jeder eine KI auf dem iPad hat, die ihm personalisiertes Feedback gibt, während wir alle die Übung machen, können wir besser auf die Unterschiede zwischen den Studierenden eingehen und sie gezielter unterstützen."
Für die Dozierenden heisst dies, sich auf neue Lehrformate einzulassen. Dies wird aber auch mit Aufwand für die Dozierenden verbunden sein, ist Bernstein überzeugt. Sie müssten nun in den kommenden Jahren die Transformation der Lehrveranstaltungen bewältigen, die danach anders aussehen würden, als heute. Hier brauche es auch ein Verständnis der Universität für die Dozierenden, die dafür Zeit benötigten.
Kritisches Denken bewahren
Markus Christen, Geschäftsführer der DSI und Mitautor der Empfehlungen, betrachtet den Wandel als graduellen Prozess, der bereits begonnen hat. "Vieles passiert auf der Ebene der einzelnen Dozierenden", sagt er. Je nach Disziplin werden heute schon KI-Tools stärker in der Lehre eingesetzt. Auch er hat die Leistungsbewertung in seinen Lehrveranstaltungen angepasst. «Statt selbst einen Essay zu schreiben, müssen die Studierenden jetzt durch geeignete Prompts von einem KI-Tool einen Text schreiben lassen und dies kritisch reflektieren.» Bewertet wird so nicht nur der Inhalt des Essays, sondern auch dessen kritische Überprüfung.
Die Fähigkeit zu kritischem Denken ist eine der Kompetenzen, welche gemäss den Empfehlungen in der universitären Bildung erhalten bleiben sollen. "Es gibt vieles, das wir weiterhin üben müssen, um unsere kognitive Entwicklung zu unterstützen, auch wenn es Maschinen besser können", so Bernstein. An der Schule werde noch immer Kopfrechnen gelernt, auch wenn Computer viel besser und schneller rechnen als Menschen. Aber das mathematische Verständnis helfe uns, Rechenresultate, die uns ein Computer liefert, auf ihre Plausibilität hin zu prüfen. Genauso müssten wir die Fähigkeit bewahren, einschätzen zu können, ob das, was uns eine KI liefert, plausibel ist.
Neben der Fähigkeit zu kritischer Reflexion nennt das Papier drei weitere so genannt "KI-harte" Kompetenzen, die beibehalten werden sollen: Einerseits sind dies soziales Lernen und Teamwork sowie das Handeln unter Unsicherheit. Daneben brauche es grundlegende technische Fähigkeiten und ein Verständnis für die Funktionsweise von KI-Systemen, um unter anderem mit dem Output von KI-Systemen umgehen zu können.
"Die Universitäten müssen Kompetenzen und Fähigkeiten im Umgang mit KI bewahren, damit wir nicht völlig von externen Anbietern abhängig werden.", so Christen.
KI als kritische Infrastruktur
Das Papier hat auch die Auswirkungen der KI auf die Forschung reflektiert. "Im Bereich Forschung ist es wichtig, dass wir als Universitäten verstehen, was passiert", hält Markus Christen fest. KI-Tools werden zwar schon länger eingesetzt, sie entwickeln sich aber immer mehr zu einer kritischen Infrastruktur für die Forschung, und sollten von den Universitäten als solche aufgefasst werden, halten die Autorinnen und Autoren in den Empfehlungen fest.
Deshalb, so Christen, sei es für die Universitäten notwendig, Kompetenzen und Fähigkeiten im Umgang mit KI zu bewahren, damit man nicht völlig von externen Anbietern abhängig werde. Dazu müssten auch Zugang zu und Nutzungsrechte für Daten und Softwarelizenzen geregelt werden. Das sollte aber nicht auf der Ebene einzelner Universitäten, sondern im Verbund geschehen, sagt Christen. "Hier müssen sich alle Hochschulen gemeinsam Gedanken machen - zum Beispiel auf Ebene von "swissuniversites"."
Autonomer Akteur
KI werde zunehmend ein autonomer Akteur in der Scientific Community werden, lautet eine Voraussage im Positionspapier. Etwa indem KI-Tools Modelle und Szenarien erstellen und zunehmend auch selbst relevante wissenschaftliche Fragestellungen empfehlen. Die Universitäten müssten frühzeitig solche Prozesse und ihre Auswirkungen auf die Rolle der Forschenden erkennen und sie zielgerecht und proaktiv mitgestalten.
Die Empfehlungen im Positionspapier sind jeweils an spezifische Adressaten, von den Studiendekanaten bis zu Behörden oder Hochschulinstitutionen wie "swissuniversities", gerichtet. "Die Umsetzung von Massnahmen oder Initiativen liegt nicht in der Hand der DSI", sagt Christen zum weiteren Vorgehen. Das Positionspapier des Strategy Lab diene dazu, die Akteure in ihrem Handeln zu unterstützen. Dass Universitäten die Art, wie sie Wissen vermitteln und prüfen, grundsätzlich überdenken müssten, das zeichne sich schon seit längerer Zeit ab, sagt Bernstein. "Mit dem Auftreten von ChatGPT ist die Notwendigkeit, sich dieser Grundsatzfrage zu stellen, nun wohl allen klar geworden."
Dieser Beitrag ist zuerst bei "UZH News" erschienen.