Wie die Führung von morgen Vertrauen aufbauen kann
Welche Arbeitsformen und Kompetenzen taugen für die Zukunft? Wie können Unternehmen mit der Digitalisierung Schritt halten, die richtigen Fach- und Führungskräfte finden – und das dafür nötige Vertrauen aufbauen? Antworten gab es an der vierten Arbeitswelten-Konferenz von SwissICT.
Der Fachkräftemangel in der IT-Branche spitzt sich zu. Bis 2028 braucht die Schweiz insgesamt 117'900 neue ICT-Spezialisten, wie eine Studie von ICT-Berufsbildung Schweiz kürzlich gezeigt hat. Den Unternehmen bleibt also kaum eine andere Wahl: Sie machen die Not zur Tugend, indem sie auf flexible Arbeitsmodelle, attraktive Arbeitsumgebungen und Weiterbildungsangebote setzen. Im Idealfall soll das zweierlei bezwecken: ein Wettbewerbsvorteil im Kampf um Talente und eine Chance, die Herausforderungen der Digitalisierung zu bewältigen.
Doch wie soll das gehen? Wie können Führungskräfte neue Formen der Arbeitsorganisation konkret umsetzen? Und was braucht es dafür? Antworten auf diese und weitere Fragen lieferte die vierte Ausgabe der Arbeitswelten-Konferenz von SwissICT.
Der Event ging in hybrider Form über die Bühne. "Zum ersten Mal seit März können wir uns endlich wieder treffen – und zwar nicht nur online, sondern auch vor Ort", sagte SwissICT-Geschäftsführer Christian Hunziker, als er die Teilnehmer und Referenten beim OIZ der Stadt Zürich begrüsste. Das ETH-Spin-off Seervision, Preisträger beim Digital Economy Award, brachte seine KI-gesteuerten Kameras mit, um die Vorträge und Diskussionen ins Büro sowie ins Homeoffice zu übertragen.
Christian Hunziker, Geschäftsführer von SwissICT. (Source: Netzmedien)
Keine Führung ohne Gefolgschaft
Matthias Mölleney, Unternehmensberater und der letzte Personalchef der Swissair, sprach über die aktuellen Schwierigkeiten der Unternehmensführung. Das Problem: "Silodenken wurde nicht wegdigitalisiert, sondern digitalisiert – mit dem Ergebnis, dass wir heute digitale Silos haben." Aus Sicht des Managements verschärfe sich dadurch ein Zielkonflikt: Führung soll Effizienzvorteile erzeugen, aber auch innovativ sein. Wie bekommt man beides unter einen Hut? Nur durch die engagierte Kooperation aller Beteiligten, sagte Mölleney.
Um das zu fördern, bräuchte es firmenübergreifende Netzwerke, selbstorganisierende Teams und ein Konzept von Shared Leadership. "Wir müssen uns von der Vorstellung des allmächtigen CEO verabschieden", sagte Mölleney. Stattdessen müsse man Leadership da hin bringen, wo es Entscheidungen brauche. "Einige Chefs hören das zwar nicht gerne, aber es ist so: Führung ist Dienstleistung."
Matthias Mölleney, Unternehmensberater und ehemaliger Personalchef der Swissair. (Source: Sergio Mistretta, SwissICT)
Der Begriff Leadership müsse ergänzt werden um die Dimension Followership, fuhr Mölleney fort. Und das wiederum bedinge Vertrauen. "Das Konzept der agilen Organisation kann nur dann funktionieren, wenn wir lernen, wie wir Vertrauen aufbauen können." Dabei sei es wichtig, Vertrauen von Sympathie zu entkoppeln. "Wir müssen auch jenen Menschen vertrauen können, mit denen wir noch nicht einmal ein Bier trinken würden."
Vertrauen kommt aus dem Bauch
Vertrauen gilt als elementares Schmiermittel, das Wirtschaft und Gesellschaft am Laufen hält. Aber warum eigentlich? Was soll das überhaupt bedeuten? Und was springt für Unternehmen dabei heraus? Auf solche Fragen hat Antoinette Weibel die passenden Antworten. Sie ist Vertrauens- und Organisationsforscherin, lehrt an der Universität St. Gallen und referierte unter dem Titel: "Trust Rocks – Sauerstoff der neuen Arbeitswelt."
Definitionen gibt es zuhauf, viele davon sind sperrig. Weibel brachte es jedoch eingängig auf den Punkt: "Vertrauen ist der Wille, sich verletzlich zu zeigen." Dazu brauche es Intuition – "ein Bauchgefühl, dass keiner da ist, der eine Rechnung mit mir offen hat."
Vertrauen ist lukrativ
Was passiert, wenn das Vertrauen innerhalb eines Unternehmens abhanden kommt? Die Transaktionskosten steigen. Das heisst: Je tiefer das Vertrauen, desto höher die Vertrags-, Verhandlungs- und Kontrollkosten, erklärte Weibel. Vertrauen kann also Kosten sparen. Und mehr noch: "Vertrauen kann Wert schaffen, sprich: Geld einbringen." Wenn Vertrauen vorhanden sei, steige die Produktivität wie auch das Engagement der Mitarbeitenden im Schnitt um 30 Prozent; und der Mut um 40 Prozent. "Das scheint mir am wichtigsten, denn Mut ist Voraussetzung, um Verantwortung zu übernehmen", sagte Weibel.
