Claudio Hintermann, CEO Abacus

"Wir müssen aufpassen, nicht bald Verhältnisse wie bei der Fifa zu haben"

Uhr | Aktualisiert
von Marcel Urech

Claudio Hintermann ist CEO von Abacus, dem grössten unabhängigen Schweizer Business-Software-Anbieter. Er ärgert sich über kuriose Softwarebeschaffungen und Politiker – und fürchtet, dass seine Kinder bald keine Jobs mehr finden.

(Quelle: Netzmedien)
(Quelle: Netzmedien)

Abacus ist mit Finanzbuchhaltungssoftware gross geworden. Wie wichtig ist diese heute noch?

Claudio Hintermann: Der Markt nimmt Abacus noch immer hauptsächlich als Spezialist für Finanzbuchhaltungs- und Lohnsoftware wahr. Wir sind heute aber viel breiter aufgestellt als in den Anfängen und bieten zahlreiche Software für kleinere und mittlere Unternehmen an. Unter anderem für den Immobilienmarkt, die Energiebranche und die öffentliche Verwaltung. Wir trauen allerdings dem eigenen Erfolg nicht und dürfen nie stillstehen. Abacus muss das Marktumfeld genau beobachten, Trends analysieren und agil bleiben. Wir müssen schnell auf Veränderungen reagieren können.

Wie verändert sich denn das Umfeld?

Die Digitalisierung krempelt gerade den Markt um. Sie verändert die Zusammenarbeit zwischen Treuhänder und Kunden. Papier verliert an Bedeutung, und Prozesse verändern sich. Firmen verschicken, verbuchen und bezahlen Rechnungen digital. Wir investieren darum in Mobile-Apps und Produkte wie Abapay. Die Lösung signiert Rechnungen, leitet sie selbstständig zum Kunden und zum Treuhänder weiter und verbucht alles automatisch in der Finanzsoftware des Treuhänders. Für Firmen fällt so nicht nur das Porto weg. Sie profitieren auch von einem vereinfachten Mahnwesen und der Verarbeitung des Zahlungsverkehrs. Abacus entwickelte Abapay gemeinsam mit Partnern und kooperiert dafür auch mit der Post.

Wer hatte die Idee für Abapay?

Wir reagieren mit Abapay auf Bedürfnisse des Marktes. Treuhänder teilten uns mit, dass das Sammeln von Rechnungsbelegen für sie mühsam und zeitaufwendig sein könne. Dieses Problem wollen wir mit der Software lösen. Abapay hat das Potenzial, die Art und Weise, wie Kunden und Treuhänder zusammenarbeiten, zu verändern. Die Weblösung erlaubt eine enge Kooperation mit allen Geschäftspartnern. Es ist zudem egal, ob die Kunden Openoffice, eine Excel-Vorlage oder sogar eine in die Jahre gekommene Fakturierungssoftware aus den 80er-Jahren nutzen – Abapay funktioniert softwareunabhängig und kann Rechnungen in jedem Format weiterverarbeiten.

Wird Papier bald ganz verschwinden?

Bald wohl nicht. Firmen dürften Rechnungen in absehbarer Zukunft weiter auf Papier verschicken. Digital Natives wollen aber heute schon kein Papier mehr. Die Digitalisierung erlaubt es, Dokumente an mehrere Empfänger gleichzeitig zu verschicken. Und das wiederum ermöglicht es Abacus, das Mahn- und Rechnungswesen zu vereinfachen. Natürlich kann der Treuhänder dem Kunden auch sagen, er müsse alle Rechnungen scannen. Aber funktioniert das? Es ist einfacher und zuverlässiger, digitale Kopien zu verschicken und diese automatisch zu verarbeiten.

Das Angebot von Abacus wird immer breiter. Wie entscheidet die Geschäftsleitung, in welche Märkte Abacus investiert?

Ich nenne unsere Strategie «Management by Geier». Wir schauen aus der Vogelperspektive auf den Markt herunter und handeln, wenn wir Lücken erkennen. Diese entstehen oft durch technologische und personelle Veränderungen. Voraussetzung für eine Expansion ist, dass die Mitarbeiter auch ein Interesse am neuen Markt haben. Bevor wir loslegen, holen wir uns oft Hilfe von externen Beratern. Viele Ideen kommen auch von unseren Kunden und Partnern. Sie machen uns auf ihre Bedürfnisse aufmerksam, wir orientieren uns daran. Das führt zu einer Vertikalisierung der Märkte – Abacus bietet immer mehr an.

Wo kann Abacus überhaupt noch wachsen?

