ehealth: Für die Schweiz steht einiges auf dem Spiel
E-Health ist nicht gleich elektronisches Patientendossier. Ohne Innovationen im Kerngeschäft kann wenig Begeisterung für das Thema entfacht werden. Dies ist aber die Voraussetzung dafür, um als Medizinaltechnik- und Pharmastandort positioniert zu bleiben.
Als Mitte 2007 der Bundesrat seine E-Health-Strategie verabschiedet hatte, ging der grosse Reibach los. ICT-Anbieter machten sich auf die Pirsch. Im Visier: Kantonale Gesundheitsdirektoren, die sich den Nimbus der Innovation aufsetzen und ein Pilotprojekt in Angriff nehmen wollten. Insgesamt fünf Kantone machten mit. Dazu gehörten Basel-Stadt, St. Gallen, Luzern und das Tessin. Das aufwendigste Unterfangen landete die Post im Kanton Genf. Unter dem Namen «e-toile» werden demnächst 30 000 Bürger an ein Gesundheitsnetz angeschlossen.
Doch der Zug kam alsbald ins Stocken. Das wackere Vorreitergrüppchen blieb weitestgehend allein. Vor allem aus den Grosskantonen Zürich und Bern sind in Sachen E-Health kaum Impulse wahrzunehmen. Dies obwohl sämtliche Voraussetzungen gegeben sind, worauf Markus Gnägi, Managing Partner des Swiss E-Health Institute, zu Recht hinweist: «Konsens über die Basiskomponenten, ein legitimiertes und akzeptiertes Koordinationsorgan zur Steuerung und Führung, die laufenden Modellversuche grosser D imension sowie die Versichertenkarte und die Health Professional Card, beides entscheidende Systemkomponenten.» Was fehlt ist der politische Wille, sprich: das Geld. Dies kommt nicht von ungefähr. So mussten die ICT-Anbieter feststellen, dass die E-Health-Früchte im Schweizer Gesundheitswesen sehr viel höher hängen, als zunächst angenommen. Damit schwand ihre Lust, sich an der meist einseitigen Finanzierung von Public-/Private-Partnerschaften zu beteiligen. Die Leistungserbringer ihrerseits monierten seit Anbeginn, dass die Investitionen und der Nutzen von E-Health, so wie das Thema von der bundesrätlich Strategie aufgegleist wurde, nicht am gleichen Ort anfallen.
Andere Stakeholder, allen voran die Versicherer, wünschten sich dagegen mehr Leadership seitens des Bundes, sonst sei der Investitionsschutz nicht gegeben. Treff endes Beispiel ist die Versichertenkarte. Zu dieser gibt es zwar einen klar defi nierten Standard. In der Praxis wird dieser jedoch gemäss Marco Beng, CEO am Kreisspital für das Freiamt Muri, nicht von allen Anbietern durchgängig angewendet. Zudem ist es der Politik nicht gelungen, die Verwendung der Versichertenkarte verbindlich von den Leistungserbringern zu fordern. Mit der Folge, dass heute jede Person in der Schweiz Besitzer einer Versichertenkarte ist, aber gar nicht weiss, wozu das Stück Plastik gut sein sollte. Deshalb erstaunt es auch nicht, dass das Thema E-Health in der Bevölkerung so gut wie überhaupt nicht positioniert ist, und wenn, dann meist im Zusammenhang mit Leistungsabbau und Datenschutzbedenken.
Evolution statt Revolution?
Bevor man sich fragt, wie diese Negativspirale gedreht werden kann, müsste zunächst politisch Konsens darüber herrschen, ob die Entwicklung überhaupt künstlich zu beschleunigen ist oder nicht einfach sich selbst überlassen werden kann. Einig ist man sich nämlich darüber, dass an E-Health früher oder später gar kein Weg vorbeiführen wird. «Man redet zwar schon lange über E-Health, aber konkret wurde in den letzten Jahren eher wenig umgesetzt. Trotzdem kommt man immer weniger darum herum», gibt etwa Beng zu Protokoll. Auch Andreas Faller, ehemaliger Leiter Gesundheitsdienst des Kantons Basel und heute Vizedirektor im Bundesamt für Gesundheit (BAG), hält in einem Interview mit der Netzwoche fest: «Wenn wir weiterhin die gleichen Anforderungen an Qualität und Innovation stellen, braucht es strukturelle Veränderungen, um überhaupt nur den Kostenanstieg eindämmen zu können.»
Diese Evolution geht einher mit dem Eintritt eines neuen Menschentypus als Stakeholder des Gesundheitssystems. Immer mehr sogenannte Digital Natives werden sich in den nächsten Jahren unter das Pfl egepersonal und die Ärzteschaft mischen. Und selbst die Digital Immigrants werden immer weniger verstehen, warum Smartphones, Webportale und alle weiteren ICT-Errungenschaften im Gesundheitswesen nichts zu suchen haben sollen. Zumal derzeit eine Generation heranwächst, die ein deutlich unverkrampfteres Verhältnis zu Privacy und Datenschutz an den Tag legt – ob zu Recht oder nicht sei freilich dahingestellt.
