Anton Stadelmann im Interview

So will Twint zum führenden Bezahlsystem der Schweiz werden

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Belächelt, als Millionengrab bezeichnet, für tot erklärt. Das wurde Twint, die heute mit Abstand am häufigsten genutzte Mobile-Payment-App in der Schweiz. Über diese Entwicklung, die noch lange nicht zu Ende sein soll, spricht Anton Stadelmann, Deputy-CEO von Twint.

Anton Stadelmann, Deputy-CEO von Twint. (Source: Netzmedien)
Anton Stadelmann, Deputy-CEO von Twint. (Source: Netzmedien)

Wie ist Twint durch die vergangenen 18 Corona-Monate gekommen?

Anton Stadelmann: Twint ist wie fast alle Unternehmen von Corona getroffen worden, mit den bekannten Auswirkungen wie Homeoffice und so weiter. In Bezug auf unser Geschäft sahen wir zwei Haupteffekte: Einer war, dass wir natürlich auch betroffen sind, wenn das Geschäft unserer Kunden leidet. Wenn etwa ein Lockdown verfügt wird, deswegen Restaurants, Clubs, Bars und Läden geschlossen sind und der öffentliche Verkehr abnimmt, dann gibt es weniger Transaktionen. Insbesondere weil Twint immer dann eingesetzt wird, wenn das soziale Leben pulsiert. Wir stellten aber auch eine weitere Auswirkung fest: Insbesondere im Frühling 2020 entstand in der Gesellschaft eine neue Diskussion über die Vorteile des mobilen Zahlens in Bezug auf Hygienefaktoren beim Zahlungsprozess. Dabei merkte man, dass Twint mit Abstand die hygienischste Zahlart am POS ist, weil man nur sein Handy anfasst, das man ja sowieso immer anfasst.

Hygienischer als Apple Pay?

Beim Zahlprozess am Zahlterminal ist Apple Pay gleich hygienisch. Twint hat den Vorteil der breiteren Einsetzbarkeit: Sie können Twint auch mit einem QR-Code für die Bezahlung einsetzen, etwa in einem Hofladen, wo es keine POS-Infrastruktur mit Zahlterminals gibt – nur durch das Scannen des QR-Codes.

Man konnte lesen, dass Twint während Corona sehr viele neue Nutzer gewonnen hat ...

Das stimmt: Auf der einen Seite ist das Interesse an Twint aufgrund der Situation gestiegen, auf der anderen Seite hat sich das Wachstum der Peer-to-Peer-Zahlungen verlangsamt, weil sich die Menschen weniger getroffen haben.

Blicken Sie also mit einem weinenden und einem ­lachenden Auge auf die vergangenen anderthalb Jahre zurück?

Ich würde nicht von einem "lachenden Auge" sprechen, denn dafür ist die Situation zu ernst. Vielmehr sind wir froh, dass wir unsere Verantwortung der Gesellschaft gegenüber wahrnehmen und unseren Teil zur Lösung beitragen konnten. Wir etablierten etwa bei Ausbruch der Pandemie in wenigen Wochen ein zusätzliches Team, die genannte QR-Codes an Händler verschickten, damit diese ihren Kundinnen und Kunden mit Twint rasch eine mobile, kontaktfreie und hygienische Bezahlart anbieten konnten. Wir sind auch stolz, dass wir so schnell reagieren und damit vielen neuen Händlern eine neue Bezahlart zur Verfügung stellen konnten.

Wie geht es mit der Vollintegration von Twint bei weiteren Schweizer Banken voran? Ich habe gelesen, dass Banken zögern, weil es teuer sei.

Wenn eine Bank als Issuer bei Twint teilnehmen möchte, um den Dienst ihren Kundinnen und Kunden anbieten zu können, müssen diese Banken selbst eine eigene App betreiben. Das bedeutet Investitionen und auch Fixkosten für die Banken. Das führte dazu, dass aufgrund der Kosten-Nutzen-Abwägung insbesondere auch kleinere Banken zuwarteten. Bei den mittleren Banken sind vor Kurzem die Valiant Bank, die Migros Bank und die Thurgauer Kantonalbank mit Twint live gegangen. Ausserdem haben wir für die kommenden zwölf Monate eine volle Pipeline mit weiteren (auch kleineren) Banken, die Twint integrieren.

