Was die FMH-Präsidentin am EPD kritisiert
Das elektronische Patientendossier hat einen schweren Stand - insbesondere innerhalb der Ärzteschaft. Yvonne Gilli, Präsidentin der Ärztevereinigung FMH, spricht über die Hintergründe der Kritik, über die geplante Gesetzesrevision und darüber, wie man die Digitalisierung im Gesundheitswesen sinnvoll gestalten kann.
Die politische Diskussion über das EPD läuft schon seit über 10 Jahren, doch das Projekt kommt kaum vom Fleck. Was läuft aus Ihrer Sicht schief?
Yvonne Gilli: Das in der Verordnung festgelegte Konzept ist dysfunktional. Folglich ist das EPD in seiner heutigen Form nicht praxistauglich, weil es nicht als Kommunikationsinstrument konzipiert ist, sondern als PDF-Bibliothek. Es ist also sehr statisch und enthält noch nicht einmal die geeigneten Meta-Datenbanken. Letzteres wäre die Voraussetzung dafür, dass man benötigte Dokumente oder Informationen über eine Suchfunktion finden kann. Das heutige EPD ist also nicht das, was sich die Patientinnen und Patienten wünschen - und auch nicht das, was Gesundheitsfachpersonen brauchen können. Das liegt allerdings auch daran, dass wichtige Voraussetzungen fehlen.
Zum Beispiel?
Wenn das EPD ein Erfolg werden soll, brauchen wir dringend eine elektronische Identität. Es fehlen technologische und inhaltliche Standards als Voraussetzung für die Interoperabilität. Allein das Eröffnen eines EPD ist Stand heute ein kompliziertes Unterfangen. Es mangelt also an den Basics. Solange wir die nicht haben, wird das Ganze nicht funktionieren.
Aus medizinischen Kreisen ist immer wieder Kritik am EPD zu hören, wobei die Praxisärzteschaft gemäss dem Swiss eHealth Barometer am wenigsten von der Einführung überzeugt ist. Warum hadern Gesundheitsfachpersonen so sehr mit dem EPD?
Man muss unterscheiden zwischen dem EPD und der elektronischen Krankengeschichte. Bei Letzterem handelt es sich um die interne Dokumentation der Gesundheitsfachpersonen, also um Daten und Dokumente, die beispielsweise bei einem Arztbesuch von der Ärztin oder ihren Mitarbeitenden im eigenen Praxissystem abgelegt werden. Diese Art der Dokumentation ist schon längst digitalisiert - sowohl in den Alters- und Pflegeinstitutionen wie auch in den Praxen. Das EPD hingegen ist, wie schon gesagt, nichts weiter als eine PDF-Ablage ohne sinnvolle Suchfunktion. Für Ärzte und Ärztinnen bedeutet das EPD in seiner heutigen Form somit eine doppelte Buchführung, wodurch zusätzliche Arbeitszeit anfällt. Das ist ein Problem, denn wir müssen die Zeit, die wir für die Patientinnen und Patienten haben, ohnehin möglichst effizient einsetzen. Wir können es uns nicht leisten, digitale Werkzeuge zu verwenden, die ineffizient sind und die Patientensicherheit nicht verbessern. So gehen wir davon aus, dass behandlungsrelevante Informationen nur mit zu grossem Zeitaufwand auffindbar sind, oder die nötigen Zugriffsberechtigungen fehlen.
Sie bezeichnen das EPD als dysfunktionales Instrument. Wie konnte es Ihrer Ansicht nach so weit kommen?
Die Dysfunktionalität wird in der Gesundheitsversorgung oft als Ausrede von Ärzten und Ärztinnen interpretiert, zusammen mit der Unterstellung, sie wollten ihre Prozesse nicht digitalisieren. Dieser Vorwurf, der übrigens nicht nur in der Schweiz, sondern auch in vielen anderen Ländern zu hören war, bezieht sich nicht nur auf das EPD, sondern auch auf viele andere Digitalisierungsprojekte. Als die digitale Transformation des Gesundheitswesens noch ganz am Anfang stand, hiess es noch vielerorts, die Gesundheitsfachpersonen würden Widerstand leisten. Es hat sich jedoch schnell gezeigt, dass das nicht stimmt, schon gar nicht in Bezug auf die Ärzteschaft, die gewissermassen von Natur aus sehr technologieaffin ist. Das naturwissenschaftliche Interesse ist schliesslich eine der Kernkompetenzen, die in der Medizin gefordert sind. Technologien sind für Ärzte und Ärztinnen allerdings kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug wie ein Stethoskop oder ein Operationsbesteck. Und niemand würde beispielsweise mit einem unscharfen Skalpell operieren oder grundsätzlich mit Instrumenten arbeiten wollen, die ihren Zweck nicht erfüllen. Die digitale Transformation in der Gesundheitsversorgung war von Anfang an deutlich komplexer und anspruchsvoller als erwartet. Insbesondere unterschätzen auch viele Fachpersonen in der IT-Branche die Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung. Deswegen sind wir angewiesen auf Medizininformatiker, die sowohl die Prozesse im Gesundheitswesen als auch die Informatik verstehen.
