Fachkräftemangel, künstliche Intelligenz und die Formel 1
Der Fachkräftemangel in der Schweiz betrifft auch die ICT-Branche. Arbeitsmarktexperte Tino Senoner erklärt im Interview, wie viele Arbeitskräfte in den nächsten Jahren fehlen werden, was Firmen dagegen unternehmen können und was KI mit der Formel 1 zu tun hat.
Auf welche Faktoren führen Sie den Fachkräftemangel in der Schweizer ICT-Branche zurück?
Tino Senoner: In der Schweiz ist die Nachfrage nach Arbeitskräften in der ICT-Branche eigentlich immer stärker gestiegen als das Angebot. Wir haben bereits 2004 im Zuge der ersten repräsentativen Auswertungen des Arbeitsmarktes festgestellt, dass die Wirtschaftsentwicklung der Schweiz durch einen Mangel an ICT-Fachkräften gebremst wird. Diese Nachfrage hat sich seitdem zweimal sprunghaft gesteigert: Das erste Mal 2009, nachdem das Smartphone den Weg in den täglichen Gebrauch gefunden hatte, und nun infolge der Covid-Pandemie, als Conference Calls mit dem Home-PC flächendeckend eingeführt wurden.
Wie ist die Lage derzeit? Wie viele Arbeitskräfte fehlen der Branche, wie viele werden schätzungsweise in Zukunft fehlen?
Es könnten heute 20 000 mehr Informatikerinnen und Informatiker beschäftigt sein, als zur Verfügung stehen. Dieser Mangel wird bis 2025 auf 36 000 steigen. Danach wird es mit Prognosen schwieriger.
Welche konkreten Lösungsansätze gibt es dafür?
Also zuerst einmal müssen nicht zehntausende Fachkräfte in die Schweiz einwandern. Gerade die ICT-Branche hat die Chance, problemlos internationale Teams zusammenzubringen. Fachkräfte in der Schweiz müssen jedoch viel stärker auf Arbeitsplätze fokussiert werden, die nicht ausgelagert werden sollten. Im ICT-Bereich sind das branchenorientierte Fachspezialisten, zum Beispiel Fintech-Experten für die Bankenbranche. Ganz allgemein sind das Projektleiter, Infrastruktur- und Cybersecurity-Verantwortliche. Was ich aber noch betonen möchte: Die Grundausbildung zum Applikationsentwickler ist eine sehr wichtige Grundlage für alle wichtigen, später gesuchten Experten. Die Nachfolgesicherung darf nicht zu kurz kommen, auch wenn die Applikationsentwicklung eigentlich immer mehr ausgelagert wird.
Welche Trends erkennen Sie aktuell, wie Firmen versuchen, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken?
Wir erkennen seit 2022 ganz klar zwei Trends, die rapide zugenommen haben. Zum Einen haben wir eine sehr stark steigende Anzahl an Unternehmen, die ihre Attraktivität verbessern wollen. Ein Beispiel ist das Projekt Movement32 von Swiss Supply: 30 Verbände, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, stehen dahinter. Der zweite Trend geht ganz eindeutig in das Outsourcing. Was Grossunternehmen eigentlich schon seit längerem betreiben, wird durch moderne Technologien auch für KMUs immer erschwinglicher.
Welche Auswirkungen könnte der Vormarsch der künstlichen Intelligenz auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes haben?
Grundsätzlich kann man sagen, dass KI-Lösungen nichts weiter sind als die Weiterentwicklung der Mittel zur Steigerung der Produktivität, wie wir das seit Jahrhunderten kennen – es geht nur alles viel schneller. Ich würde da gerne eine Analogie zur Formel 1 ziehen: Der Lenker ist zwar entscheidend, ob der Wagen an die Wand gefahren wird, die Führung jedoch ist verantwortlich, wer den Wagen entwickelt, wer das Team aufbaut und wer den Wagen fährt. Deshalb würde ich mich auch wohler fühlen, wenn wir Innovationen im KI-Bereich in der Schweiz noch viel, viel stärker fördern würden.
Könnte sich die Problematik damit nicht vielleicht sogar umkehren? Wenn KI eine Vielzahl an Tätigkeiten übernimmt, befinden sich doch womöglich mehr Personen auf dem Markt, als es Jobs gibt?
Eine sehr wichtige Frage. Wir dürfen die Schweiz nicht isoliert betrachten. Wir sind umgeben von Ländern, die sich freuen würden, Arbeitsplätze zu uns auszulagern. Auf der anderen Seite dürfen wir die Erwartungen an die digitale Transformation auch nicht zu hoch setzen. Ich glaube, es wäre schon als Erfolg zu bezeichnen, wenn wir es schaffen könnten, mit digitaler Transformation den Fachkräftemangel zu kompensieren und die Arbeitsplätze zu sichern, die für uns in der Schweiz langfristig am wichtigsten sind.
Durch die Automatisierung vieler Prozesse könnten in Zukunft Arbeitsplätze wegfallen. Was bedeutet das für den Jobmarkt in der ICT-Branche?
Die ICT-Branche selbst wird von dieser Entwicklung massiv profitieren können. Dank dem Potenzial an internationalen Spezialisten stehen hier goldene Zeiten bevor. Für den ICT-Jobmarkt Schweiz bedeutet dies jedoch einen Umbruch: und zwar von Applikationsentwicklung zu Innovation, Sicherheit und Qualität. KI-basierte Systeme unterstützen diesen Prozess bereits.
Können Firmen von künstlicher Intelligenz Gebrauch machen, um Arbeitskräfte anzuwerben?
Hier liegt eigentlich die Antwort in der Frage. Natürlich hilft das, wenn man proaktiv dabei ist. Wer junge Menschen begeistern will, der muss diese Generation ernst nehmen, Freiräume bieten, moderne Technologien anwenden. Das erlaubt dann wiederum auch, neue Champions zu finden, im Interesse von Unternehmen und der Wirtschaft. Ich könnte auch sagen, per Analogie mit der Formel 1: Man könne hier firmeninterne Go-Kart-Rennen veranstalten, damit fördert man die Teamentwicklung, und das generationen- und kulturübergreifend.