Antoinette Weibel, Professorin für Personalmanagement an der Universität St. Gallen. (Source: Netzmedien)
Ein weiteres Argument dürfte insbesondere HR-Verantwortliche interessieren: "Vertrauen holt und behält Talente." Mitarbeitende kommen wegen der Vertrauensreputation, sie bleiben aufgrund des Vertrauensklimas – "und sie gehen, wenn ein misanthropischer Chef da ist, der kein Vertrauen schenken kann." Das gelte gerade auch für einen besonderen Typus Manager: den sogenannten Change Champion. "Angeblich wollen die Unternehmen solche Leute." Wer sie tatsächlich nicht finde, sollte sich überlegen, wie es um die eigene Vertrauenskultur bestellt ist.
Vertrauen lässt sich aufbauen und pflegen – in drei Schritten
Wie kommt man zu Vertrauen im Unternehmen? Weibel hielt drei Punkte fest. Erstens: die richtigen Leute befördern, und zwar solche mit hoher Vertrauensneigung. Denn empirische Studien hätten gezeigt: Wer ein gewisses Vertrauenstalent mitbringt, initiiert und stärkt Vertrauensbeziehungen, verhält sich häufiger vertrauenswürdig – und lässt sich weniger über den Tisch ziehen.
Zweitens sollte Vertrauen als Haltung ausdrücklich erwünscht sein. "Vergessen Sie das alte Credo der Ökonomie, von wegen: Vorsicht ist besser als Nachsicht", sagte Weibel. "Vertrauen ist besser als Kontrolle – und besser als die Vorstellung vom Homo Oeconomicus, wonach der Mensch nur mit Karotte und Peitsche funktioniert."
Und drittens: Vertrauen kann man lernen. Im Alltag bedeutet das zum Beispiel: aktives Zuhören, Delegieren, um Hilfe bitten. Agile Organisationsformen könnten dabei helfen, weil sie die Koordination zwischen den Teammitgliedern in der Regel erleichtern würden. Ratsam sei auch, das Positive zu messen. Zum Beispiel, indem man das Vertrauensklima durch Mitarbeiterbefragungen überprüft. Praktische Übungen, die das Bewusstsein für Vertrauen schärfen sollen, gibt es auch – es braucht aber die Bereitschaft, sich selbst bei der Nase zu nehmen. "Ohne Selbstreflexion funktioniert es nicht", sagte Weibel.
Prozesswissen aneignen statt Programmieren lernen
Vertrauensfähigkeit ist eine Schlüsselkompetenz – allerdings nur eine von vielen. Was ist mit der Informatik? Sollten nicht alle Schüler so früh wie möglich Programmieren lernen? Nicht unbedingt – angesichts einer ungewissen digitalen Zukunft sei es sinnvoller, sich überfachliches, prozessorientiertes Know-how anzueignen, sagte Jürg Schweri, Professor am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung in Bern. Er sprach von sogenannten transversalen Kompetenzen. Dazu gehören Fähigkeiten wie Kommunikation, Problemlösen, Team-Fähigkeit, Kundenorientierung, aber auch der Umgang mit Algorithmen und grossen Datenmengen. "Computational Thinking wird stärker gefragt sein als Coding-Skills", sagte Schweri.
Jürg Schweri, Professor am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung. (Source: Netzmedien)
Was das duale Bildungssystem der Schweiz angeht, zeigte sich Schweri zuversichtlich. Für die Zukunft sei es gut aufgestellt. "Die Durchlässigkeit in unserem Bildungssystem ist eine Art eingebaute Agilität", sagte er. Doch auch hier gebe es Herausforderungen. Handlungsbedarf bestehe beispielsweise in der Qualitätssicherung. "Da geben wir den Betrieben einen grossen Vertrauensvorschuss." Besonders bedenklich sei jedoch ein anderer Aspekt: "In der Schweizer Berufsbildung gibt es eine extrem hohe Gender-Segregation – viel mehr als in anderen Ländern. Das finde ich schon krass und nicht mehr zeitgemäss."
Der Konfigurator für mehr Diversität
Mehr Diversität in der Belegschaft sei das grosse Ziel hinter dem Projekt gewesen, sagte Johannes Keller von Accenture. "Niemand möchte aufgrund von soziodemographischen Merkmalen angesprochen werden – nur die Leistung soll zählen." Kellers Vortrag weckte beim Publikum grosse Neugier. Er stellte ein Tool namens MyContract vor, das seit 2019 in allen Bereichen der Schweizer Niederlassung von Accenture zum Einsatz kommt.
Johannes Keller, HR People Advisor Teamlead bei Accenture. (Source: Netzmedien)
Mit dem Tool könnten die Mitarbeitenden von Accenture – mit Ausnahme der Geschäftsleitungsmitglieder – ihren Arbeitsvertrag flexibel gestalten. Auf der Benutzeroberfläche finden sich drei Schieberegler, mit denen der Nutzer jederzeit frei wählen kann, wie hoch sein Arbeitspensum sein soll, wie viele Ferientage er beziehen will und ob er dazu bereit ist, geschäftlich zu reisen. Im Prinzip geht es um eine Personalisierung der Arbeitsverträge, wie Keller sagte. "Es ist aber auch eine Veränderung von Machtverhältnissen: Das Individuum gibt vor, die Company folgt."
Wie hat die Belegschaft reagiert? Sind plötzlich alle auf Teilzeit umgestiegen? Die Ferienbezüge seien tatsächlich gestiegen und die Vollzeitäquivalente gesunken – allerdings nur im einstelligen Prozentbereich, sagte Keller. "Die meisten Leute nutzen es gar nicht, sind aber froh, dass die Möglichkeit besteht." Vor allem ältere Mitarbeitende – insbesondere Männer – würden sich seit der Einführung des Tools häufiger für eine Reduktion des Arbeitspensums entscheiden, sagte Keller. Auf die Publikumsfrage, warum, antwortete er: "Wir erklären uns das so, dass ältere Mitarbeitende nun deswegen häufiger Teilzeit wählen, weil sie nicht mehr danach fragen müssen."