Digitalisierung im Gesundheitswesen: von Treibern und Getriebenen
Datenbasierte Ökosysteme im medizinischen Bereich: Wie funktioniert das in der Schweiz? Wer will das und wozu? Und was erlaubt der Datenschutz? Darüber diskutierten die Referierenden am Swiss eHealth Forum 2022. Zu reden gab auch die Frage, welche Akteure die digitale Transformation im Gesundheitswesen zurzeit vorantreiben – und wer sich eher treiben lässt.
Zettelwirtschaft, Daten-Debakel und ein EPD, das der Präsident der Zürcher Ärztegesellschaft Josef Widler unlängst als "Risikoschwangerschaft mit einer Totgeburt" bezeichnet hat – die Digitalisierung des Schweizer Gesundheitswesens ist, gelinde gesagt, verbesserungsfähig. Wer also gibt den Takt an? Wer zählt heute zu den Promotoren, die sich dafür einsetzen, Probleme zu lösen? Die Pusher der digitalen Transformation des Gesundheitswesens: Das war das Leitmotiv des ersten Tages des Swiss E-Health Forum 2022.
"Wir alle wollen Pusher sein, niemand will gepusht werden – das gilt besonders für IT-Mitarbeitende", sagte Roland Blättler, Vorstandsmitglied der Vereinigung Gesundheitsinformatik Schweiz (VGI) und Leiter Informatik am Kantonsspital Obwalden. Entgegen eines weit verbreiteten Missverständnisses sei die IT-Abteilung allerdings nicht die durchführende Instanz der Digitalisierung. "Informatik ist kein Selbstzweck. Sie hat sich konsequent an den Unternehmenszielen auszurichten." Standardisierte Informatik sei jedoch die technische Basis für eine erfolgreiche Digitalisierung.
Roland Blättler, Leiter Informatik am Kantonsspital Obwalden. (Source: Severin Nowacki)
"Als Informatiker, die gewissermassen im Maschinenraum arbeiten, wünschen wir uns vom Captain auf der Brücke drei Dinge: Aufmerksamkeit vom Management, die nötigen Ressourcen respektive Skills und eine Perspektive – beispielsweise die Gewissheit, dass die Politik uns in Ruhe lässt mit neuen Gesetzen und Verordnungen", sagte Blättler mit einem Augenzwinkern.
Gelegentlich gepusht
Gian-Reto Grond, Leiter der Sektion Digitale Gesundheit des Bundesamts für Gesundheit (BAG), musste seinen Vorredner enttäuschen. "Es kommen ganz bestimme neue Gesetze und Verordnungen." Ende April stiess der Bundesrat eine Revision des Bundesgesetzes über das elektronische Patientendossier (EPDG) an. Er schlägt unter anderem vor, ein Opt-out-Modell für Patientinnen und Patienten zu prüfen. Zudem regelt er Kompetenzen und Finanzierung neu.
"Das EPD wurde mit viel Arbeit, Frustration und Geld aufgebaut – und man darf es als sicher bezeichnen", sagte Grond. Es könne jedoch noch viel besser werden, sofern man die Rahmenbedingungen optimiere. "Gefragt ist aber auch Durchhaltevermögen und Zusammenarbeit."
Gian-Reto Grond, Leiter der Sektion Digitale Gesundheit des Bundesamts für Gesundheit. (Source: Severin Nowacki)
Das elektronische Patientendossier sei jedoch nur ein kleiner Teil eines grösseren Plans. Grond zeigte eine Folie mit der Überschrift: "Zielbild: Datenökosystem Gesundheitswesen." Die Grundlage dafür ist der Auftrag des Bundesrates vom 4. Mai mit dem Ziel, der Forschung bessere Rahmenbedingungen für die Weitergabe und Weiterverwendung von Gesundheitsdaten zu bieten.
Für die Umsetzung hat man einige Grundsätze bestimmt, wie Grond sagte: So sollen die Datenflüsse zwischen den Akteuren "End-to-End" ausgestaltet sein, Standards bezüglich Semantik, Datenstrukturen und Schnittstellen folgen und das "Once-Only-Prinzip" berücksichtigen. Zudem sollen Datenschutz und Datensicherheit gewährleistet sein.
