Wie Gerichtsentscheide das Beschaffungswesen (nicht) beeinflussen
Behörden dürfen grosse Aufträge freihändig vergeben, wenn keine alternativen Anbieter dafür in Frage kommen. Wie sie dies belegen müssen, gab an der diesjährigen IT-Beschaffungskonferenz zu reden. Ausserdem ging es um Open Source, Usability und eine Mitgliedschaft, die vielleicht gar keine ist.
Unter dem Motto "IT-Beschaffung 2.0: Die Handbremse lösen" ist am 27. August 2024 die diesjährige IT-Beschaffungskonferenz auf dem Berner Von-Roll-Areal über die Bühne gegangen. Es war die 13. Ausgabe der Fachtagung. "Doch erscheint uns das Thema keineswegs erschöpft", sagte Thomas Myrach, Professor am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität Bern, in seiner Begrüssungsrede. Die rund 400 interessierten Teilnehmenden, die den Event der Uni, der Berner Fachhochschule sowie diverser Behörden besuchten, bestätigen dies deutlich, fügte er hinzu.
Ein Urteil und seine Folgen
In der Schweiz gilt bereits seit 2021 ein revidiertes Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB). Ob damit ein Paradigmenwechsel einhergegangen sei, könne man diskutieren, kommentierte Marc Steiner, seit 2007 Richter am Bundesverwaltungsgericht; selber vertrat er die Ansicht, es habe durchaus ein solcher stattgefunden, denn bei Vergabeentscheiden spielten neu auch mögliche Abhängigkeiten oder unerwünschte Folgen für die Lieferkette eine Rolle. "Geiz ist nicht mehr geil", fasste er zusammen.
Den Schwerpunkt seines Vortrages legte Steiner auf ein letztes Jahr gefälltes Bundesgerichtsurteil, welches das Beschaffungswesen direkt betrifft. Dabei ging es um einen 2009 freihändig vergebenen Beschaffungsauftrag an Microsoft mit einem Volumen von 42 Millionen Franken, gegen den ein konkurrierender Anbieter Einspruch erhob. Im Kern geht es beim Gerichtsentscheid um die Frage, wer für oder gegen einen freihändigen Vergabeentscheid Beweise vorlegen muss. Als sich das Bundesgericht erstmals mit dem Fall beschäftigte, kam es zum Schluss, der Anbieter, der einen Beschaffungsentscheid anfechtet, das Vorhandensein einer zufriedenstellenden gleichwertigen Alternative belegen muss. Mehrere Rechtsexperten kritisierten dieses Urteil und kantonale Gerichte wichen davon ab, wie Steiner ausführte. Ein Problem sei die Dokumentation von freihändigen Vergabeentscheide. Diese sei mitunter "nicht nur dünn, sondern rechtswidrig dünn", erklärte der Richter. Manchmal sei darin der genaue Zweck der beauftragten Lösung so ungenau beschrieben, dass ein konkurrierender Anbieter die Möglichkeit nicht habe, eine alternative Lösung für den verlangten Zweck zu belegen.
Marc Steiner, Richter am Bundesverwaltungsgericht. (Source: zVg)
Dies sah 2023 auch das Bundesgericht ein. Es kam auf sein Urteil zurück und verfügte neu, dass die Vergabestelle das Fehlen alternativer Auftraggeber zu beweisen habe. "Der lange Atem wird gelegentlich belohnt", lobte Steiner.
Für Vergabestellen bedeutet diese Änderung, dass sie freihändige Entscheide genauer begründen und dokumentieren müssen. "Es gibt noch Möglichkeiten für Freihänder, aber es wird schwieriger", erklärte Thomas Fischer, Vorsitzender der Beschaffungskonferenz des Kantons Bern und Leiter des Rechtsdiensts des Berner Amts für Informatik und Organisation (KAIO), in einer Paneldiskussion. Claudia Schneider Heusi, Inhaberin einer Anwaltskanzlei und Dozentin, pflichtete ihm bei: Es sei machbar, freihändige Entscheide zu belegen, etwa mit Marktabklärungen oder technischen Gutachten. Eine Marktabklärung müsse fair, transparent und für potenzielle Anbieter zugänglich sein, führte sie aus. Wie genau eine Marktabklärung zu erfolgen habe, sei im Gesetz jedoch nicht vorgeschrieben. Als Möglichkeit nannte Fischer eine "Request for Information" (RFI), also eine Informationsanfrage, die Beschaffungsstellen zumindest in der alten Version der Simap-Plattform publizieren konnten (in der neuen Version soll diese Funktion wohl auch bald verfügbar sein). Auch eine Google-Recherche könne eine Marktabklärung sein, wenn man sie gründlich dokumentiere. Steiner ergänzte, eine gute Dokumentation diene auch der Governance, der Compliance und der Korruptionsbekämpfung.
