Digitale Zwillinge für mehr Gesundheit
Man stelle sich vor: Jede und jeder von uns hätte ein digitales Abbild, das auf eine Erkrankung hinweisen kann, noch bevor wir Symptome verspüren, und individuelle Verläufe und bestmögliche Behandlungen vorhersagen kann. Diese digitalen Patientenzwillinge sind längst keine Science-Fiction mehr.
Der digitale Zwilling ist vielen aus der Industrie bekannt. Hier wird das Konzept etwa genutzt, um Industrieanlagen zunächst virtuell zu simulieren, bevor man sie baut – so kann man Probleme bereits am Modell erkennen, bevor sie an der realen Anlage auftreten. Die Idee hinter einem Patientenzwilling ist ähnlich: Anhand einer Menge von Daten soll es ermöglicht werden, Krankheiten an der digitalen Repräsentanz zu erkennen, auch wenn die realen Patientinnen und Patienten noch gar keine Symptome verspüren.
Wie funktioniert das konkret? Ein digitaler Patientenzwilling soll individuelle Gesundheitsinformationen in Echtzeit sammeln. Die dafür benötigten Daten kommen aus verschiedensten Quellen: Neben Daten aus der medizinischen Bildgebung und dem Labor können das Vitalparameter sein, die über eine Smartwatch gesammelt werden; wichtig ist auch das Thema Medikation. All diese individuellen Gesundheitsinformationen werden in Echtzeit miteinander verknüpft und fortwährend mit Ergebnissen aus Populationsstudien, Daten spezifischer Krankheitsbilder sowie individuellen Krankheitsverläufen, Medikationen, Diagnostiken oder Therapien anderer Betroffener abgeglichen. Unter Berücksichtigung von medizinischen Evidenzen, gepaart mit klinischen Leitlinien und gesundheitsökonomischen Aspekten, ermöglichen sie ein ganzheitliches, individuelles, übergreifendes Vorsorge- oder Behandlungsregime.
Voraussetzungen für die Umsetzung der digitalen Patientensimulation sind die digitale Vernetzung von Krankenhäusern, strukturierte und annotierte Daten, die Entscheidungsbefugnis der Patientinnen und Patienten über ihre Daten und der Zugriff des medizinischen Fachpersonals auf den digitalen Patientenzwilling. Sind all diese Voraussetzungen erfüllt, so hat diese Technologie das Potenzial, die individuelle Gesundheitsversorgung zu revolutionieren und die Effizienz im Gesundheitswesen zu steigern.
Schon heute gibt es digitale Zwillinge einzelner Organe – etwa des Herzens und der Leber. Hier geht es darum, Therapien vorab zu simulieren und die präziseste individuelle Behandlung zu identifizieren. Im Falle von Leberkrebs kann es etwa eine Möglichkeit sein, die Krebszellen durch eine Operation zu entfernen. Die Chirurgen könnten die Operation am digitalen Zwilling virtuell durchführen und die verbleibende Leberfunktion beurteilen – und dann entscheiden, ob es sicher ist, die Operation am Menschen durchzuführen.
Überdies wird an der Entwicklung von Prototypen gearbeitet, die im Bereich der Strahlentherapie bei Tumoren schon vorab dank der vorliegenden Patientendaten vorhersagen können, ob Patientinnen und Patienten auf eine Therapie ansprechen oder nicht. So kann ein Übertherapieren vermieden und andere, wirksame Behandlungen gewählt werden.
Generell gilt für alle Elemente des digitalen Zwillings: Die Menge und die Qualität der Daten, die für Training und Validierung verwendet werden, sind von entscheidender Bedeutung. Denn je grösser die Menge an Qualitätsdaten, desto besser und präziser arbeitet das Rechenmodell.
Sicher ist der digitale Patientenzwilling eine langfristige Vision, deren Umsetzung in der klinischen Anwendung noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Das heisst aber nicht, dass es einfach abzuwarten gilt. Vielmehr geht es darum, die Voraussetzungen schon heute zu schaffen, und kontinuierlich die jeweils verfügbaren Teillösungen zu implementieren. Der digitale Patientenzwilling ist keine Science-Fiction mehr, sondern eine vielversprechende Technologie, die die individuelle Gesundheitsversorgung revolutionieren kann.