Wie Virtual Reality unsere Einkaufsgewohnheiten ändern kann
Die Retourenquote von Zalando in der Schweiz liegt bei rund 50 Prozent. Das ausgewählte Produkt gefällt nicht, passt nicht oder sah im Onlineshop einfach einen Tick anders aus. Die kostenlose Retoure ist praktisch für den Kunden und teuer für den Anbieter – wobei es naiv wäre zu denken, dass die Kosten im Endeffekt nicht doch von der zahlenden Kundschaft getragen werden.
Was bei Kleidungsstücken logistisch simpel und mit für den Kunden überschaubarem Aufwand realisierbar ist, kann bei grösseren Artikeln zu einer Hürde im Kaufprozess führen. Sperrige Produkte wie Möbel werden meist erst nach einer oder mehreren Wochen Recherche und Bedenkzeit gekauft – unabhängig vom Kanal. Im Laden können die Möbel vollumfänglich geprüft werden, jedoch fehlt der visuelle Bezug zu den eigenen vier Wänden. Im Onlineshop findet zwar der visuelle Bezug statt, jedoch ist das gewählte Möbelstück auf den Bildschirm limitiert. Die fehlende Verschmelzung der virtuellen und analogen Welt sorgt für Kaufblockaden und dadurch zu einer Verlängerung des Evaluationsprozesses.
Für Verkäufer gilt es, Wege zu finden, die beiden Welten zu vereinen und dem potenziellen Kunden so Unsicherheiten beim Kauf zu nehmen. Das Resultat verspricht eine erhöhte Chance für den Kunden, das passende Produkt zu kaufen, ein beschleunigter Entscheidungsprozess und eine Reduktion der Retourenquote. Virtual (VR) und Augmented Reality (AR) bieten mögliche Ansätze zur Verschmelzung beider Shopping-Welten.
Ab in den Kontext
In der heutigen Onlineshop Experience bestellen wir unsere Artikel oftmals, ohne sie jemals richtig im Kontext unserer Wohnsituation betrachtet zu haben. Passt das neue Sofa zum alten Teppich und der hellen Wandfarbe? Stimmen die Proportionen des Bücherregals für das Wohnzimmer? Für die Beurteilung der Produktqualität haben sich dank Amazon und Co. Produktbewertungen durch andere Kunden etabliert und sind heute matchentscheidende Kriterien für die Produktwahl. Wenn es aber um Themen wie Stil und Passgenauigkeit in Zusammenhang mit dem unmittelbaren Umfeld des Kaufwilligen geht, fehlt der etablierte Standard noch.
Mittels Augmented Reality gibt es Ansätze, die das Produkt aus dem Onlineshop in die reale Welt des potenziellen Käufers bringen. Ein in den Onlineshop integrierter "Watch at home"-Button lässt die Shopping-App oder -Website in den Kameramodus wechseln und zeigt das gewählte Produkt eingebettet in das Kamerabild, also im Kontext des Nutzers.
So weit, so gut. Der Nutzer kann damit das gewählte Sofa virtuell in seine Wohnung holen, korrekt positionieren und dadurch einen ersten Eindruck des Gesamtbildes gewinnen. Weitere Funktionen erlauben das Verändern von Farben und Materialien und dank des Öffnens des virtuellen Schrankes wird gleich der notwendige Platzbedarf geprüft.
Unter Zuhilfenahme von ausreichend Datenmaterial kann ein bedeutender Schritt weitergegangen werden. Wieso das ausgewählte Möbelstück nur virtuell zwischen den eigenen vier Wänden betrachten, wenn ein Algorithmus gleich eine Empfehlung abgeben kann, welches Möbelstück am besten zur bestehenden Einrichtung passt? Amazon geht mit seinem Echo Look einen ersten Schritt in diese Richtung und ermöglicht es, Einzelaufnahmen oder kurze Sequenzen des eigenen Outfits aufnehmen und Styling-Feedback bei Drittpersonen einzuholen. Das Potenzial ist dabei einiges grösser, erhält Amazon doch so ganz legal Einblicke in das traute Heim seiner Kundschaft.
