Nachgefragt bei Fabian Mösli

So kommt generative KI bei der Helvetia zum Einsatz

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von Joël Orizet und rja

Die Helvetia-Versicherung hat schon früh mit ChatGPT experimentiert und nutzt die KI von OpenAI inzwischen auch im Kundendienst. Fabian Mösli, Head Conversational & Marketing Automation von der Helvetia, spricht über die Chancen und Herausforderungen, die der Einsatz von generativer KI in der Versicherungsbranche mit sich bringt.

Fabian Mösli, Head Conversational & Marketing Automation, Helvetia Versicherungen. (Source: zVg)
Fabian Mösli, Head Conversational & Marketing Automation, Helvetia Versicherungen. (Source: zVg)

Die Helvetia setzt ChatGPT schon seit anderthalb Jahren im direkten Kundenkontakt ein. Genau genommen haben Sie das Sprachmodell von OpenAI in den hauseigenen Chatbot Clara integriert. Wie kam es dazu und welches Ziel verfolgen Sie damit? 

Fabian Mösli: Unsere digitale Assistentin Clara gibt es schon seit vielen Jahren, Helvetia lancierte nämlich die Chatbot-Initiative bereits 2017. Früher basierte Clara technisch auf Entscheidungsbäumen und konnte daher nur bei Anfragen helfen, auf die sie speziell vorbereitet worden war. Dies war eine wesentliche Einschränkung. Als OpenAI dann GPT-3.5 für die Integration bereitstellte, wussten wir sofort: Die Zeit ist reif, um Clara auf das nächste Level zu heben. Das Sprachmodell stattet Clara mit vielen neuen Fähigkeiten aus. Clara kennt unter anderem sämtliche Inhalte unserer Website auswendig. Gespräche müssen nicht mehr einer vorgegebenen Struktur folgen. Kunden können mit Clara viel natürlicher kommunizieren. Unser Ziel war es, mit komfortablen Auskünften und Self Services, die rund um die Uhr verfügbar sind, neue Massstäbe im Kundenservice zu setzen. Clara als digitale Assistentin dürfte in Zukunft aber auch andere Kanäle als den Chat bespielen können. Unser Ziel ist es, mit Clara über unsere vielfältigen Kontaktpunkte hinweg ein wesentlich umfassenderes Nutzererlebnis zu bieten.

Was hat sich im Kundendienst seit der Einführung von generativer KI verändert? 

Wir befinden uns noch in einer dynamischen Übergangsphase. Es wäre verfrüht, ein endgültiges Fazit zu ziehen, da die Integration von KI-basierten Lösungen ein kontinuierlicher Prozess ist. Wir haben noch viel vor. Was wir jedoch deutlich beobachten, ist eine stetige Entwicklung im Kundenverhalten. Kunden sehen Clara zunehmend als natürlichen Bestandteil ihres Beratungserlebnisses – sie ist für viele bereits ein fester und verlässlicher Kontaktpunkt. 

Wie hat sich der Umgang der User mit dem Chatbot verändert?

Besonders spannend ist, zu sehen, wie unsere Kunden immer vertrauter mit der Interaktion mit einer KI werden – für viele gehört sie bereits zum Alltag. Zu Beginn registrierten wir öfters stichwortartige Eingaben wie bei Google-Suchen. Inzwischen merkt man, dass sich Tools wie ChatGPT sowohl privat wie auch beruflich etablieren. Wir beobachten, dass die Erwartungen an digitale Services steigen. Kunden legen zunehmend Wert auf Schnelligkeit, Bequemlichkeit und Verfügbarkeit rund um die Uhr. Sie erwarten, dass KI-gestützte Systeme komplexe Anfragen präzise und personalisiert bearbeiten können. Unsere Nutzerinnen und Nutzer wünschen sich eine nahtlose Integration zwischen digitalen Self-Services und persönlicher Betreuung. Sie möchten die Flexibilität haben, einfache Anliegen selbst zu erledigen, aber bei Bedarf trotzdem schnell und unkompliziert menschliche Unterstützung erhalten. 

