Corona und die Zukunft von Extended Reality
Während der Coronakrise haben viele Technologien einen Boom erlebt, darunter Virtual, Mixed und Augmented Reality. Obwohl VR, MR und AR noch nicht in der Masse angekommen sind, zeigen interessante Projekte deren Nutzen auf und wie die Zukunft aussehen könnte.
Lockdown, Homeoffice und Social Distancing haben während Corona die Adoption von Technologien befeuert, die das Arbeiten aus der Entfernung ermöglichen. Zudem stieg die Nachfrage nach Freizeitbeschäftigungen für daheim. Extended-Reality- (XR-) Technologien, also Augmented-, Mixed- und Virtual-Reality (AR, MR, VR) decken beide Felder ab. Der Boom in diesem Bereich ist also kaum verwunderlich. So prognostizierten Marktforscher Superdata ein Umsatzwachstum von 0,6 Milliarden US-Dollar im letzten Jahr.
Andererseits hat Corona viele Firmen auch hart getroffen und trotz des Booms haben sich XR-Technologien in der Breite noch nicht durchgesetzt. Vier Schweizer XR-Entwickler und einem XR-Forscher geben, wie sie das Coronajahr erlebten, welche Projekte von Corona beflügelt wurden und wie die Zukunft der Extended-Reality-Technologien aussieht.
Schweizer XR-Entwickler und Corona
Auch XR-Entwickler erlebten Einschnitte aufgrund der Krise. So wurden etwa beim VR-/AR-Dienstleister Bandara wie bei anderen Schweizer Unternehmen Budgets gestrichen, sagt Daniel Gremli, Co-Founder des Unternehmens. Zudem wird bei vielen XR-Anwendungen ein physischer Raum benötigt, erklärt Philip Eggenberger der Managing Director und Founder von Staay. Für seine Kunden sei dieser Raum vor allem während Promotionen oder Events gegeben, die aber aufgrund der Pandemie abgesagt wurden. "Entsprechend leiden wir hauptsächlich daran, dass die Öffentlichkeit gar nie zu sehen bekommt, was wir im XR-Bereich geschaffen haben", sagt Eggenberger.
Gleichzeitig spürten viele Unternehmen aber auch den Corona-Boom. So fehlten auf der einen Seite Events, um Projekte vorzustellen, auf der anderen Seite kamen dafür Anfragen für Projekte, die Events und Messen digital ersetzten. Bandara verzeichnete zusätzliche Anfragen in diesem Bereich, denn viele Unternehmen hätten sich überlegt, wie sie ihre Produkte im digitalen Raum präsentieren könnten, heisst es von Gremli. Auch Bitforge bemerkte eine deutliche Zunahme in diesem Bereich, sagt Reto Senn, Head of AR Products und Partner des Unternehmens.
Die Anfragen für AR-Lösungen stiegen bei der Digitalagentur Bitforge ausserdem auch im Bereich Bildung, Museum und E-Commerce. "AR-Projekte sind nicht mehr nur 'lustige' Prototypen, sondern haben einen klar messbaren Nutzen. In Zeiten, in denen die Konsumenten nicht in die Geschäfte gehen sollen, können sie sich beispielsweise ihre Produkte zu Hause in AR platzieren", sagt Senn. Dafür brauche es mittlerweile nicht einmal mehr eine App. Zudem habe das Interesse an AR-Lösungen im industriellen Bereich zugenommen. Hier stiessen vor allem die Themen Fernwartung und Schulungen auf Interesse. "Denn auch in Zeiten von Reiseverboten und Social Distancing müssen Anleitungen für Servicetechniker und Reparaturen möglichst exakt weitergegeben werden", erklärt Senn.
Auch Patrick Minder, der CEO der Luzerner Digitalagentur JLS, sah einen Corona-Boom. Denn die Krise habe zu einer Fokussierung der Investitionen geführt. "Aus unserer Sicht wurden weniger Augmented und Virtual Reality Projekte im letzten Jahr initiiert, dafür wurden diese umso konsequenter und meist erfolgreicher umgesetzt", sagt er dazu. Die Projekte hätten sich viel stärker an den Bedürfnissen der Nutzer orientiert. Für ihn haben die Digitalisierung von Events, Augmented oder Virtual Shopping Experiences oder Augmented Support Prozesse im letzten Jahr an Bedeutung gewonnen.
