Nationale Fachtagung E-Accessibility 2020

Neue Standards, barrierefreies Reisen und alte Geister

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An der E-Accessibility 2020 haben Vertreter des Bundes, der SBB und der Stiftung "Zugang für alle" gezeigt, wo die Schweiz heute in puncto digitaler Barrierefreiheit steht. Besonders schlecht kamen dabei private Anbieter weg. Doch auch Accessibility-Experten sollten alte Konzepte überdenken.

Die beiden Moderatoren: Alexandre Milan und René Jaun von der Netzwoche. (v.l., Source: E-Accessibility 2020)
Die beiden Moderatoren: Alexandre Milan und René Jaun von der Netzwoche. (v.l., Source: E-Accessibility 2020)

Das Vortragsprogramm gekürzt, die meisten Referate vorproduziert, und die Veranstaltung ins Internet verlegt - die Pandemie hat das Konzept der sechsten nationalen Fachtagung E-Accessibility 2020 deutlich geprägt. Man habe sich entschieden, sich thematisch auf Barrierefreiheit im Web zu konzentrieren, erklärte Alexandre Milan, beim Bundesamt für Kommunikation für die Strategie Digitale Schweiz zuständig, der den Anlass gemeinsam mit Netzwoche-Redaktor René Jaun moderierte.

Digitale Accessibility gelebt

Ziel der Fachtagung sei, die Barrierefreiheit in der Schweiz weiter voranzutreiben, wie Markus Riesch, Projektleiter Accessibility beim Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB), vor der Konferenz auf Anfrage erklärte.

Dabei liessen die Organisatoren nicht nur Worte, sondern auch Taten sprechen: Um den Livestream der Konferenz möglichst barrierefrei zu gestalten, stellten sie den Besuchenden sowohl den Ton als auch die Untertitel aller Referate wahlweise in Deutsch und Französisch zur Verfügung. Für besonders viel Aufmerksamkeit sorgten jedoch die zuschaltbaren Simultanübersetzungen der Inhalte in die schweizerdeutsche und französische Gebärdensprache. "Haben Sie das jemals zuvor in einem Onlinekonferenz-Livestream erlebt? Ich nicht", kommentiert ein Twitter-Nutzer das Engagement.

Die französische Gebärdendolemetscherin im Einsatz. (Source: E-Accessibility 2020)

In seinem eigenen Referat bezeichnete Riesch Accessibility als "Voraussetzung für eine inklusive Informationsgesellschaft, an der alle Menschen teilhaben können". Es sollte heute nicht mehr darum gehen, die Notwendigkeit digitaler Barrierefreiheit, sondern vielmehr deren konkrete Umsetzung zu diskutieren. Der Gesetzgeber nimmt Behörden besonders in die Pflicht, führte Riesch weiter aus: Denn während zwar für Private ein gesetzliches Diskriminierungsverbot gegen Menschen mit Behinderungen besteht, ist nur die öffentliche Hand explizit dazu verpflichtet, ihre Dienste für alle Menschen zugänglich anzubieten.

Neue Technologien erfordern neue Richtlinien

Doch wer definiert, wie ein digitales Angebot gestaltet sein muss, um als barrierefrei zu gelten? Eine Antwort darauf liefert der Verein ECH, der sich gemäss Riesch für die Entwicklung von gesamtschweizerischen E-Government-Standards einsetzt. Die zum Verein gehörende Fachgruppe Accessibility habe unlängst den Standard "ECH-0059" neu überarbeitet. Das Dokument solle es Behörden ermöglichen, "Angebote im Internet, Intranet und Extranet nach einheitlichen Kriterien umzusetzen und damit gleichzeitig ihren gesetzlichen Auftrag zu erfüllen", heisst es auf der Website. Gemäss Riesch hat der Standard zwar lediglich empfehlenden Charakter, aber zumindest der Bund habe sich entschieden, ECH-0059 künftig zu befolgen.

Der überarbeitete ECH-Standard gilt neu auch für mobile Apps, führte Riesch aus. Zudem enthält er Vorgaben bezüglich Inhalten in leichter Sprache oder in Form von Gebärdensprachvideos sowie Neuerungen hinsichtlich eines Accessibility-Statements und des Monitorings.

