Sang-Il Kim vom BAG im Gespräch

"Keine digitale Transformation ohne soziale Transformation"

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Im April hat das Bundesamt für Gesundheit inmitten der Coronakrise eine Abteilung für die digitale Transformation eröffnet. Als Leiter der neuen Abteilung fungiert Sang-Il Kim. Im Interview erklärt er, wie sich die digitalen Massnahmen in der Krisenbewältigung bewähren und wie die Digitalisierung beim BAG vorankommt.

(Source: zVg)
(Source: zVg)

Corona hat dieses Jahr überschattet. Sie waren besonders intensiv damit beschäftigt. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Sang-Il Kim: Extrem spannend, arbeitsreich, voller Überraschungen, unglaublich vielseitig, auf eine gewisse Art befriedigend, weil man meistens sinnvolle Dinge gemacht hat und am Ende mitgeholfen hat, die Pandemie zu meistern. Eindrücklich ist auch zu sehen, dass manche IT-Projekte viel schneller gehen können als sonst.

Die Coronapandemie ist noch in vollem Gange und die zweite Welle ist da. Wie geht das BAG mit der aktuellen
Situation um?

Aus meiner Sicht sehr professionell, dennoch sehe ich vor allem auch die Belastung und Übermüdung; jeder gibt sein Bestes im Wissen darum, dass die Krise am Ende nur durch jeden Einzelnen gemeistert werden kann. Wir haben gelernt, dass unser Tun Grenzen hat, dass wir nur Rahmenbedingungen setzen können.

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen der Pandemie?

Persönlich glaube ich, dass am Ende die Solidarität in der Gesellschaft entscheidend sein wird, wie viele Menschen sterben werden. Vielleicht ist es mein asiatischer Hintergrund, der den Gemeinsinn etwas mehr nach vorne schiebt als den Individualismus. Bei der sinnvollen Nutzung der IT für die Pandemiebewältigung sehe ich etliche Mängel in der IT-Infrastruktur allgemein im Schweizer Gesundheitswesen: Viele wichtige Voraussetzungen für eine breite und schlüssige Nutzung von IT sind nicht gegeben. Zum Beispiel haben sehr viele Praxis-Informa­tionssysteme wenige standardisierte Schnittstellen zum Datenaustausch, und diese werden auf die Schnelle kaum verfügbar sein.

In Sachen Contact Tracing sind einige Kantone am Anschlag. Wie beurteilen Sie das Problem?

Uns alle hat die Vehemenz des Anstiegs überrascht, obwohl wir es theoretisch geahnt haben. Die Strategie des Test, Trace, Isolate, Quarantaine geht im Moment nicht mehr auf und wir müssen radikale Massnahmen ergreifen. Ich hoffe, wir lernen daraus nun für eine mögliche dritte Welle.

Der Vergleichsdienst Comparis stellte den Kantonen beim Contact Tracing ein vernichtendes Zeugnis aus: Fehlende Standards, fehlendes Know-how und Kantönligeist würden die Situationsanalyse behindern. Wie sehen Sie das?

Es ist nicht so einfach, wie man denkt, und von aussen ist Kritik schnell angebracht. Ich weiss, dass die kantonsärztlichen Dienste nie Däumchen gedreht haben. Etwas mehr einheitliches Vorgehen und einheitliche Strukturen hätten wohl geholfen. Zentral gesteuerte Länder wie Frankreich haben es aber nicht unbedingt besser gemacht. Bezüglich Situationsanalyse steht die Schweiz im internationalen Vergleich nicht so schlecht da, Deutschland hat beispielsweise bis heute kein zentrales Meldesystem mit direkter Anbindung aller Labore. Sie etablieren jetzt erst gerade solche Strukturen.

Statt auf das "Sormas"-System, das speziell für Contact Tracing entwickelt wurde, setzen einige Kantone angeblich noch auf Excel, andere wiederum auf Eigenentwicklungen. Frustriert Sie das nicht?

Es geht nicht darum, ob ich frustriert bin, es geht darum, dass jeder Kanton die Tools benutzen sollte, mit denen er das Contact Tracing gut durchführen kann. Meines Wissens wird Excel nicht mehr wirklich genutzt – alle Kantone setzen ein IT-System dafür ein. Die verschiedenen Lösungen haben alle ihre Vor- und Nachteile und am Ende müssen sie ihren Zweck erfüllen.

Wo sehen Sie die Vorteile des Föderalismus im Gesundheits­wesen?

Da bin ich wohl der falsche Ansprechpartner, denn gerade im Kontext von IT-Lösungen wären zentralere Strukturen oftmals einfacher umzusetzen und wohl auch effizienter zu nutzen. Aber in vielen anderen Bereichen kann der Föderalismus positive Aspekte zeigen, wie eine breitere Akzeptanz in der Bevölkerung oder auch Massnahmen, die im Einklang mit den regionalen Gegebenheiten stehen.

Wie kommen Sie mit der Swisscovid-App voran?