Wie wirkt sich der Einsatz von ChatGPT auf die Belegschaft im Kundendienst aus? 

Der Einsatz von KI in unserem Kundendienst hat bereits spürbare Auswirkungen gezeigt. Clara ist in vielen Fällen eine gute Alternative zum Anruf oder zum E-Mail an uns. Unsere digitale Assistentin Clara führt mittlerweile rund 15'000 Konversationen pro Monat und entlastet damit unser Personal bei Routine-Anfragen. Dadurch können sich unsere Mitarbeitenden im Kundendienst vermehrt auf komplexere Kundenbedürfnisse konzentrieren. Ein Beispiel, das perfekt für die Automatisierung geeignet ist, ist die Bestellung eines elektronischen Versicherungsnachweises für ein neues Fahrzeug – Clara erledigt dies rund um die Uhr, blitzschnell und ohne Wartezeiten. Das ist nicht nur effizient für uns, sondern auch bequem für unsere Kunden. Im Gegensatz dazu gibt es Situationen, in denen menschliches Einfühlungsvermögen unerlässlich ist. Stellen Sie sich vor, ein Kunde hat gerade durch einen Brand sein Hab und Gut verloren. In solch emotional fordernden Situationen ist eine menschliche, einfühlsame Unterstützung unverzichtbar – genau hier zeigen unsere Mitarbeitenden ihre wahre Stärke. Insgesamt führt der Einsatz von KI zu einer Neuausrichtung der Aufgaben im Kundendienst. Während einfachere Anfragen zunehmend automatisiert bearbeitet werden, können sich unsere Mitarbeiter auf anspruchsvollere Tätigkeiten konzentrieren, die menschliches Urteilsvermögen und Einfühlungsvermögen erfordern. Dies trägt zu einer Aufwertung der Rolle unserer Kundendienstmitarbeiter bei. 

Heisst das, Sie haben die Belegschaft im Kundendienst seit der Einführung von ChatGPT nicht reduziert? 

Nein, Clara hat uns geholfen, das stetig wachsende Anfrage-Aufkommen mit der bestehenden Belegschaft zu bewältigen. Die KI-Assistentin ergänzt dabei unsere Mitarbeitenden, indem sie Standardanfragen übernimmt. Das ermöglicht unserem Kundendienst, sich auf Anliegen zu konzentrieren, bei denen menschliche Expertise und Empathie gefragt sind.

Wie kann man sich den Aufwand für so eine ChatGPT-Integration vorstellen? 

Die initiale Integration war vor allem eine Investition in unser KI-Wissen und in die Zukunft unseres Kundenservices – eine Investition, die sich heute bereits auszahlt. Wir arbeiten seit Jahren eng in einem interdisziplinären Team aus Fachexperten und IT-Spezialisten zusammen, was die schnelle Realisation von diesem Projekt ermöglichte. Die initiale Version konnten wir innerhalb eines Monats umsetzen und lancieren. Vor einem Jahr hatten wir noch mit gewissen Unzulänglichkeiten der Technologie zu kämpfen. Inzwischen ist die Integration deutlich unkomplizierter geworden. Es ist auch schon viel mehr Wissen öffentlich verfügbar, was eine gut geplante Umsetzung ermöglicht und den Aufwand reduziert. 

Was waren die grössten Herausforderungen bei der Einführung von generativer KI? 