Doch der Hauptgrund für die Überarbeitung von ECH-0059 sei ein Update der internationalen Richtlinien gewesen, die dem Standard zu Grunde liegen. Die "Web Content Accessibility Guidelines" (WCAG) liegen mittlerweile in Version 2.1 vor. Dank der WCAG sei Barrierefreiheit "nicht mehr Bauchgefühl, sondern sie ist direkt messbar, überprüfbar und einforderbar", erläuterte Andreas Uebelbacher, Leiter Dienstleistungen bei der Stiftung "Zugang für alle".

Insgesamt 17 neue Erfolgskriterien seien mit der Version 2.1 eingeführt worden, sagte Uebelbacher. Diese thematisierten vor allem Sehbehinderungen und kognitive Einschränkungen. Sie tragen aber auch der verstärkten mobilen Nutzung von Systemen Rechnung. Neu gelten alle Anforderungen nicht nur für ganze Seiten und Prozesse, sondern immer auch für alle Anzeigen- und Bildschirmgrössen. Nutzer müssen digitale Angebote künftig sowohl im Hoch- als auch im Querformat bedienen können, und für Nicht-Text-Inhalte - etwa Checkboxen in Formularen - gibt es nun Kontrastanforderungen. Weitere Neuerungen von WCAG 2.1 fasst "Zugang für alle" auf ihrer Website zusammen.

Privatwirtschaft: Wenn sich einfach nichts tut

Wie mühsam eine nicht-barrierefreie Website für Menschen mit Behinderungen ist, demonstrierte Accessibility Consultant MO Sherif anhand des Webauftritts von Digitec. Sherif ist blind und arbeitet mithilfe eines Screen-Readers am PC. Im Test gelang es ihm zwar, die gewünschten Kopfhörer dem Warenkorb hinzuzufügen. Als er jedoch den Warenkorb aufrief, erschien dieser nur visuell. "Der Screen-Reader kriegt davon gar nichts mit", so Sherif. Das Problem liesse sich beheben, denn Webentwickler könnten etwa den Fokus des Screen-Readers gezielt auf den Warenkorb setzen. In der momentanen Version sei die User Experience für blinde Kunden mitunter so schlecht, dass sie auf fremde Hilfe angewiesen seien, um erfolgreich einkaufen zu können.

Der Onlinehändler Digitec ist aber keineswegs die Ausnahme in Sachen mangelhafter Accessibility. Nur ein Viertel der Schweizer Onlineshops sei barrierefrei, führte Sylvia Winkelmann-Ackermann, Geschäftsführerin von "Zugang für alle", aus. Für die fünfte Accessibility-Studie hatte die Stiftung mehr als 40 Onlineshops untersucht.

Das Beispiel Digitec ist indes besonders bedenklich, denn der Onlinehändler war sich seiner Probleme durchaus bewusst: "Wir wissen schon länger, dass unsere Website nicht behindertengerecht ist", schreibt das Unternehmen in einem Blogbeitrag vom Januar 2019 und ergänzt: "einmal einen Blinden beim Ausprobieren unseres Shops zu beobachten, hat uns die Augen geöffnet". In der Schlussdiskussion auf Digitec angesprochen, gibt sich Winkelmann-Ackermann ernüchtert: "Sie waren nach der letzten Studie bei uns und haben sich des Themas angenommen." Offenbar seien aber die Verbesserungen einfach noch nicht auf der neuen Website angelangt.

In ihrer letzten Studie, veröffentlicht 2016, hatte "Zugang für alle" unter anderem ein Augenmerk auf Newsportale gelegt - ebenfalls mit wenig schmeichelhaften Ergebnissen.

Gemäss Sherif hat sich hier wenig getan: "Medienseiten sind heutezutage immer noch grösstenteils nicht wirklich accessible", sagte er an der Schlussdiskussion. Er könne zwar oft die Artikeltexte lesen, die Zusatzfunktionen der Medienportale aber nicht vollständig nutzen.