Beim Launch 2015 sagte der damalige Twint-CEO Thierry Kneissler, Twint werde das mobile Zahlen revolutionieren. Inwiefern ist das gelungen?

Jede Technologie, die einen Formatwechsel einläutet oder einzuläuten versucht, kann als revolutionär bezeichnet werden. Denken Sie etwa an den Vertrieb von Musik und Filmen, die man früher ausschliesslich auf CD beziehungsweise DVD oder Blue-Ray kaufte und heute fast ausschliesslich gestreamt ­werden. (Schallplatten und VHS-Kassetten gab es auch einmal. Anm. d. Red.) Ein vergleichbarer Paradigmenwechsel bei Bezahlsystemen kündigte sich mit dem Aufkommen von Mobile-Payment lange vor 2015 an. In der Schweiz gingen damals die beiden konkurrierenden Systeme Paymit und Twint an den Markt, die dann unter dem Namen Twint fusionierten. Insofern sind wir ein Teil dieses Umbruchs. Und bezogen auf den Schweizer Markt hat Twint Revolutionäres gebracht: Heute ist Twint mit mehr als 3,5 Millionen aktiven Nutzern in der Gesellschaft angekommen. Ausserdem schlossen wir 60 000 Händlerkunden über einen statischen QR-Code an Twint an, damit sie Geld auf digitalem Weg in Empfang nehmen konnten. Allerdings sind wir immer noch ganz am Anfang einer sehr langen Reise.

Twint wurde zu Beginn belächelt, später als Millionengrab bezeichnet, dann wunderte man sich, dass es nicht wieder eingestampft wurde, und 2021 ist Twint die meistgenutzte Mobile-Payment-App der Schweiz. Twint hat Apple Pay und Google Pay hinter sich gelassen. Wie stolz sind Sie auf darauf, das geschafft zu haben?

Wer etwas Neues versucht, stösst oft zuerst auf Ablehnung. Diese Phase durchlebten wir auch bei Twint, mit einem anfänglich garstigen Gegenwind. Wir wussten aber immer, dass wir ein Produkt haben, das einen echten Mehrwert für unsere Kundinnen und Kunden bietet. Und deshalb haben wir immer an uns geglaubt. Die Frage war für uns nie, "ob" der Durchbruch kommt, sondern nur "wann". Dass wir mittlerweile so grosse Namen wie Apple Pay und Google Pay mit grossem Abstand hinter uns gelassen haben, erfüllt uns aber nicht primär mit Stolz; mit Stolz erfüllt uns, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung, die Twint nutzen kann, dieses auch aktiv tut und dass wir Feedbacks von Kundinnen und Kunden erhalten, die belegen, dass wir ihren Alltag vereinfachen. Denn das wollen wir, das ist unser "Purpose", dafür stehen wir jeden Morgen auf.

Mobile Payment hatte gemäss einer HSLU-Studie im Bargeld- und Kreditkartenland Schweiz 2020 einen Marktanteil von weniger als 4 Prozent gemessen an allen Transaktionen. 2021 soll dieser auf 6 Prozent zulegen. Warum ist Twint angesichts so geringer Bedeutung von Mobile Payment dennoch ein lohnender Business-Case?

Entscheidend für den Business-Case ist das Wachstum des Mobile-Payment-Marktes, das sich 2021 im Vergleich zu 2020 effektiv auf gegen 10 Prozent verdoppeln dürfte. Dem gegenüber steht unser eigenes Wachstum, welches dasjenige des Marktes übertraf. Wenn man diese Wachstumszahlen in die Zukunft extrapoliert, kommen wir zu einem Szenario, in dem Twint das meistgenutzte Zahlungsmittel in der Schweiz ist. Vor Karte und vor Bargeld. Und zwar innerhalb der nächsten zwei bis vier Jahre.

Twint möchte mehr sein als eine Mobile-Payment-App und bietet einen In-App-Marktplatz namens "Twint+", wo sich Gutscheine kaufen lassen, man Parkgebühren bezahlen, Geld spenden, Bargeld beziehen, Versicherungen abschliessen kann. Klingt nach einem Gemischtwarenladen. Was sagen Sie dazu?