Grond zeigte sich vorsichtig optimistisch, was die Realisierung dieser Pläne betrifft. "Wohin die Reise führt, wird sich mit der Zeit zeigen", sagte er. Doch auf die Frage aus dem Publikum, ob das BAG nun ein Pusher sei oder eher ein Gepushter, reagierte er prompt. Das BAG übernehme durchaus eine Leadership-Rolle und engagiere sich in der Ausarbeitung von Revisionen wie auch in Gesprächen mit Stammgemeinschaften und den Plattformanbietern. "Wir sind also definitiv ein Pusher der Digitalisierung", sagte Grond, hielt kurz inne und fügte hinzu: "Aber manchmal werden wir auch gepusht."
Der One-Stop-Shop für Gesundheitsdaten
Wer profitiert, wenn mehr Gesundheitsdaten nutzbar werden? Marc Engelhard, Public Policy Manager bei Interpharma, dem Interessenverband der Pharmabranche, versprach: Alle hätten etwas davon. Das Gesundheitssystem könnte eine bessere medizinische Versorgung gewährleisten, Forschung und (Pharma-)Industrie könnten mehr in Forschung und Entwicklung investieren und so Innovationen vorantreiben, die Patientinnen und Patienten könnten von effektiven, personalisierten Behandlungen profitieren und im besten Fall würden auch die Kosten gesenkt.
Marc Engelhard, Public Policy Manager bei Interpharma. (Source: Severin Nowacki)
Engelhard sprach sich dafür aus, die Patientinnen und Patienten zu befähigen, ihre Daten zu nutzen. "Der Bürger muss wissen, was er mit seinen Gesundheitsdaten alles anstellen kann – er muss es aber auch wollen." Interpharma wünscht sich diesbezüglich mehr Partizipation und schreibt denn auch in internen Dokumenten: "Datenspenden ist das neue Blutspenden."
Als Beispiel dafür, wie ein Ökosystem für Gesundheitsdaten aussehen könnte, nannte Engelhard das Beispiel Finnland. Dort gibt es seit Anfang 2020 ein One-Stop-Shop-Modell: Forschende sowie forschende Industrieunternehmen können über eine zentrale Antragsstelle namens Findata Zugang zu verschiedenen Datensätzen erhalten. Die Basis dafür ist ein neues Gesundheitsdatengesetz – ein rechtlicher Rahmen, den es in der Schweiz in dieser Form nicht gibt, und für den Interpharma nun lobbyiert. "Mit einem international anschlussfähigen Gesundheitsdatengesetz könnte die Schweiz Klarheit über die Nutzung von Gesundheitsdaten schaffen und das Vertrauen in das System stärken", sagte Engelhard.
Der Datenschutz geht mit der Zeit
Solange es aber kein Gesetz nur für medizinische Daten gibt, gelten die Grundsätze des Datenschutzrechts. Dieses stelle die Wertschöpfung von Gesundheitsdaten jedoch nicht grundsätzlich in Frage, sagte Adrian Lobsiger, Eidgenössischer Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragter. Auch der Bearbeitung von Stammdaten nach dem Once-Only-Prinzip oder dem Einsatz von einheitlichen Identifikatoren wie der AHV-Nummer stehe der Datenschutz heute nicht mehr im Weg.
Nachdem sich das Stimmvolk am 15. Mai für die Widerspruchslösung bei der Organspende ausgesprochen hat, stellten auch die Datenschützer fest, dass die Bevölkerung offen ist für Opt-out-Lösungen im Gesundheitswesen, wie es nun auch im Hinblick auf das EPDG zur Diskussion steht. "Auch die Datenschützer sollen sich öffnen – auch sie müssen sich mit der Innovation bewegen", sagte Lobsiger.
Adrian Lobsiger, Eidgenössischer Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragter. (Source: Severin Nowacki)
Doch es gibt Grenzen. "Once-Only und Opt-Out sind keine Passepartouts für beliebige Bearbeitungszwecke zur Selbstverwirklichung von Architekten agiler Fata-Morgana-Visionen." Soll heissen: Für jede Wiederverwendung von Daten muss klar sein, zu welchem Zweck und zur Erfüllung welcher gesellschaftlicher Ziele sie erfolgt.