Zusammen arbeiten oder Schrauben anziehen

Für die Bravo-Geschichte des Morgens sorgten die Schweizerischen Bundesbahnen mit ihrer App "SBB Inclusive". Die App, die auch auf der Shortlist der diesjährigen Best of Swiss Apps Awards steht, mache das Reisen für blinde und sehbehinderte Menschen barrierefreier, indem sie die jeweils relevanten Informationen auf dem Smartphone anzeigt, erklärte Product Owner Esther Buchmüller. An Bahnhöfen seien das etwa Abfahrtstafeln und in fahrenden Zügen Informationen zu allfälligen Verspätungen. Die Vision der App sei zunächst vom Verhalten eines alltäglichen Reisenden ausgegangen, denn "blinde und sehbehinderte Personen haben nicht ein komplett anderes Informationsbedürfnis". Während der Entwicklung sei es aber wichtig gewesen, die Zielgruppe zu kennen und mit blinden und sehbehinderten Testpersonen zusammenzuarbeiten. Die nun entstandene App, die am 13. Dezember offiziell lanciert wird, sei im übrigens nicht explizit für blinde und sehbehinderte, sondern für alle Reisenden nutzbar. "Wenn man's zusammen macht, geht’s einfacher; und man hat ein Produkt, das der jeweiligen Zielgruppe auch wirklich hilft", gab Buchmüller dem Publikum auf den Weg.

Netzwochen-Moderator René Jaun, Markus Riesch, Grünen-Nationalrat Gerhard Andrey und Manu Heim im Panel. (Source: Screenshot E-Accessibility 2020)

Das sich in der Schweiz insgesamt wenig tut in puncto digitaler Barrierefreiheit, dominierte die abschliessende Paneldiskussion der Referenten. Gerhard Andrey, Grünen-Nationalrat und Co-Gründer der Web-Agentur Liip, gab sich konsterniert: "Das scheint ja wirklich desaströs", kommentierte er das schlechte Abschneiden privater Anbieter in der Accessibility-Studie. "Wenn ich ehrlich bin, ist Accessibility nicht etwas, das nachgefragt wird", sprach er als Web-Entwickler. Zudem sei es anspruchsvoll, das Thema unter seinen 180 Mitarbeitern aktuell zu halten. Politisch forderte Andrey: "Wir sollten die Schraube etwas anziehen", beispielsweise im Beschaffungswesen: "Man könnte mit Anreizen beginnen, indem etwa Firmen, die einen Leistungsausweis in Accessibility vorlegen, in den Zuschlagskriterien besser bewertet werden." Mittelfristig würde sich dies auch auf Beschaffungsaufträge der Privatwirtschaft auswirken.

Isabelle Haas, Accessibility-Beauftragte bei der Schweizerischen Post, plädierte dafür, das Thema Barrierefreiheit vermehrt in Ausbildungslehrgängen, etwa jenen für Mediamatiker, zu integrieren. Und Markus Riesch vom EBGB verwies auf eine neue Plattform namens "Accessibility.swiss", auf der künftig verschiedene private und öffentliche Stakeholder das Thema gemeinsam voranbringen sollten.

Digitale Transformation: Alte Geister loswerden

Derweil mussten nicht nur private Unternehmen, sondern auch die Experten von "Zugang für alle" Kritik einstecken. Die Stiftung stellt ihre Accessibility-Studie ausschliesslich im PDF-Format zum Download bereit. Das Format ist insbesondere unter Nutzern von Screen-Readern wenig beliebt. Zudem bemängelt die Studie selber, dass manche Onlineshops Informationen nur in Form nicht barrierefrei aufbereiteter PDFs anbieten.

"Die Accessibility-Studie ist in erster Linie noch immer ein Printprodukt", verteidigte sich Manu Heim, Projektleiterin und Kommunikationsverantwortliche. Das PDF-Format sei dafür bestens geeignet. Immerhin habe man die PDF-Version barrierefrei umgesetzt. Eine alternative Version - etwa in Form einer normalen Website - bezeichnete Heim als "wünschenswerte Ergänzung", erfordere dann aber auch zusätzliche Ressourcen.

"Es ist eine Frage der digitalen Transformation", erwiderte Gerhard Andrey darauf. Anstelle eine Publikation vom Printprodukt her zu denken, sei es heute durchaus möglich, von einer digitalen Version auszugehen, und daraus das Druckerzeugnis zu erstellen. Würde man dies so umkehren, sei viel mehr möglich, auch bezüglich Barrierefreiheit. Und für den Leser des Printproduktes würde sich nichts ändern.

Die Referate zur Fachtagung E-Accessibility 2020 stehen in wenigen Tagen auf der Website der Veranstaltung zum Nachschauen bereit.

Auf welche Barrieren Netzwoche-Redaktor René Jaun in seinem Berufsalltag stösst und wie er damit umgeht, lesen Sie in seinem Editorial.

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