Vom Einzelstück zum Gesamtkonzept
Auch wenn die Integration von Einzelprodukten in den Kontext ein wichtiger Schritt ist, um Kaufhürden abzubauen, wird das Potenzial von VR und AR erst richtig sichtbar, wenn man sich vom einzelnen Produkt löst und stattdessen auf das Gesamtkonzept fokussiert.
Wie sieht mein Schlafzimmer komplett im skandinavischen Stil eingerichtet aus? Wie kann ich mit einem Budget von 800 Franken mein Badezimmer aufhübschen? Fragen wie diese beantworten Start-ups aus dem Inneneinrichtungsbereich (z. B. Modsy und Decorilla). Mithilfe einiger Fotos und eines Stylefinders realisieren diese innerhalb weniger Tage und für wenig Geld detailgetreue 3-D-Modelle der eigenen Räumlichkeiten – eingerichtet im passenden Stil und unter Berücksichtigung der realen Wohnsituation. Mittels Virtual Reality kann sich der Nutzer in seinen virtuellen Räumlichkeiten bewegen, einzelne Möbelstücke austauschen und anders arrangieren, bevor er die vorgeschlagenen Produkte bequem aus verschiedenen Onlineshops zusammenkauft. Das einzelne Produkt verliert an Relevanz, stattdessen gewinnt der gesamte Raum an Bedeutung. Ein Turbo für Cross- und Upselling und der nächste logische Ausbauschritt von "Andere haben auch gekauft". Anbieter wie Havenly verzeichnen alleine durch statische Renderings der neu eingerichteten Räumlichkeiten eine Erhöhung der Kaufbereitschaft von 15 bis 20 Prozent. Ein immersives VR-Erlebnis ermöglicht darüber hinaus eine Reihe weiterer nützlicher Funktionen, die Sicherheit vor dem Kauf vermitteln. Ganz ähnlich der Probefahrt beim Autokauf.
Fleischbällchen in der virtuellen Realität
In der Praxis läuft noch nicht immer alles so rund, ernst gemeinte Experimente entstehen jedoch laufend. Seit Ikea vergangenes Jahr seine VR-Applikation "Kitchen Experience" lancierte, in der eine Ikea-Küche getestet und individualisiert werden kann, hat sich in Sachen Grafikqualität nochmals einiges getan. Die aktuellen Spieltitel für die HTC Vive lassen erahnen, in welcher Geschwindigkeit die grafische Entwicklung voranschreitet. War die Kitchen Experience noch als Spielerei gedacht, bei der als einer der ersten Kundenfeedbacks virtuelle Fleischbällchen gewünscht wurden, könnte sich dank gesteigerter Bildqualität diese Art des Kücheneinkaufs als eine weitere ernst zu nehmende Option durchsetzen.
Der VR-Showroom, den Ikea ebenfalls vergangenes Jahr in einer Berliner Filiale einführte, ermöglicht dank vorgerenderter Bilder ein beschränkt konfigurierbares Wohnzimmer mit Simulation von Tag und Nacht sowie beinahe fotorealistischem Ergebnis. Leider noch ohne Einbezug der eigenen Räumlichkeiten und für viele Kunden aufgrund der technischen Gerätschaften nur in den Ikea-Filialen nutzbar.
Ikea ist dafür bekannt, jeweils früh mit neuen Technologien zu experimentieren und Erfahrungen zu sammeln. Andere Unternehmen, etwa aus dem Sanitärbereich, erhoffen sich dank der Technologien einen neuen, direkten Absatzkanal zum Endkunden und experimentieren fleissig mit den Möglichkeiten von VR und AR. Andere Branchen folgen hoffentlich bald und tragen zur Etablierung eines neuen Standards im E-Commerce bei.