"Ich begann selbst einen Kurs über Karl den Grossen, den ich nie beendet habe"
Während andere noch zuschauten, experimentierte Heinz Schüpbach schon früh mit E-Learning und digitalen Lehr- und Lernformen. Der Leiter der Hochschule für Angewandte Psychologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) hält im Internet seinen eigenen Massive Open Online Course (MOOC) ab. Im Interview teilt er seine Erfahrungen.
Sie bieten auf der Online-Lernplattform Iversity eine "Einführung in die Arbeitspsychologie" an. Wie kam es dazu?
Heinz Schüpbach: Ich habe schon früh angefangen, mit E-Learning und Blended Learning zu experimentieren. Dabei merkte ich, dass diese Lernformen viel Potenzial haben. Wohin die Entwicklung führt, ist zwar noch unklar. Aber die Lehre kann es sich nicht leisten, den Trend zur Digitalisierung zu ignorieren.
Ist die Hochschule für Angewandte Psychologie der FHNW darum auf den E-Learning-Zug aufgesprungen?
Wenn du nicht weisst, wohin die Reise geht, steigst du lieber früh in den Zug ein als gar nicht. Sehen Sie, Bildungsinstitutionen haben heute zwei Möglichkeiten: Abwarten und den Markt beobachten, oder mitmachen und es einfach mal versuchen. Wir haben den Sprung ins kalte Wasser gewagt und testen nun verschiedene Lernformen im Internet. Sie werden unser Bildungswesen stark verändern. Darum ist es wichtig, dass wir als Hochschule vorne mit dabei sind.
Wie umfangreich ist Ihr MOOC?
Die Vorlesung dauert 10 Wochen, und Iversity schätzt den Lernaufwand auf 3 bis 4 Stunden pro Woche. Zählt man Präsenzzeit und Prüfungsvorbereitung dazu, sind es total rund 90 Stunden. Der Kurs entspricht 3 ECTS-Punkten.
Halten Sie die gleiche Vorlesung auch im Hörsaal?
Ja, ich habe die Lehrveranstaltung rund 20 Mal offline durchgeführt. Da dauert eine Lektion allerdings 45 und nicht 15 Minuten. Die Präsenzveranstaltung bietet Raum für Diskussionen, die Onlineinhalte bringen Themen komprimiert auf den Punkt. Dieser Unterschied ist für mich als Lehrperson herausfordernd. Vor einigen Jahren zeichnete ich die Vorlesung im Saal erstmals auf und stellte die Tonaufnahmen meinen Studenten zur Verfügung.
Wie kam das an?
Die Studenten waren begeistert und nutzten das Material zur Repetition und Prüfungsvorbereitung. Als ich vor fünf Jahren vom Institut für Psychologie der Universität Freiburg an die FHNW wechselte, nahm ich die Vorlesung erneut auf. Dieses Mal ergänzten die Aufnahmen aber gezielt die Saalvorlesung im Rahmen des Blended-Learning-Konzepts.
Was heisst das genau?
Es gab abwechselnd Online- und Offlinetermine im Flipped-Classroom-Konzept. Die Onlinephase dauerte jeweils 14 Tage. Die Studenten belegten die Vorlesungen im Internet, und in der Präsenzveranstaltung wurde über Inhalte diskutiert. Am Anfang waren fast alle Studenten für diese Idee aufgeschlossen. Am Ende gab aber rund die Hälfte an, das alte System zu bevorzugen. Reinsitzen, zuhören, Notizen machen – viele Studenten wollen das genau so. Das zeigte mir, dass E-Learning mit Vorsicht zu geniessen ist.
Das klingt nicht gerade positiv.
Blended Learning kann eben nur funktionieren, wenn die Inhalte auf das Medium zugeschnitten sind. An einer Vorlesung, die vor Publikum stattfindet, gibt es immer auch Interaktionen mit Studenten. Diese ergeben aber oft nur Sinn, wenn man live vor Ort ist. Hört man sich zuhause eine solche Aufnahme an, fühlt sich das irgendwie komisch an. Vorlesungen aufzeichnen und unverändert ins Netz stellen ist nicht der richtige Weg. Die Lerninhalte müssen zudem immer aktuell gehalten werden – auch online.
Gab es weiteres Feedback der Studenten?
Die Studenten sagten, der Lernaufwand sei stark gestiegen. Viele unterschätzten wohl die Onlinekurse. Ein 15-minütiges Video erfordert im Selbststudium eben nicht 15, sondern vielleicht 30 oder 45 Minuten Zeit. Wer an der FHNW studiert, hat ja schon mindestens 10 Jahre Lern- und Schulerfahrung. Ein Grossteil davon wurde aber in Präsenzveranstaltungen geleistet. Das Selbststudium im Rahmen des Blended Learnings ist für viele Studenten neu. Auch sie müssen erst Erfahrungen mit dieser Lernform sammeln.
Ihr MOOC ist nicht nur für FHNW-Studenten, sondern für alle zugänglich. Wie viele Teilnehmer hat die Onlinevorlesung?
Für den Kurs haben sich rund 3500 Studenten gratis eingeschrieben. Etwa 60 Prozent davon schauten sich das erste Video an, danach sank die Quote mit jeder weiteren Vorlesung. Weniger als 10 Prozent der Studenten schlossen den Kurs ab. Wer ihn bestehen will, muss mindestens 80 Prozent der Vorlesungsvideos und Quizzes abschliessen. Dafür gibt es eine kostenlose, unbenotete Teilnahmebescheinigung.