Die Einführung von generativer KI bei der Helvetia brachte vielfältige Herausforderungen mit sich. Ohne ein umsetzungsstarkes interdisziplinäres Team und viel Unterstützung aus anderen Bereichen wäre es schwierig geworden. Zu Beginn hatte die Technologie noch einige Kinderkrankheiten, die zusätzlichen Entwicklungsaufwand erforderten. Zudem gab es bei Helvetia nur wenige Personen, die bereits Erfahrung mit generativer KI hatten. Der notwendige Wissensaufbau im Team war intensiv, zumal es für uns als "First Mover" kaum etablierte Best Practices oder einschlägige Weiterbildungsangebote gab. Gleichzeitig erfordern transformative Themen oftmals ein kulturelles Umdenken im Unternehmen, was ein herausfordernder Prozess sein kann und Zeit in Anspruch nimmt. Die geleistete Aufklärungsarbeit hat sicher massgeblich zum Erfolg beigetragen. Ein wichtiger Meilenstein war es, unsere Geschäftsleitung von den Chancen zu überzeugen, die generative KI bereits in einem frühen Stadium bieten kann. Es erfordert Mut, sich an der Speerspitze der Innovation zu positionieren. Wie die Kunden auf einen KI-Chat reagieren würden, war alles andere als klar. Eine weitere Herausforderung war die transparente Kommunikation mit unseren Kunden. Wir wollten offen vermitteln, dass sie mit einer sich entwickelnden KI interagieren, die möglicherweise noch Fehler macht. Wir haben Clara mit KI initial als Experiment markiert, um die Erwartungen zu justieren. Gleichzeitig wollten wir aber nicht, dass die Kunden Clara dann unterschätzen und als reine Spielerei sehen. Sie entwickelt sich nämlich zunehmend zu einer vollwertigen digitalen Assistentin mit deutlichem Mehrwert für unsere Kunden. 

Wie sorgen Sie dafür, dass der Datenschutz im Rahmen der Interaktionen mit dem Chatbot gewährleistet bleibt? 

Als ChatGPT zunehmend in aller Munde war, wurden weltweit Datenschutzbedenken laut. Entsprechend sensibilisiert sind wir in das Projekt gestartet. Der Datenschutz hatte von Anfang an hohe Priorität. Wir nutzen beispielsweise ein eigenes Deployment und nicht direkt die OpenAI-Schnittstelle. Konversationen fliessen nicht in das Training zukünftiger ChatGPT-Versionen ein. Sensitive Daten werden maskiert, und der Zugriff auf die aufgezeichneten Chat-Daten ist streng reguliert. Die Kunden können sich vor dem Chatten über unsere Massnahmen informieren. Dank dieser offenen Kommunikation gewinnt Clara Tag für Tag mehr Vertrauen bei unseren Kunden. 

Wie gehen Sie damit um, dass generative KI gelegentlich dazu neigt, zu "halluzinieren", also Falschinformationen zu erfinden? 

Das Problem der KI-Halluzinationen ist uns bewusst, und wir setzen auf fortschrittliche Techniken wie Retrieval-Augmented Generation, um dem entgegenzuwirken. Dabei durchsucht das KI-Modell ausschliesslich verifizierte Informationsquellen, was das Risiko von Fehlinformationen mindert. Die Qualitätskontrolle bleibt eine Herausforderung. Unser Chatvolumen ist natürlich zu gross für eine manuelle Überprüfung. Um dennoch eine hohe Qualität sicherzustellen, haben wir ein zweistufiges System eingeführt: Manuelle Stichproben-Reviews und eine automatisierte Auswertung durch ein speziell trainiertes KI-Modell. Wir lassen also eine KI beurteilen, ob die andere KI einen guten Job gemacht hat. 

Abgesehen vom Kundendienst - wo und zu welchen Zwecken kommt generative KI bei der Helvetia sonst noch zum Einsatz? 

Neben dem Kundenservice, wo neben Clara noch weitere Initiativen im Gange sind, nutzt die Helvetia generative KI in verschiedenen Bereichen zur internen Produktivitäts- und Effizienzsteigerung. Besonders hervorzuheben ist Helvi, unser interner KI-Assistent, der allen Mitarbeitenden zur Verfügung steht. Mit Helvi rüsten wir unsere Mitarbeitenden mit modernsten Werkzeugen aus und sorgen damit gleich auch für die Einhaltung unserer Datenschutzvorschriften. Dies ermöglicht es ihnen, viele Routineaufgaben an die KI zu delegieren und dadurch mehr Zeit und Energie für den Einsatz ihrer individuellen Talente zu gewinnen. Ein grosser Vorteil von Helvi ist seine Anbindung an interne Wissensquellen. In einem Unternehmen unserer Grösse ist es oft schwierig, Informationen schnell und einfach zu finden. Helvi löst dieses Problem, indem er den Zugriff auf relevante Informationen erheblich erleichtert. Dies reduziert nicht nur die Notwendigkeit von Rückfragen und die damit verbundenen Wartezeiten, sondern minimiert auch Fehler, die aus fehlenden Informationen resultieren können. 