Warum also eine E-Health-Debatte vom Stapel lassen und nicht einfach dem Markt vertrauen, dass dem wachsenden Bedürfnis zwangsläufi g das entsprechende Leistungsspektrum gegenübergestellt werden wird. Schliesslich sind auch die herumgereichten Milliarden, die dank E-Health eingespart werden können, schnell einmal relativiert. So rechnet etwa Franz Zeder, COO bei der Sanitas, im Interview mit der Netzwoche nach, dass selbst, wenn dank elektronischem Patientendossier erhebliche Sparpotenziale erschlossen werden können, diese sich gemessen an den gesamten Gesundheitskosten immer noch im Promillebereich bewegen würden, weil der Verwaltungsaufwand nicht mehr als sechs Prozent des Kuchens ausmacht.
Wer also E-Health als allein seligmachendes Mittel gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen positioniert, betreibt Augenwischerei. Solange zumindest, wie nicht dort angesetzt wird, wo die Kosten wirklich anfallen: bei der Leistungserbringung. So stellt Reinhard Riedl, Professor an der Berner Fachhochschule, fest, dass die IT-orientierte Theorie des E-Health und die medizinische Praxis häufi g weit auseinanderklaff en. Für Riedl ist dies denn auch wenig überraschend: «Man muss vom Kerngeschäft des Gesundheitswesens ausgehen, wenn man wirklich mit E-Health vorwärtsmachen will. Das Kerngeschäft ist die Patientenbehandlung und Betreuung sowie Patienteninformation und die Gesundheitsvorsorge. Würde E-Health die Leistungen im Kerngeschäft für die dort tätigen Ak teure sichtbar verbessern, wäre die Akzeptanz dafür viel höher.» Mit anderen Worten: Das Th ema E-Health muss klar über die derzeitige «Vision» eines Patientendossiers hinausgehen, der Fokus muss sich also verschieben, von der alleinigen Kostenbetrachtung hin zur IT als Innovationstreiber. Doch genau diese Themenbereiche werden von der aktuellen politischen Diskussion zu sehr ausgeblendet.
Dabei bietet die Entwicklung der ICT von der Telemedizin über Konzepte zur IT-gestützten Patientenbetreuung bis hin zu Ideen Social Web inspirierter Gesundheitsprävention jede Menge Ansätze, die dem Th ema nicht nur deutlich mehr Sexappeal verleihen, sondern auch neue Nutzen potenzial und Geschäftsfelder erschliessen könnten. Und man darf nicht vergessen, dass dieser Zug anderenorts bereits an Fahrt gewinnt. So wurde gerade erst Bill Gates als Keynote-Sprecher an einer internationalen E-Health- Konferenz in Washington D.C. angekündet, die erörtern will, wie für die weltweit fünf Milliarden Handynutzer insbesondere in armen Weltregionen die Gesundheitsversorgung verbessert werden kann. Bekannt ist auch, dass Google-Mitgründer Sergey Brin zig Millionen in neue Methoden zur Parkinson-Bekämpfung investiert. Dies auch aus persönlichem Interesse: So hat ein DNA-Test ergeben, dass Brin mit einer 50- prozentigen Wahrscheinlichkeit an Parkinson erkranken kann. Und der Zufall will’s, dass in das Start-up 23andme.com, das heute DNA-Tests für rund 500 Dollar online anbietet, auch Brins Frau involviert ist.
«Placebo» gegen die Kostenexplosion?
Auch wenn solche Angebote zur Wahrscheinlichkeitsberechnung der persönlichen Neigung zu gewissen vererbbaren Krankheiten aufgrund des genetischen Codes auch soziale und ethische Fragen aufwerfen: Zur Vorbeugung und Verbesserung der eigenen Lebenssituation mögen sie zweifellos einen Beitrag leisten. Dabei zeigt die Verschmelzung von Genund Computertechnologie vor allem auch eines: Die kontinuierliche Steigerung der verfügbaren Rechenleistung sowie ihre Vernetzung gepaart mit spezifi schen Softwareanwendungen dürfte in den kommenden Jahren die Gesundheitsbranche auch auf anderen Gebieten nachhaltig verändern.
Gerade unter diesen Vorzeichen erscheint die eingangs gestellte Frage nach der Dringlichkeit einer nationalen EHealth-Offensive in einem ganz neuen Licht, nämlich nicht nur als «Placebo» gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, sondern als Wachstumsmotor für die hiesige Medizinaltechnik und Pharmaindustrie. So befürchtet Ruedi Noser, Präsident von ICTswitzerland, im Interview mit der Netzwoche denn auch, dass die nächste Generation der Produkte in diesem für die Schweiz wichtigen Wirtschaftssektor demnächst nicht mehr hierzulande produziert wird. Deshalb sei es für den Wirtschaftsstandort Schweiz von zentraler Bedeutung, dass das Gesundheitswesen endlich die Digitalisierung im Eilzugtempo einführe. Wer schippt also endlich die Kohlen in die Lok?