Claudia Schneider Heusi, Marc Steiner und Thomas Fischer während der Podiumsdiskussion. (Source: zVg)
Unter den Ersten – und doch nicht dabei
Einen Einblick in die IT-Beschaffungen des Kantons Bern gab Finanzdirektorin und Mitte-Politikerin Astrid Bärtschi. Sie schilderte das "unbernische Tempo", mit dem sich der Kanton auf das neue Beschaffungsrecht einstellte. 2019 wurde die revidierte Interkantonale Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen (IVöB 2019) erlassen. "Wir waren davon überzeugt und wollten rasch profitieren", erklärte Bärtschi. Die politischen Diskussionen seien wohl einfacher gewesen als in anderen Kantonen. Seit Februar 2022 gilt im Kanton Bern das auf dieser Vereinbarung aufbauende Beschaffungsrecht. Damit war Bern der dritte Kanton, der sich der Vereinbarung anschloss, sagte Bärtschi.
Allerdings stimmt das nicht ganz. Der Kanton Bern ist nämlich offiziell noch nicht Mitglied der IvöB, wie Bärtschi ausführte. Der Grund: Die Vereinbarung legt das Verwaltungsgericht als erste Instanz für Beschwerden fest. Im Kanton Bern fungierte jedoch bislang der Regierungsstatthalter als erste Beschwerdeinstanz, und das kantonale Verwaltungsgericht habe sich aufgrund des zu erwartenden Mehraufwandes dagegen gewehrt, neu diese Rolle zu übernehmen, so Bärtschi. Das führte zu einem seltsam anmutenden Seilziehen: Der Berner Regierungsrat wollte sich den neuen Regeln beugen und den zweistufigen Beschwerdeprozess abschaffen, der Grosse Rat war dagegen; die anderen an der IVöB beteiligten Kantone lehnten es ab, Bern als Mitglied aufzunehmen, solange der Kanton am zweistufigen Beschwerdeverfahren festhielt; und schliesslich erklärte das Berner Verwaltungsgericht wiederum, Bern sei der Vereinbarung beigetreten. Niemand wisse wirklich, ob Bern nun Mitglied sei oder nicht, fasste die Finanzdirektorin zusammen. Früher oder später werde wohl das Bundesgericht sagen müssen, was Sache ist.
Praktisch hat das jedoch kaum Auswirkungen: Die Bestimmungen der IVöB gelten als kantonales Recht und werden angewandt. Bei Änderungsentscheiden der Vereinbarung jedoch dürfe Bern nicht mitreden.
Astrid Bärtschi, Finanzdirektorin des Kantons Bern. (Source: zVg)
Die Einführung der neuen Regeln begleitete der Kanton unter anderem mit Schulungen und einer Hotline. Rückblickend habe sich dies gelohnt. Die Aussage untermauerte die Regierungsrätin mit Zahlen: So seien 2022 noch 17 Beschwerden zu Beschaffungsentscheiden eingegangen (5 Prozent aller Zuschläge), waren es 2023 noch 11 (2,5 Prozent aller Zuschläge). "Unsere Beschafferinnen und Beschaffer machen einen guten Job, und der Markt anerkennt das", fasste Bärtschi zusammen.
IT-Beschaffungen finden im Kanton Bern auf drei Ebenen statt: Das Amt für Informatik und Organisation ist für die ICT-Grundversorgung zuständig, also etwa Arbeitsplätze, Netzwerkausrüstung oder Drucker. Für die Konzernapplikationen sind sowohl Fachämter als auch das KAIO zuständig. Die amts- und organisationsspezifischen Lösungen beschaffen die jeweiligen Fachämter.