Wachstum bringt vor allem die Digitalisierung. Sie ist noch nicht bis zu allen Mitarbeitenden durchgedrungen. Jeder von ihnen hat aber heute mit seinem Smartphone einen Computer in der Hosentasche. Das eröffnet uns neue Möglichkeiten. Wir bei Abacus sind der Meinung, dass Apps ideal dafür sind, um Arbeitsprozesse effizienter zu gestalten. Ein Beispiel ist Abaclik. Kunden nutzen die App, um Spesen, Quittungen und Arbeitszeiten auf ihren Smartphones zu erfassen. Oder um unterwegs Personaldaten auf einem Tablet zu bewirtschaften. Für die Verarbeitung dieser Daten war bis jetzt die Personalabteilung verantwortlich. Sie brachte sie von Papier in eine digitale Form. Nun läuft dieser Prozess komplett digitalisiert ab. Vor ein paar Jahren war das noch undenkbar.

Ist die Digitalisierung auch eine Bedrohung für Abacus?

Für Abacus ist sie eher eine Chance. Die Digitalisierung bedroht aber Arbeitsplätze und ganze Berufsgruppen – auch in der Schweiz. Viele Berufstätige werden sich um­orientieren müssen, da gewisse Jobs einfach wegfallen werden. Die industrielle Revolution entfachte eine Verschiebung vom primären zum sekundären und später tertiären Sektor. Die Bedeutung der Landwirtschaft nahm ab, die der Industrie und des Dienstleistungssektors zu. Damals konnte man noch sagen, dass es einfach nur eine Umverteilung war. Die Digitalisierung rationalisiert nun aber in allen Sektoren Jobs weg. Es ist auch die Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass der Mensch in dieser Entwicklung weiterhin eine Rolle spielt.

Fürchten Sie, dass Ihre Kinder bald keine Jobs mehr finden?

Ja, tatsächlich. Viele Menschen werden in Zukunft wohl gratis arbeiten. Zum Beispiel Entwickler, die monatelang ohne Bezahlung eine App programmieren und dann auf den grossen Erfolg hoffen. Das kann aber nur funktionieren, wenn die älteren Generationen die jüngeren mitfinanzieren. Klar, hochqualifizierte Arbeitskräfte werden immer eine Stelle finden. Was aber ist mit der grossen Masse? Wenn wir die Automatisierung weiter vorantreiben, wird es für sie in Zukunft kaum noch Jobs geben. Computer erledigen einfache Arbeiten nun einmal effizienter und zuverlässiger als Menschen.

Was können wir dagegen tun?

Das ist die grosse Frage. Unsere Gesellschaft wird neue Wege finden müssen, um mit diesen Entwicklungen umzugehen. Ich weiss nicht, ob Mindestlöhne oder ein bedingungsloses Grundeinkommen eine Lösung sind, aber wir müssen zumindest darüber nachdenken. Und Unternehmen müssen sich wieder ihrer sozialen Funktion bewusst werden. Sie sind ja nicht nur da, um Geld zu verdienen.

Was unternimmt eigentlich Abacus gegen diese Entwicklung? Die Software von Abacus vernichtet ja auch Arbeitsplätze.

Das stimmt natürlich. Abacus schafft in der Region aber auch Arbeitsplätze. Im Gegensatz zur Konkurrenz entwickeln wir unsere gesamte Software in der Schweiz. Für die Mitarbeitenden schaffen wir eine attraktive Campus-Atmosphäre mit Gratis-Essen und Fitnesscenter. Wir unterstützen zudem lokale Einrichtungen wie die Stiftsbibliothek und versuchen, für die St. Galler zu denken. So nehmen wir ganz bewusst soziale Verantwortung wahr.

Macht Abacus das nicht auch, um Fachkräfte anzuziehen?

Wir machen das vor allem aus Überzeugung. Aber klar, es hilft auch bei der Suche nach Fachkräften. Unser Hauptsitz liegt nun einmal nicht in Zürich, sondern mitten in der «Pampa». Und Schweizer sind alles andere als mobil. Berner, Basler und Luzerner kommen kaum nach Wittenbach, um zu arbeiten. Die Ostschweiz ist für sie nicht attraktiv genug. Ich kenne sogar Leute, die zurück in den Aargau zogen, weil ihnen St. Gallen zu langweilig war.

Abacus betreibt auch Niederlassungen in München und Hamburg. Wie läuft das Geschäft in Deutschland?

Hervorragend. Die Kunden werden immer grösser und wichtiger. Es ist ein gutes Zeichen, dass beide Standorte neue Leute einstellen wollen. Was uns jetzt noch fehlt, ist eine Niederlassung in der Mitte Deutschlands. Gut möglich, dass wir bald eine eröffnen.