Extended Reality ersetzt Messen und verbessert das Kauferlebnis
Doch welche Projekte setzten die Entwickler konkret um? Viele der spannendsten XR-Projekte, welche die befragten Schweizer Entwickler vergangenes Jahr durchführten, sind in den Bereichen E-Commerce und virtuelle Events angesiedelt. Bandara entwickelte etwa eine virtuelle Messe für den ICT-Dienstleister Ingram Micro.
Die Besucher bewegten sich dabei mit einem 3-D-Avatar durch die virtuellen Räume und entdeckten dabei die Produkte. Über die Anwendung Voice konnten sie sich zudem mit anderen Avataren unterhalten. Das Erlebnis sollte einen Teil des echten Messefeelings nach Hause bringen, sagt Gremli. Man könne mit Laptop, Smartphone oder VR-Brille an solch virtuellen Messen teilnehmen.
JLS setzte während der Corona-Zeit für Micasa ein Projekt im E-Commerce-Bereich um. So ermöglicht es die Micasa-3-D-App, Produkte in den eigenen Wänden zu erleben. Durch Augmented Reality können verschiedene Möbel-Varianten getestet werden. Auch der Bestellvorgang wird über die App abgeschlossen. Die App schlägt laut Patrick Minder eine Brücke zwischen den digitalen und stationären Verkaufskanälen von Micasa.
Bitforge startete vergangenes Jahr gar einen ganzen AR-Commerce-Dienst. Der Dienst namens «Genie AR» wurde bisher vom Online-Pflanzenhändler Feey.ch, Coop Bau + Hobby und dem Schweizer Armaturen-Hersteller KWC eingesetzt, wie Senn sagt. Die Integration von Genie AR erlaubt Feey.ch-Kunden per AR festzustellen, ob eine Pflanze an den vorgesehenen Standort passt. Eine ähnliche Funktion führte der Dienst für Coop aus. Dort konnten Kunden sehen, ob der Weihnachtsbaum passt. KWC nutzt Genie AR sowohl als Showroom auf seiner Website als auch als Präsentationstool für das internationale Sales-Team.
Extended Reality kommt aber auch in anderen Bereichen zum Einsatz
Es gab während des Corona-Jahres aber auch interessante Projekte in anderen Bereichen. So habe Bitforge mit «einem grossen Schweizer Industrieunternehmen» eine Remote-Video-Assistance-Lösung für das iPad umgesetzt. Die AR-basierte Videotelefonie-Lösung werde eingesetzt, um Service- und Reparaturprozesse zu verbessern. «Es kommt oft vor, dass ein Spezialist für eine Reparatur zum Kunden reist, dieser aber noch weitere Unterstützung aus der Zentrale benötigt. Augmented Reality erlaubt als Ergänzung zum Videoanruf eine präzisere Kommunikation, da man Bauteile im Raum markieren kann», sagt Senn. Die Lösung von Bitforge unterscheide sich von der Konkurrenz, da sie als On-Premise-Lösung konzipiert worden sei, bei der die Sicherheit an erster Stelle stehe. Senn schätzt, dass sich die Nutzerzahl auch wegen der aktuellen Reisebeschränkungen schnell vergrössert habe. Laut Marc Pollefeys, Professor an der ETH und Leiter des Mixed Reality und AI Labs in Zürich, steigt die Bedeutung des Remote Servicing, also der ferngesteuerten Wartung von Industrieanlagen oder Fahrzeugen in kontaktlosen Zeiten besonders. Er sieht darin ein riesiges Potenzial, auch weil die Anwendungsbereiche noch nicht absehbar seien.