Dank fundierten strategischen Grundlagen habe man gute Governance-Strukturen schaffen können, erklärte Bärtschi. Wo immer möglich, beschaffe man zusammen, auch wenn das für die Beteiligten bedeute, auf Sonderwünsche verzichten zu müssen und Beschaffungen längerfristig zu planen.
Mehr gemeinsame Beschaffungen wünschte sich Bärtschi auch auf interkantonaler und Bundesebene. Für Steuerzahlende hole man das beste heraus, "indem wir der Marktmacht der Monopolisten eine grosse Nachfragemacht entgegenhalten". Sie rief den Bund und die Organisation Digitale Verwaltung Schweiz (DVS) dazu auf, dabei die Führung zu übernehmen.
Neues wagen
In zehn Fachsessions konnte das Publikum im Verlauf der Tagung in spezifische Themen eintauchen. So gab es etwa eine Vertiefung in Usability Experience (UX), die laut der Referierenden beim Erstellen von Fachapplikationen oder Behördenwebsites oft vergessen gehe. Dabei sorge eine bessere UX nicht nur für mehr Zufriedenheit unter den Mitarbeitenden, sondern auch für höheres Vertrauen seitens der Bevölkerung, wie Florian Divis, UX-Designer bei Adnovum, ausführte.
Florian Divis, UX-Designer bei Adnovum. (Source: zVg)
Eine weitere Gruppe Referierender stellte das Allianzmodell für Beschaffungen vor. Es soll im Kanton Basel-Landschaft für ein Bauprojekt demnächst zur Anwendung kommen und integriert alle Beteiligten von Projektanfang an. Es schaffe gleich lange Spiesse unter den Beteiligten mit dem Ziel, "dass nicht jeder nur seine eigenen Interessen verfolgt", erklärte Rechtsanwalt Mario Marti. Doch während das Modell für die Baubranche durchaus interessant ist, scheint noch nicht klar, ob und wie es für IT-Projekte nützlich sein könnte, wie die Diskussion am Schluss der Fachsession zeigte.
Mario Marti, Rechtsanwalt und Partner in der Anwaltskanzlei Kellerhals Carrard. (Source: zVg)
Zum Abschluss der Tagung ging es um Open Source respektive um digitale Souveränität. In Deutschland fungiert das Zentrum Digitale Souveränität (Zendis) als Bindeglied zwischen der öffentlichen Verwaltung und dem Open-Source-Ökosystem, wie dessen Gründer Andreas Reckert-Lodde erklärte. Es fördere die Bereitstellung und Entwicklung quelloffener Software und biete konkrete Lösungen, um die Beschaffung von Open-Source-Software zu vereinfachen. Ein Praktisches Beispiel ist "Opendesk", eine auf quelloffenen Komponenten basierende Kollaborationslösung. Auf einer gemeinsamen Plattform tauschen sich die beteiligten Behörden aus und stellen ihre Applikationen zur Verfügung. Wer will, kann diese für seine eigenen Zwecke einsetzen. Sich finanziell zu beteiligen, lohne sich darum, weil man dann auch bestimmen könne, welche Funktionen umgesetzt werden sollen, erklärte Reckert-Lodde.
Gute Erfahrungen mit quelloffener Software teilte Daniel Brunner, Leiter Informatik beim Schweizerischen Bundesgericht. Lobend erwähnte er etwa, wie rasch Änderungswünsche oder Problemberichte seiner Behörde von den jeweiligen Betreuern der Open-Source-Software behandelt wurden. Man könne direkt auf den Source Code Einfluss nehmen, sagte er. Support für die Applikationen erhält das Bundesgericht zu 70 Prozent von einer Schweizer und zu 30 Prozent von einer bekannten deutschen Firma, erklärte der CIO, ohne aber Namen zu nennen. In diesem Bereich brauche es in Europa noch ein stärkeres Ökosystem, befand Reckert-Lodde in der Gesprächsrunde zum Schluss. "Als Staat sind wir ein grosser Auftraggeber, das sollten wir nutzen."
Andreas Reckert-Lodde, Gründer des Zentrums Digitale Souveränität (Zendis). (Source: zVg)
Die nächste IT-Beschaffungskonferenz findet am 27. August 2025 statt.
Open-Source-Software war auch eines der Themen an der Fachtagung Transform 2024. Was quelloffene Software für den Service Public leistet, erfahren Sie hier.