Update: Bundesverwaltungsgericht prüft Kabelaufklärung – Digiges befürchtet Geheimjustiz
Das Gericht prüft, ob überwachte Personen in der Schweiz einen rechtsstaatlichen Anspruch darauf haben, sich gegen die Massenüberwachung zu wehren. Der Nachrichtendienst will seine Antworten an das Gericht geheim halten. Das stört die Digitale Gesellschaft, die als Klägerin auftritt.
Update vom 4.4.2023: Fast sechs Jahre sind vergangen, seit der Verein Digital Gesellschaft Schweiz (Digiges) seine erste Beschwerde gegen die Kabelaufklärung des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) eingereicht hat. Nachdem das Bundesgericht im Dezember 2020 bestätigt hat, dass die Digiges ein solches Beschwerderecht hat, befasst sich aktuell das Bundesverwaltungsgericht mit dem Anliegen. Wie Digiges mitteilt, äusserte sich im laufenden Verfahren der Nachrichtendienst des Bundes zum ersten Mal ausführlich detailliert zur Funktionsweise der Kabelaufklärung. Allerdings habe die Behörde weite Teile ihrer Antworten nicht parteiöffentlich eingereicht – das heisst: Sie sollen geheim bleiben.
Damit können auch die Beschwerdeführer die Antworten nicht einsehen, erklärt Digiges und kritisiert dies: Man müsse die Antworten nachvollziehen und überprüfen können, damit eine Beschwerde überhaupt möglich sei, schreibt die Organisation. Ansonsten würde es sich um eine Form der Geheimjustiz handeln, was für die Digiges nicht akzeptabel wäre.
Der Verein hält die Geheimhaltung auch aus einem zweiten Grund für brisant: Laut der Mitteilung räumte das Zentrum für Elektronische Operationen (ZEO) der Schweizerischen Armee ein, sogenannte Retrosuchen durchzuführen. "Das bedeutet, dass die Datenströme im Internet nicht allein in Echtzeit nach vordefinierten Stichwörtern durchsucht, sondern auch in einer Datenbank gespeichert werden", erklärt Digiges. "Diese Vorratsdatenspeicherung durch den Geheimdienst ermöglicht, die gleichen Datenströme nachträglich erneut zu durchsuchen." Im Dunkeln bleibe derweil, um welche Datenmengen es sich handle, welche Internet-Verbindungen und welche Telekom-Unternehmen betroffen seien und wie allfällige Filter funktionierten.
Erik Schönenberger, Geschäftsleiter der Digiges, sagt dazu: "Um dem Anspruch auf rechtliches Gehör und auf effektive Beschwerde zu genügen, müssen diese Informationen offen gelegt werden. Das Anlegen einer Datenbank mit der Kommunikation aller Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz ist eine neue Dimension der Massenüberwachung und inakzeptabel. Dies steht auch im Widerspruch zu allen Ausführungen des Geheimdienstes, der sonst immer betont, wie zielgerichtet die Kabelaufklärung sei und dass nur relevante Informationen weiterbearbeitet würden."
Originalmeldung vom 10.7.2019: Kabelaufklärung: Digitale Gesellschaft zieht vor Bundesgericht
Der Schweizer Geheimdienst überwacht den Datenverkehr zwischen der Schweiz und dem Rest der Welt und durchforstet ihn nach Suchbegriffen. Kritiker wollten das verhindern, doch im September 2017 trat das neue Nachrichtendienstgesetz in Kraft. Die Digitale Gesellschaft klagte dagegen und verlor vor dem Bundesverwaltungsgericht, wie Sie hier lesen können. Nun zog die Organisation den Entscheid vor das Bundesgericht.
"Mit seinem Urteil nimmt das Bundesverwaltungsgericht den überwachten Personen den rechtsstaatlichen Anspruch, sich gegen Massenüberwachung wehren zu dürfen", schreibt die Digitale Gesellschaft. Beschwerdeführer sind Serena Tinari (Recherchejournalistin und Präsidentin von investigativ.ch), Noëmi Landolt (Journalistin und Buchautorin), Marcel Bosonnet (Rechtsanwalt von Edward Snowden), Andre Meister (netzpolitik.org), Heiner Busch (Solidarité sans frontières) sowie Norbert Bollow und Erik Schönenberger von der Digitalen Gesellschaft.
Laut den Klägern verfügen überwachte Personen über kein richtiges Auskunftsrecht, da der Staat sie ja bereits überwacht. Es gebe bloss ein beschränktes Auskunftsrecht für Daten in einem geheimdienstlichen Informationssystem, nachdem diese zu einem Treffer führten und einer Person zugeordnet seien.
Das Verfahren ist Teil der strategischen Klagen der Digitalen Gesellschaft für Freiheitsrechte. Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg ist auch eine Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung in der Schweiz hängig, wie Sie hier lesen können.