Abacus will 2017 in seiner Homebase Wittenbach ein neues Gebäude für rund 140 Mitarbeiter eröffnen. Wie verläuft der Bau?

Gut, aber unsere Begeisterung für den Standort Wittenbach hält sich gerade in Grenzen. Wir sind der grösste Arbeitgeber der Region, aber Gemeinde und Kanton unterstützen uns nicht. Stellen Sie sich einmal vor, die Appenzeller dürften in ihrem Kanton keinen Appenzeller Käse mehr verkaufen. Abacus steckt in einer ähnlichen Situation.

Wie meinen Sie das?

Der Kanton schliesst Produkte von Abacus kategorisch vom Wettbewerb aus. 74 der 77 St. Galler Gemeinden beziehen ihre Software beim Verwaltungsrechenzentrum (VRSG) St. Gallen. Die meisten davon sind auch an der Aktiengesellschaft beteiligt. Die Gemeinden subventionieren mit ihrem Verhalten eine Software, die Soreco in Vietnam entwickelt. Welchen Zweck hat eine privatrechtliche Firma, die im Besitz der öffentlichen Hand ist, wenn sie den Markt monopolisiert und die Preise selbst festsetzen kann? Und wo bleibt die Solidarität mit dem Standort Schweiz? Es ist absurd, dass das VRSG – das der Öffentlichkeit gehört – nicht sozial sein muss. Wir müssen aufpassen, nicht bald Verhältnisse wie bei der Fifa zu haben.

Würden Sie sich heute für einen anderen Standort als Wittenbach entscheiden?

Das ist schwierig zu sagen. Wir sind eine St. Galler Firma, und viele Mitarbeiter sind hier verwurzelt. Anstatt mit uns arbeitet die Region aber gegen uns. Und den Politikern scheint dies völlig egal zu sein. Wir müssen uns darum gut überlegen, ob wir weiter in den Standort Wittenbach investieren wollen. Es gibt ja auch Alternativen.

Etwa Thalwil, wo Abacus erst gerade eine Niederlassung eröffnete.

Zum Beispiel. Wir konzentrieren uns dort aber vorerst auf das Baunebengewerbe. Also auf Spengler, Sanitär, Maler, Gipser und Haustechniker, die unsere Lösung Ababau nutzen. Abacus hat auch ein Büro in Biel, wo weiteres Wachstum möglich ist. Es gibt bei uns ausserdem Bereiche, die nicht stark mit der Region verwurzelt sind. Diese müssen wir nicht unbedingt in Wittenbach betreiben.

Wie hat die Öffentlichkeit auf den Beschaffungsstreit reagiert?

Die Regierung ging auf Tauchstation und will uns weismachen, dass es ein Problem mit Schnittstellen gibt. Das stimmt aber nicht. Das wahre Problem ist, dass die meisten Politiker keine Ahnung von Informatik haben. Sie sehen Probleme, wo es gar keine gibt. Will man sie aufklären, blocken sie ab. In Wirklichkeit geht es um etwas ganz anderes: Die VRSG will sich ihr Gärtchen ausserhalb des Beschaffungsrechts sichern. Solange das die lokale Wirtschaft fördert, würden wir uns nicht einmal darüber beklagen. Im St. Galler Beschaffungsstreit ist aber genau das Gegenteil der Fall.

Wie geht es jetzt weiter?

Der Ball liegt nun beim Verwaltungsgericht. Es muss entscheiden, ob das Vorgehen des Verwaltungsrechenzentrums St. Gallen rechtens ist oder nicht. Ist es in Ordnung, dass sich die Gemeinden einen privatwirtschaftlichen Arm leisten, der am Beschaffungsrecht vorbei operiert? Diese Frage muss das Gericht beantworten.

Wird Abacus den Prozess gewinnen?

Wir rechnen fest damit. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir dann auch unsere Software anbieten können. Womöglich machen die Gemeinden eine Einkaufsgenossenschaft, um eine Ausschreibung zu umgehen. Oder sie schreiben absichtlich so aus, dass wir keine Chance haben. Es ist schon bemerkenswert, dass es im ganzen Kanton fast keine Gemeinde gibt, die ihre Software nicht beim VRSG bezieht. In der Psychologie nennt man dieses Phänomen Group­think. Die Gemeinden handeln gegen ihre eigenen Interessen und bezahlen freiwillig zu viel für ihre Software – und trotzdem weichen sie nicht von ihrer Haltung ab. Das ist an Absurdität kaum zu überbieten.

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