Versicherungen wie Helvetia oder auch Die Mobiliar scheinen bezüglich des Einsatzes von generativer KI aufgeschlossener zu sein als Schweizer Banken. Wie erklären Sie sich das? 

Wir tauschen uns regelmässig mit KI-Teams in anderen Branchen aus, um kontinuierlich voneinander zu lernen und unsere Services weiter zu optimieren. Die Schweizer Banken investieren gerade signifikant in den Einsatz generativer KI. Wir können uns sicher auf die eine oder andere Innovation freuen. Ich beobachte aber auch, dass aktuell seitens der Banken noch wenig über das Thema kommuniziert wird. Für mich ist völlig klar, dass Banken zum Beispiel durch Conversational AI viel mehr wertvollen Kundenkontakt bekommen könnten. Ich persönlich würde jederzeit gerne mit einem KI-Kundenberater zusammenarbeiten. Erschwerend dürfte sich das regulatorische Umfeld auswirken. Der Versicherungssektor unterliegt zwar auch strengen Vorschriften, ist aber in einigen Bereichen weniger stark reguliert als das Bankenwesen. Diesen Spielraum versuchen wir, wenn immer es sinnvoll erscheint, für weitere Innovationen zu nutzen. Die Banken scheinen sich zuerst auf den internen Einsatz der Technologie zu konzentrieren. Ich finde das grundsätzlich sinnvoll. Das Nutzenpotenzial ist auch intern gross und die gewonnenen Erfahrungen erleichtern spätere Projekte an der Schnittstelle zum Kunden. 

Was raten Sie anderen Playern aus der Finanzbranche, die vor der Einführung eines KI-Chatbots stehen? 

Für Finanzdienstleister, die einen KI-Chatbot einführen wollen, ist ein ganzheitlicher Ansatz entscheidend. Unsere Erfahrungen mit Clara zeigen, dass der Erfolg weit über die Technologie hinausgeht. Zunächst muss ein umfassendes Verständnis für KI-Technologien aufgebaut werden, um realistische Erwartungen zu setzen und fundierte Entscheidungen zu treffen. Showcases helfen, die Vorteile der Technologie zu veranschaulichen. Die Einbindung aller relevanten Stakeholder ist ein weiterer Schlüssel. In unserem Fall waren dies unter anderem die Callcenter für Schaden und Service. Diese Zusammenarbeit half, den Chatbot strategisch zu positionieren und in die Gesamtstrategie zu integrieren. Gleichzeitig braucht es aber auch immer eine Prise Mut, Neues zu wagen und sich auf ungewohntes Parkett zu begeben. Es müssen Fehler gemacht werden dürfen und Rückschläge dürfen nicht gleich dazu führen, dass das ganze Vorhaben in Frage gestellt wird. Ein tiefes Verständnis der Kundenbedürfnisse sowie der Stärken und Schwächen des Kommunikationskanals Chat ist unerlässlich. Wir streben ein Omnikanal-Angebot an, das verschiedensten Kundenansprüchen gerecht wird. Dabei ist es wichtig, eine Balance zwischen Automatisierung und menschlichem Kontakt zu finden. Ein entscheidender Erfolgsfaktor ist das Herzblut des Teams. In unserem Fall setzte sich die ganze Crew beispielsweise dafür ein, bestehende Kommunikationsrichtlinien zu überdenken, um Clara eine authentische Persönlichkeit zu verleihen. Diese Leidenschaft und Kreativität verleiht Clara eine "Seele" und gibt KI ein "Gesicht", macht die Technologie also fassbar, das unterscheidet sie von vielen anderen KI-Assistenten. Innovative und kundenfreundliche Lösungen entstehen dort, wo Technologie auf menschliche Vision und Engagement trifft.  

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9mx7sWHb