Zum Abschluss seiner Rede teilte Lobsiger seine Gedanken über den Begriff "Ökosystem" im Kontext der Wertschöpfung von Gesundheitsdaten:
"Der Datenschutz schützt nicht Daten, sondern Menschen. Und Menschen heben sich von ihrem Ökosystem ab, indem sie eine Kultur mit Werten geschaffen haben. Bei allem Respekt für die Effizienz von Ökosystemen, erlaube ich mir darauf hinzuweisen, dass die Gesundheitspolitik und wissenschaftliche Disziplinen wie die Medizin, aber auch die Informatik, der menschlichen Kultur entsprungen sind. Da letztere nicht nur der kalten Systemlogik der Natur nachempfunden ist, hoffe ich, dass Sie sich auf die Begrifflichkeit des Ökosystems in einem Sinne einigen können, welcher der Wahrung kultureller Bedürfnisse wie jenem nach einem privaten und selbstbestimmten Leben Rechnung trägt. Nennen Sie es einfach: Öko – plus."
Mit den richtigen Daten das Richtige tun
Ein nützliches Öko – plus, in dem die Stakeholder mit den richtigen Daten das Richtige tun: Das war der thematische Rahmen der anschliessenden Podiumsdiskussion. Die Krankenkassen könnten und würden gerne mehr machen, wenn sie denn nur dürften, sagte Verena Nold, Direktorin des Krankenkassendachverbands Santésuisse. "Was wir aber nicht wollen, ist, Daten auf Vorrat zu sammeln." Bevor man also neue Datenfriedhöfe generiere, müsse man klären, welche Daten zu welchen Zwecken gebraucht würden. "Dann müssen wir die richtigen Standards setzen – und erst dann etwas aufbauen." Auf ein neues Gesetz zu warten, lohne sich jedoch nicht. "Stattdessen sollten wir jetzt schauen, was heute möglich ist, auch wenn es Knochenarbeit bedeutet."
Verena Nold, Direktorin von Santésuisse. (Source: Severin Nowacki)
Die Sichtweise der Kantone brachte Magdalena Wicki Martin zum Ausdruck, Projektleiterin bei der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK). Diese wolle sich ebenfalls dafür einsetzen, Datensilos aufzulösen und Leistungserbringer zu vernetzen, was schliesslich dem Gemeinwohl zugute komme. Eine vernetzte Versorgung solle der Gesellschaft und ihren Mitgliedern dienen. "Wir haben viel zu lange an den Patientinnen und Patienten vorbeigedacht", sagte sie.
Magdalena Wicki Martin, Projektleiterin, GDK. (Source: Severin Nowacki)
Pascal Schär, Direktor Technologie und Innovation der Insel-Gruppe, wagte einen Blick in die Zukunft. Gesundheitsdaten seien für die Grundlagenforschung ein noch grösstenteils verborgener Schatz. Dessen Bergung sei die Basis für einen grundlegenden Wandel in der Gesundheitsversorgung. "Wir bewegen uns allmählich weg von der reaktiven, hin zu einer prädiktiven Medizin", sagte er. Dies werfe allerdings grundsätzliche Fragen auf: Wollen wir wirklich alles wissen, was wir über unsere gesundheitliche Zukunft in Erfahrung bringen könnten?
Auch Adrian Lobsiger warf einen Blick voraus. "Wenn wir einen modernen Datenschutz möchten, dann müssen wir auch den Datenschutz digitalisieren." Es lohne sich, in technische Datenschutzlösungen zu investieren. Denn die Menschen seien quasi von Natur aus nur beschränkt verlässlich – wohingegen digitale Verfahren sich so gestalten liessen, dass sie Missbräuche unmöglich machten.
Adrian Lobsiger (l.) und Pascal Schär, Direktor Technologie und Innovation der Insel-Gruppe. (Source: Severin Nowacki)
Der Bottom-up-Ansatz aus Graubünden
Wie man hierzulande ein Ökosystem für Gesundheitsdaten trotz beschränkter Ressourcen aufbauen kann, zeigten Richard Patt und Lucian Schucan auf. Patt ist Geschäftsführer des Vereins eSanita; Schucan leitet die Unternehmensentwicklung und Infrastruktur des Spitals Oberengadin.