Wir möchten das Leben unserer Kundinnen und Kunden vereinfachen, wie ich bereits erwähnte. Das beginnt nicht zwingend erst mit dem Zahlungsprozess und endet auch nicht immer mit dem Zahlungsprozess. Mit dem Marktplatz "Twint+" möchten wir den Twint-Kundinnen und -Kunden Services bieten, die ihnen den Alltag erleichtern. Sei es das Bezahlen der Parkgebühr oder das Abschliessen einer Versicherung fürs Handy. Mit Twint leben wir den Gedanken der Plattformökonomie und wir werden in Kürze weitere Dienstleister aufschalten und so den Twint-Kundinnen und -Kunden eine grosse Breite an nützlichen Services bieten.

Aktuell sind es fünf Services ...

Genau. Mit diesen fünf unterschiedlichen Use Cases sind wir gestartet. Beispielsweise ist das geolokalisierte Parkieren direkt aus Twint heraus ein "Hochfrequenz"-Use-Case, währenddem digitale Gutscheine kaufen eine tiefere Frequenz mit höheren Volumen ausweist.

Welche weiteren Use Cases sind geplant?

Drei Beispiele dazu: Wir wollen in den kommenden Monaten eine Deal-Plattform lancieren, wo sich Kundinnen und Kunden einen "Twint-Deal" sichern können. Wir werden zudem ein Ticketing-System integrieren. Ein Dienst für Essenslieferungen ist ebenfalls geplant. Das alles machen wir nicht allein, sondern in Zusammenarbeit mit Partnern, die auf ihrem jeweiligen Gebiet Champions sind und ihr Business seit Jahren oder gar Jahrzehnten betreiben. Diese Champions bringen ihre Stärken auf den Tisch, wir unsere Plattform und dann ergibt eins plus eins eben nicht zwei, sondern drei.

An einer Pressekonferenz im Sommer vermeldete Twint, dass das Unternehmen den Sprung über die Landesgrenzen wage. Wie werden Sie vorgehen?

Mit der Auslandsexpansion möchten wir dasselbe tun wie in der Schweiz: das Leben unserer Kundinnen und Kunden vereinfachen. Sie sollen auch im Ausland die Möglichkeit haben, mit Twint zu bezahlen. Dies erreichen wir durch die Schaffung einer Akzeptanzinteroperabilität mit lokalen ausländischen Mobile-Payment-Anbietern. Wir möchten also nicht ausländische Märkte­ erobern und mit den dortigen lokalen Zahlungs­systemanbietern konkurrieren, sondern mit unseren Twint-Nutzerinnen und Nutzer auf Reisen gehen.

Wenn ich an Start-ups denke, die heutzutage in ­Accelerator-Programmen pitchen, dann haben dort nur diejenigen eine Chance auf Funding, die gross denken und die ganze Welt erobern möchten. Ist das, was Sie vorhaben insofern nicht zu klein gedacht?

Ich bin froh um diese Frage, denn früher hat man uns Grössenwahn vorgeworfen und heute wirft man uns vor, zu klein zu denken (lacht). Ich bin der Überzeugung, dass wir zu einem echten Gegengewicht zu anderen, auch sehr grossen und mächtigen Anbietern werden können, wenn wir im europäischen Verbund mit den anderen lokalen Mobile-Payment-Anbietern zusammenarbeiten. Unser Vorgehen hat unter anderem den Vorteil, dass wir die lokalen Gegebenheiten in den verschiedenen Ländern abbilden können, die so wichtig für die Etablierung von mobilen Zahlungssystemen sowie das Erreichen von internationaler Grösse und Signifikanz sind.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Mitgliedschaft von Twint in der European Mobile Payment Systems Association EMPSA?

Twint hat die EMPSA vor zwei Jahren mitgegründet und ich habe die Ehre, Chairman der Organisation zu sein. Mit der EMPSA verfolgen wir das Ziel, die verschiedenen Mobile-Payment-Systeme interoperabel zu machen, und das erfordert ein gemeinsames Gefäss. Aktuell haben wir 14 Mitglieder aus verschiedenen europäischen Ländern, mit rund 70 Millionen Kundinnen und Kunden. Wir haben bereits gemeinsame APIs definiert, mit denen die verschiedenen Systeme aneinander andocken können und arbeiten nun an der Integration.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich für Twint im Jahr 2022 wünschen?

Ich wünsche mir für unsere Nutzerinnen und Nutzer, unsere Partner und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass wir 2022 wieder so vollständig wie möglich zur Normalität zurückkehren können.

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DPF8_235238