Ist dieses Ergebnis nun erfreulich oder nicht?
Nun, die hohen Abbruchquoten bei Onlinekursen sind normal. Viele Studenten schnuppern in Vorlesungen rein, bevor sie sich für eine entscheiden. Ich begann selbst einen Kurs über Karl den Grossen, den ich nie beendet habe.
Kennen Sie eigentlich Ihre Onlinestudenten?
Ich traf rund 40 Studenten in einem Meet-the-Expert-Anlass virtuell. Sie konnten Fragen stellen, die ich im Videochat beantwortete. Ansonsten kenne ich die Studenten nicht. Iversity zeigt mir aber, wer wie lange im Kurs mitmacht. Die Mehrzahl der Kursteilnehmer sind aus Deutschland, der Schweiz und Österreich, und weit über die Hälfte hat einen Bachelor- oder Master-Abschluss. Es gibt auch Studenten in Asien und den USA. Da wir uns keine Ziele setzen und erst einmal Erfahrungen sammeln wollen, messen wir den Erfolg der Onlinevorlesung aber nicht speziell.
Was motiviert die Studenten, an Ihrem MOOC teilzunehmen?
Darüber haben wir die Kursteilnehmer befragt. Das wichtigste Motiv ist Neugierde, generelles Interesse und Freude am Thema. Das zweitwichtigste ist eine Ergänzung der aktuellen beruflichen Tätigkeit. Der drittwichtigste Grund ist, dass der MOOC die Chancen auf dem Jobmarkt erhöht.
Tut er das?
Iversity bietet kostenpflichtige Lernpfade mit zusätzlicher Onlineprüfung an. Wer sie besteht, erhält einen Leistungsnachweis mit Zertifikat. Er bescheinigt Kursinhalte, Lernerfolge und Noten. Bei wenigen Kursen gibt es sogar die Option, durch eine Präsenzprüfung ECTS-Punkte zu bekommen – falls sie von der Hochschule angerechnet werden. Es ist also durchaus möglich, dass MOOCs als Zusatzqualifikation die Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen können.
Können Unternehmen und HR-Verantwortliche überhaupt erkennen, was eine Onlinevorlesung wert ist?
Das dürfte schwierig sein, aber das ist es für sie ja auch jetzt schon. Der Bildungsmarkt ist unglaublich vielfältig, und die Bewerbungs- und Selektionsverfahren ändern sich ständig. Für HR-Verantwortliche ist das aber nichts Neues.
Können Sie die für den MOOC produzierten Videoinhalte eigentlich auch für Ihren Kurs an der FHNW nutzen?
Sie wurden Teil unseres Blended-Learning-Konzepts. Das Internet ist für uns Herausforderung und Chance zugleich. Es hat Stärken, die eine Offlinevorlesung nicht bieten kann. Das sind zum Beispiel die ständige Verfügbarkeit und praktisch unbeschränkte Teilnehmerzahlen. MOOC-Anbieter betreiben zudem Diskussionsforen, auf denen sich Studenten vernetzen können. Letztlich stellt sich auch die Frage, welche Inhalte verbreitet werden sollen. Das Fach Psychologie ist zum Beispiel online schwieriger zu vermitteln als Formalwissenschaften wie Mathematik oder Informatik. Auch in der Psychologie ist es aber möglich, interessante MOOCs zu schaffen.
Wie wurde der MOOC produziert? Und wie teuer war das?
Ich bereite die Folien vor und doziere, ein Technikteam unter der Leitung von Jonas Kiener filmt, schneidet und macht den Support. Ich persönlich habe den Aufwand, den ich mit dem Onlinekurs habe, um den Faktor 3 unterschätzt. Eine Vollkostenrechnung für den MOOC würde sich auf 30 000 bis 50 000 Franken belaufen, wobei ein Grossteil für die Arbeitszeit draufgeht. Die Materialkosten an sich sind gering.
Warum haben Sie sich eigentlich für Iversity entschieden? Es gibt ja Alternativen wie Coursera, Udacity oder edX.
Iversity scheint im deutschsprachigen Raum bekannter zu sein als Coursera, Udacity und edX. Einige Anbieter fokussieren sich auf den US-Markt, andere arbeiten bereits mit grossen Universitäten zusammen. Das Angebot von Iversity ist solide – ideal, um erste Erfahrungen zu sammeln.
Erfahrung haben Sie schon viele gemacht, sowohl mit Blended Learning als auch mit MOOCs. Wie lautet das erste Fazit?
Ich bin mit den digitalen Lernformen nicht hundertprozentig zufrieden. Viele MOOCs sind didaktisch nicht clever aufgebaut. Was angeboten wird, ist stark entwicklungsbedürftig. Wer aber nur zuschaut, bleibt stehen. Wir können es uns nicht leisten, nicht mitzumachen. Die zukünftigen Hochschulstudenten werden nicht mehr bereit sein, von St. Gallen nach Olten zu pilgern, nur um eine Vorlesung anzuhören. Das reicht einfach nicht mehr. Digital Natives stellen heute schon hohe Anforderungen.
Haben Sie Tipps für unsere Leser, die MOOCs testen wollen?
Reinschauen und sich selbst ein Bild machen. Die Leser müssen wissen, dass MOOCs viel Aufwand bedeuten können. Sie verlangen Fleiss, Disziplin und Durchhaltewillen.