Schucan sprach zunächst die Alltagsprobleme in puncto Digitalisierung an, mit denen ein relativ kleiner Leistungserbringer wie das Spital Oberengadin konfrontiert ist. Weil die Daten in der Regel in unstrukturierter Form vorlägen, würden dieselben Daten mehrmals von Hand erfasst. Als weitere Schwierigkeiten nannte er das Stammdatenmanagement, die Datensicherheit und nicht zuletzt der fehlende Datenaustausch im B2B-Bereich. Mit dem gemeinnützigen Verein habe man nun eine Lösung gefunden – nicht nur für das EPD, sondern auch für die B2B-Welt. "Wir haben festgestellt, dass mehr möglich ist, als man gemeinhin denkt", sagte Schucan.
Lucian Schucan, Leiter Unternehmensentwicklung & Infrastruktur des Spitals Oberengadin. (Source: Severin Nowacki)
Der in Chur domizilierte Verein eSanita lancierte Anfang 2020 eine B2B-Plattform für den Bereich E-Health. Diese ermöglicht den automatisierten Austausch von Gesundheitsdaten zwischen medizinischen Leistungserbringern – auch für Gesundheitsfachpersonen ausserhalb des Vereins. Die Plattform stehe also allen interessierten Intermediären aus dem Gesundheitswesen offen, sagte Patt. Die Idee dahinter: regionale Ansätze zu realisieren und sie anschliessend auf grössere Regionen skalieren. "Ob man Prozesse wie die interdisziplinäre Kommunikation und die technischen Lösungen dazu auslagern kann, ist keine Frage der Grösse, sondern der Strategie." Entscheidend für den Erfolg eines solchen Unterfangens seien jedoch die involvierten stationären und ambulanten Leistungserbringer.
Richard Patt, Geschäftsführer des Vereins eSanita. (Source: Severin Nowacki)
EPD: Im Maschinenraum kocht Kritik auf
Entscheidend für den Erfolg von E-Health in der Schweiz ist letztlich die Haltung aller Beteiligten. Es geht also um den Willen und um die Erwartungen der Politik, der Leistungserbringer, nicht zuletzt der IT-Verantwortlichen in den Gesundheitseinrichtungen und schliesslich der gesamten Bevölkerung. Wie sich die Einstellungen gegenüber E-Health verändert haben, erläuterte Lukas Golder, Co-Leiter von gfs.bern.
Golder präsentierte ausgewählte Ergebnisse des aktuellen "Swiss eHealth Barometer". Gut die Hälfte der Bevölkerung sei der Ansicht, dass strukturierte, sichere Daten im Gesundheitswesen von Vorteil sind – "auf dieser Einstellung kann man immer noch bauen", sagte der Politologe. Das könne allerdings rasch kippen, denn "es gibt Kritik, und die ist den Köpfen der Leute vor allem dort verankert, wo es um den Datenschutz geht."
Lukas Golder, Co-Leiter, gfs.bern. (Source: Severin Nowacki)
Eine noch etwas positivere Einstellung hätten die Gesundheitsfachpersonen. Der Digitalisierungsschub nach dem Ausbruch der Pandemie, der sich beispielsweise im Ausbau der Telemedizin-Angebote zeigte, habe inzwischen zwar abgenommen. Doch die Vorstellung, dass digitale Gesundheitsdienste auch in Krisenzeiten einen Vorteil bieten können, setzte sich in breiten Kreisen durch, wie Golder sagte. Etwas zurückhaltender seien die Praxisärzteschaft, Alters- und Pflegeheime – doch auch dort gewinnt E-Health grundsätzlich an Zuspruch.
Anders sieht es jedoch aus, wenn man nach dem EPD fragt. Insbesondere unter den IT-Verantwortlichen der Spitälern häufen sich diesbezüglich kritische Stimmen – "sehr kritische, würde ich sogar sagen", sagte Golder. Vorsichtig formuliert, könne man sagen: "Da gibt es Raum für Verbesserung – aber das dürfte Sie jetzt nicht überraschen."