"Die meisten Entscheidungen basieren heute nicht auf quantitativen Informationen"
Erstaunlich wenig Unternehmen stützen ihre Entscheidungen auf Daten und Erkenntnisse, sagt Jennifer Belissent, Principal Analyst beim Marktforscher Forrester. Sie erklärt, warum Insights-driven Leadership nicht nur die Chefetage betrifft, warum der Wechsel zur datengestützten Leitung so schwer ist und was eine erkenntnisorientierte Führungskraft auszeichnet.
Was versteht man allgemein unter Insights-driven Leadership?
Jennifer Belissent: Eine Insights-driven – oder erkenntnisorientierte – Organisation setzt Daten gezielt strategisch ein. Sie nutzt die daraus gewonnenen Kenntnisse – quantitative Informationen –, um sich zu differenzieren und Wettbewerbsvorteile zu schaffen.
Was bedeutet das?
Unternehmen nutzen Daten zur Entscheidungsfindung. Dadurch verstehen sie die Bedürfnisse und Vorlieben ihrer Kunden besser und können ihnen gezielt personalisierte Produkte und Dienstleistungen anbieten. Oder sie erhalten bessere Einblicke in ihre Prozesse und können sie weiter optimieren. Letztlich geht es jeweils darum, das Erlebnis für Kunden zu verbessern, damit sie später wiederkommen.
Warum ist das so wichtig?
Nicht jeder Mitarbeiter weiss, dass er mit Daten arbeitet. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage begannen wir mit der Frage: "Arbeiten Sie mit Daten?" Viele antworteten: "Nein", fügten aber hinzu: "Ich mache nichts mit Zahlen. Ich arbeite nicht mit Daten." Oder: "Mein Team ist nicht verantwortlich für Berechnungen. Wir machen keine Daten." Die Tatsache, dass Menschen Daten nicht erkennen, ist ein sofortiger Showstopper. Denn auch Menschen, die glauben, selbst nicht mit Daten zu arbeiten, tun es wahrscheinlich.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein leitender Angestellter eines Lebensmittelunternehmens stellte bei der Datenanalyse einer Filiale in Frankreich überrascht einen Anstieg der verkauften Frühstückswürste fest. Plötzlich kaufte dort niemand mehr etwas anderes: keine Croissants, zum Beispiel. Es sah aus, als hätten die Kunden dieser Filiale auf einmal kuriose kulinarische Gewohnheiten entwickelt. Doch dem war nicht so. Es stellte sich heraus, dass ihre Kassen vorprogrammierte Knöpfe hatten, die es dem Kassierer erlaubten, einen einzigen Knopf zu drücken, anstatt einen Preis einzugeben. Das sollte den verkauften Artikel erfassen und die Bestandsverwaltung erleichtern. Für Frühstückswürstchen war ein solcher Knopf programmiert. Würstchen und Croissants hatten den gleichen Preis, und um die Kunden lediglich schnell bedienen zu können, betätigte der Kassierer bevorzugt den Knopf für Würstchen, auch wenn sie ein Croissant kauften.
Sollte es nicht für alle Unternehmen normal sein, ihre Entscheidungen auf Daten und Erkenntnisse zu stützen?
Einsichtsorientierte Führungspersönlichkeiten – und die Kultur, die sie schaffen – sind immer noch selten. Die meisten Entscheidungen basieren heute nicht auf quantitativen Informationen. Die Teilnehmer des Forresters Business Technographic Surveys sagen uns, dass über die Hälfte der Entscheidungen auf Instinkt, Erfahrung oder Meinung beruht. So wurde es schon immer gemacht. Und auf organisatorischer Ebene sind weniger als 10 Prozent der Unternehmen wirklich erkenntnisorientiert, basierend auf Forresters Reifegradmodell. Sogar Unternehmen, die stark in Daten und Technologie investiert haben, haben Mühe damit.
Warum ist das so?
Weil alte Gewohnheiten schwer aussterben. Ausserdem braucht es mehr als Daten und Technologien. Wahrhaft erkenntnisorientierte Unternehmen konzentrieren sich auch auf Menschen und Prozesse. Diese vier Säulen gemeinsam (Menschen, Prozesse, Daten und Technologie) stützen eine auf Erkenntnissen basierende Strategie.
Warum vertrauen nicht mehr Entscheidungsträger auf Daten?
Entscheidungsträger wissen oft nicht, wie sie Daten zur Entscheidungsfindung nutzen können. Einige sind den Daten gegenüber misstrauisch. Wir hören Bedenken über "menschliches Versagen" oder "Unaufmerksamkeit" bei der Datenerhebung - wie im Beispiel mit den Frühstückswürsten. Andere fühlen sich mit den Erkenntnissen nicht wohl – etwa dann, wenn sie nicht wissen , wie sie abgeleitet wurden.
Was zeichnet eine besonders gute erkenntnisorientierte Führungskraft aus?
Die besten Führungskräfte bringen Mitarbeiter frühzeitig in den Erkenntnisprozess ein. Die Betreiber von Fertigungslinien, die letztlich die Erkenntnisse aus einem neuen Optimierungsmodell nutzen werden, spielen beim Aufbau des analytischen Modells eine entscheidende Rolle. Sie kennen ihre Prozesse am besten. Die besten Insight-Führungskräfte schaffen diese Art von kollaborativer Umgebung und kombinieren sowohl Daten als auch Erfahrung, um die analytischen Modelle zu verfeinern.
Was hat das mit Insights-driven Leadership zu tun?
Hätten die Filialmanager diese Daten zur Bestimmung künftiger Lebensmittelbestellungen verwendet, wären für die Kunden bald nur noch Frühstückswürste und keine Croissants mehr auf der Speisekarte gestanden. Die Lektion hier ist, dass erkenntnisorientierte Führungskräfte sicherstellen müssen, dass alle Mitarbeiter verstehen, was Daten heute sind und welchen Wert sie für ihr Unternehmen haben. Darum ist es wichtig, eine auf Erkenntnissen basierende Kultur im gesamten Unternehmen zu schaffen. Inzwischen verfügt das Lebensmittelunternehmen über ein starkes Datenkompetenzprogramm, um den Mitarbeitern ihre Rolle bei der Erfassung, dem Schutz und der Nutzung von Daten zu vermitteln. Qualitativ hochwertige Daten erhöhen die Wahrscheinlichkeit guter Entscheidungen und verbessern die Kundenerfahrung.
Wie wird man zum einsichtsorientierten Entscheidungsträger?
Entscheidungsträger müssen eine neue Art der Entscheidungsfindung erlernen. Sie müssen Einsichten nutzen, um eine Entscheidung zu fällen. Aber sie müssen auch ermutigt werden, die Erkenntnisse mithilfe ihrer eigenen Erfahrung und der darauf beruhenden Intuition zu überprüfen und Annahmen in Frage zu stellen.