Auch in der Gesundheitsbranche gibt es für XR Möglichkeiten. So entwickelte Bandara 2020 für die Ostschweizer Fachhochschule eine VR-Applikation, mit der Symptome einer Demenzerkrankung simuliert werden. Die Applikation soll bei Pflegefachpersonen in Ausbildung ein Verständnis für die Krankheit schaffen, wie Gremli erklärt. "Es gibt immer mehr Studien, die den Mehrwert von Virtual Reality in der Ausbildung aufzeigen. Dementsprechend wenden sich immer mehr Unternehmen und Bildungsinstitutionen mit diesem Thema an uns." Dem stimmt auch Markus Zank zu, Leiter eines AR-Forschungsteams der HSLU. Er sieht grosses Potenzial in der VR-Technologie für Schulungen. Seiner Meinung nach sollten Unternehmen hier mehr über den Gebrauch der Technologie nachdenken. Dass die Zeit dafür reif sei, zeige auch, dass in Zürich im Dezember eine Wirbelsäulenoperation mit AR-Navigation durchgeführt worden sei, sagt Zank.
Mit der "Genie AR" von Bitforge konten Kunden von Coop Bau+Hobby testen, ob der Weihnachtsbaum in ihre Wohnung passt. (Source: zVg)
Für Eggenberger von Staay war die 4U-Kids-App für Mercedes-Benz das interessanteste Projekt des vergangenen Jahres. Staay gewann mit der App Gold an den Best of Swiss Apps Awards 2020 in der Kategorie MR, AR & VR. Die App sei eine Herausforderung gewesen, da sie Kinder im Alter zwischen 3 bis deutlich über 14 Jahre beschäftigen soll, während die Eltern mit dem Mercedes-Händler sprechen, wie Eggenberger erklärt. «Wir haben schliesslich für drei Alterskategorien zwei komplett eigenständige Spiele gemacht mit Abwandlungen für die dritte Kategorie», erklärt er. Zudem hätten sie mit der App etwas Neuartiges erschaffen, das im Bereich AR respektive maschinelle Bildverarbeitung auch technisch sehr fordernd gewesen sei.
Eine nachhaltige Entwicklung
Die Entwicklungen, die im XR-Bereich durch Corona angestossen wurden, seien nachhaltig. Da sind sich sowohl Entwickler als auch Forscher, die mit der Technologie arbeiten, einig. "Die Pandemie hat Unternehmen, Institutionen und Kulturschaffende dazu gezwungen, nach neuen Kommunikationsformen zu suchen – und viele davon sind bei XR-Technologien fündig geworden", sagt Gremli von Bandara. Für die Nachhaltigkeit spricht auch, dass die Branche laut IDC-Prognosen schon vor der Krise wuchs.
Auch Bitforge spüre seit Jahren eine zunehmende Nachfrage im XR-Bereich, sagt Senn. Für ihn wird die Entwicklung durch das Smartphone, das jeder in der Tasche hat, und durch die grossen Tech-Giganten wie Apple getrieben. Im Virtual-Reality-Bereich sieht Eggenberger Oculus Quest 2 als Treiber. Dabei meint er nicht bloss Freizeitanwendungen. "Durch die Homeoffice-Pflicht und die eingeschränkten Reisemöglichkeiten experimentieren nun viele Firmen mit innovativen Formen von virtuellen Meetings mit VR-Brillen neben den inzwischen etablierten Zoom-Sessions", sagt Eggenberger.
Corona befeuert XR-Shopping-Plattformen
Folglich dürfte Corona Entwicklungen beschleunigt haben, die schon im Gange waren. Vor allem im Onlineshopping sehen die Befragten eine immer grössere Rolle von Augmented Reality. So ist sich Senn von Bitforge sicher: "Augmented Reality wird in Kürze für eine Mehrheit der Käufer zum Shopping-Erlebnis dazugehören." Auch Minder und Gremli halten fest, dass "Virtual Try-Ons", also die Probe eines Produkts in Augmented oder Virtual Reality, den Onlinekaufprozess nachhaltig verändern werden. Wobei Minder festhält, dass man die Veränderung auch nach der Anwendung differenziert betrachten müsse.