Ich würde mir wirklich mehr Verbreitung der App wünschen, aber dennoch bin ich froh, dass die App insgesamt gut genutzt wird und ihre Wirksamkeit unter Beweis gestellt hat. Unsere Statistiken belegen, dass wir neue Infektionsherde damit erkennen und Infektionsketten unterbrechen konnten. Die App wird stetig weiterentwickelt und angepasst, je nach neuen Erkenntnissen aus der Benutzung oder aus der Wissenschaft. Wir wollen die App noch attraktiver machen, zum Beispiel mit relevanten Informationen.

Mitte August lag die Zahl der täglichen App-Nutzer noch bei etwa 1,36 Millionen. Damals zeigten Sie sich zufrieden, da die Tendenz steigend war. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der App-Nutzung seitdem?

Nun haben wir Downloadzahlen von gut 2,75 Millionen und knapp 1,9 Millionen aktive User. Das ist nicht schlecht, aber wir wünschen uns noch mehr. Zu Beginn des steilen Anstiegs in der zweiten Welle ging es rasant nach oben mit den Nutzerzahlen, aber im Moment hat sich die Kurve abgeflacht. Da die Krise noch länger gehen wird, werden wir wohl auf über 3 Millionen Downloads kommen. Es wäre schön, wenn die Unentschlossenen erkennen würden, dass sie jetzt die App nutzen sollten, um eine mögliche dritte Welle gar nicht erst entstehen zu lassen.

Sie sind Arzt und Informatiker. Welche Rolle ist für Ihre Position als Digitalchef des BAG wichtiger?

Ich denke, beide Erfahrungen helfen mir sehr. Einerseits für die Empathie gegenüber den Gesundheitsfachpersonen, deren Prozesse und Bedürfnisse ich gut kenne, aber auch für die Patientinnen und Patienten. Andererseits kann ich mit meinem technischen Verständnis die Brücke bauen zwischen der Anwenderschaft und den technischen Umsetzern. Matchentscheidend ist aus meiner Sicht aber die Kommunikation und die Fähigkeit, sehr verschiedene Akteure und Sichtweisen zusammenzubringen und gemeinsam die richtige Lösung umzusetzen.

Wie kommen Sie mit der Digitalisierung des BAG voran?

Die Planungen laufen für eine erste Analysephase. Ich kann jedoch jetzt schon sagen, dass das BAG bereits heute teilweise sehr stark digitalisiert ist, etwa im Bereich des Verbraucherschutzes. Aber natürlich gibt es noch viel Verbesserungsbedarf für mehr Synergien und Effizienz. Basierend auf der Strategie des Bundes "Digitale Schweiz" und auf dem Zielbild für die digitale Transformation in der Bundesverwaltung, soll es schrittweise vorangehen, wobei die Krisenbewältigung immer noch im Vordergrund steht.

Können Sie konkrete Beispiele nennen, woran Sie momentan arbeiten?

Für die Krisenbewältigung müssen verschiedenste Informationsprozesse geschaffen oder optimiert werden. Die Swisscovid-App ist einer davon in meiner täglichen Arbeit, aber ebenso die Konzeption und Umsetzung der notwendigen IT-Unterstützung für die Teststrategie mit den neuen Schnelltests oder die kommende Unterstützung der Impfungen. Projekte wie Sormas oder die BAG-Contact-Tracing-Datenbank gehen bald in den Betriebsmodus über. Neuere Projekte wie Kontaktdaten-Management oder Cluster-Erkennung stehen an. Ein anderes Betätigungsfeld sind die klassischen E-Health-Themen, wie die sehr wichtige Einführung des elektronischen Patientendossiers oder die Umsetzung von E-Medikation. Cybersecurity wird ein neues Schwerpunktthema sein, wofür wir einen Experten gewinnen konnten.

Was sind Ihre wichtigsten Ziele für 2021?

Weitere Unterstützung mit IT-Tools für die Bewältigung der Pandemie. Zudem möchte ich bei der Einführung des elektronischen Patientendossiers den Nutzen und Mehrwert für Patienten und Behandelnde aufzeigen. Auch sollte die digitale Transformation innerhalb des Amtes starten. Auf mich wartet zudem viel Informations- und Überzeugungsarbeit bei allen Akteuren, damit sie auf die Reise der digitalen Transformation mitgenommen werden und diese akzeptieren, ganz nach dem Motto: keine digitale Transformation ohne soziale Transformation.

Zur Person:

Sang-Il Kim ist seit April 2020 Leiter der Abteilung Digitale Transformation und Mitglied der Geschäftsleitung des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Er hat eine medizinische Ausbildung und war als Radiologe tätig. Danach bildete er sich als Informatiker weiter und arbeitete unter anderem für Siemens und die Schweizer Post.

Die neue Abteilung wirkt einerseits nach innen und treibt die Digitalisierung im BAG voran und andererseits soll sie helfen, mit allen Akteuren des Schweizer Gesundheitswesens die Ziele der E-Health –Strategie 2.0 zu erreichen.

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