Die Zunahme bei den virtuellen Events wird wieder zurückgehen
Im Bereich der virtuellen Events rechnen Minder von JLS und Gremli von Bandara hingegen mit einem Rückgang. Trotzdem dürften virtuelle Angebote nicht verschwinden und eine Ergänzung zu traditionellen Events bleiben. "Wir werden uns in Zukunft wohl zweimal überlegen, ob wir für eine Messe wirklich in die USA fliegen wollen – auch dem Klima zuliebe", sagt Gremli dazu. Auch Eggenberger von Staay ist der Meinung, dass viele Firmen künftig davon absehen werden, ihre Mitarbeitenden für ein einstündiges Meeting nach London zu schicken. Deshalb wird die Technologie auch im Homeoffice einen stärkeren Einfluss erhalten. Seiner Ansicht nach stehen wir in der Entwicklung von XR-Anwendungen fürs Homeoffice erst ganz am Anfang und es werde noch viel kommen. "Wegen der Pandemie deutlich schneller und nachhaltiger. Es gab plötzlich Use Cases und damit Anwender für solche XR-Software. Dadurch wurde auch auf der Anbieterseite wieder mehr investiert. Es bleibt definitiv spannend", sagt Eggenberger. Das bekräftigt auch ETH-Professor Pollefeys. Er ist der Meinung, dass VR im Homeoffice für grössere Gruppen besser geeignet sei als Videokonferenzen. Auch das Potenzial im Schulungsbereich ist hier noch nicht ausgereizt, wie Zank von der HSLU sagt.
Mit der 4U-Kids-App für Mercedes-Benz gewann Staay Gold an den Best of Swiss Apps Awards 2020 in der Kategorie MR, VR und AR. DIe App soll Kinder beschäftigen, solange ihre Eltern mit dem Mercedes-Händler sprechen. (Source: zVg)
Gremli von Bandara fasst die Entwicklung so zusammen: "Innovative Formate wie virtuelle Konzerte, AR-Shopping oder VR-Ausbildungstools wurden zwar vielerorts während der Pandemie eingeführt, sind aber gekommen, um zu bleiben."
Trotz Boom fehlt der Durchbruch
Trotz des Booms und des Corona-Pushs setzten sich XR-Technologien nach Einschätzung der Experten in der Öffentlichkeit noch nicht durch. "Der Hype war in den vergangenen Jahren sehr gross. In den letzten beiden Jahren – in Analogie zum Gartner Hype-Cycle – durchlief die Technologie aber auch etwas das ‹Tal der Tränen›, und auf breiter Front waren viele Marktteilnehmer, Kunden und Anwender etwas ernüchtert", sagt Minder von JLS. Als Ursache dafür sieht er den mangelnden Fortschritt bei den Basistechnologien und den fehlenden Nutzen bei den Anwendern.
Die Projekte, die vergangenes Jahr umgesetzt wurden, zeigen, dass die Anwender den Nutzen zumindest im B2B-Bereich allmählich erkennen. Aber welche Fortschritte bei den Technologien sollen zum allgemeinen Durchbruch von XR-Anwendungen führen? Kurzfristig sehen Eggenberger von Staay und Senn von Bitforge Apples "LiDAR Scanner" als wichtigste Technologie für AR-Anwendungen an. "Die unerreichte Präzision ist mit den bisherigen Smartphone-Kameras nicht zu vergleichen und ermöglicht eine Vielzahl an AR-Use-Cases, für die bisher die Präzision im Tracking gefehlt hat", sagt Senn dazu.
Doch zum grossen Durchbruch auf dem Massenmarkt soll es erst mit Glass-Technologien kommen, also mit AR-Brillen, die es erlauben, Augmented Reality wirklich in unseren Alltag zu integrieren, sind Minder von JLS und Zank von der HSLU überzeugt. Doch Senn hält fest, dass die bisherigen Modelle noch zu gross, zu schwer, zu teuer und zu wenig intuitiv bedienbar für den Durchschnitts-User seien. Pollefeys, der mit der neusten Brille von Microsoft forscht, glaubt, dass es noch einige Jahre dauern werde, bis massenmarkttaugliche Brillen auf den Markt kommen.
Bis dahin dürften XR-Anwendungen im Consumerbereich nach Minders Einschätzung Nischenanwendungen bleiben. Zudem fehlt aus Zanks Sicht noch eine Anwendung, die Consumer zum Kauf der für die Technologie nötigen Hardware bewegt. Also bleibt der Nutzen der Technologie mit VR-Homeoffice-, AR-E-Commerce- und Remote-Servicing- und Schulungsanwendungen wohl vorerst auf Geschäftsanwendungen beschränkt.