Andere Länder sind in puncto E-Health wesentlich weiter. In Dänemark zum Beispiel gibt es das EPD schon seit 20 Jahren, in Estland seit 18 Jahren - und dort arbeiten alle Gesundheitsfachpersonen damit. Warum tut man sich in der Schweiz so schwer mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen?
Im internationalen Vergleich sind wir in der Schweiz sicherlich langsamer, was auch mit unserer Kultur und dem Föderalismus zusammenhängt. Das Schweizer Gesundheitswesen wird kantonal gesteuert, was die digitale Transformation, die eigentlich national koordiniert werden sollte, erschwert. Hinzu kommt, dass die Schweiz ein vergleichsweise kleines Land ist - mit mehreren Landessprachen und typisch schweizerischen Tarif- und Finanzierungsstrukturen. Das heisst, wir können kaum über einzelne Regionen hinweg skalieren. Das schmälert die Attraktivität für Investitionen und bremst somit die Digitalisierung im Gesundheitswesen zusätzlich. Wir können also gut begründen, warum wir hierzulande nicht die schnellsten sind mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Das entschuldigt aber nicht, dass wir dermassen im Rückstand sind und beispielsweise viele standardisierbare Prozesse noch nicht einmal automatisiert haben. Dass die Schweiz wichtige Digitalisierungsprojekte verschlafen hat, liegt wohl auch daran, dass es uns lange Zeit zu gut gegangen ist und man sich folglich nicht ernsthaft darum bemüht hat, frühzeitig eine bundesweite Digitalisierungsstrategie aufzusetzen.
Was kann die Schweiz von Ländern mit Vorbildcharakter lernen?
Nehmen wir Estland - genau genommen hinkt der Vergleich zwar, denn das Land hat nur 1 Million Einwohnerinnen und Einwohner und ist sehr zentralistisch organisiert. Doch der springende Punkt ist: In Estland hat man sich, noch bevor es mit der Digitalisierung losging, zunächst einmal überlegt: Was bringt den Bürgern und Bürgerinnen einen konkreten und unmittelbaren Nutzen? Wenn man diese Frage ins Zentrum stellt und für die Bevölkerung Anreize schafft, digitale Dienste zu nutzen, dann steigt auch die Motivation für weitere Digitalisierungsprojekte.
Der Bundesrat will nun die Ärzteschaft dazu verpflichten, sich dem EPD anzuschliessen. Gesundheitsminister Alain Berset schlägt auch Sanktionen vor - darunter Bussen bis zu 250'000 Franken. Was halten Sie davon?
Ich nehme es gelassen. Es erstaunt mich jedoch, dass sich der Bund anscheinend nicht darüber informiert hat, wie man Digitalisierungsprojekte am besten vorantreibt. Denn in der Regel stärkt man zuerst die Motivation zur digitalen Transformation. Das heisst, anfangs sollte man Anreize schaffen. Und erst wenn diese Anreizsysteme funktionieren, kann man sich überlegen, wie man die Veränderungsresistenten zum Guten zwingen kann. Sanktionen sind eine Möglichkeit, um das zu bewerkstelligen, zum Beispiel die Verknüpfung mit einer Praxisbewilligung. Wer nun aber schon mit Strafen droht, bevor ein funktionierendes Produkt vorhanden ist, zäumt das Pferd von hinten auf.
Warum diese Gelassenheit? Die zur Debatte stehenden Sanktionen sind durchaus streng.
Strafen müssen immer verhältnismässig sein, und die grosse Mehrheit der Ärzteschaft arbeitet korrekt und gesetzeskonform, auch mit dem EPD. Der Fachkräftemangel spitzt sich zu, auch innerhalb der Ärzteschaft. Das wird die Bevölkerung zu spüren bekommen, und zwar nicht nur in der Hausarztmedizin, sondern auch in der Spezialmedizin. Wir sind beispielsweise schon heute darauf angewiesen, dass Ärztinnen und Ärzte das Pensionsalter hinausschieben. Ausserdem sollen Nachwuchskräfte nicht wegen schlechter Arbeitsbedingungen aussteigen. Das heisst, wir brauchen dringend bessere Rahmenbedingungen für Gesundheitsberufe. Das betrifft nicht nur die Ärzteschaft, sondern auch andere Berufe, insbesondere in der Pflege. Fest steht: Eine Gesundheitsversorgung ohne Menschen wird es niemals geben. Spätestens, wenn man keine Leute mehr findet, wird man sich auf Anreize besinnen. Es wäre allerdings tragisch, wenn wir es so weit kommen lassen würden.
Sie haben von Anreizen gesprochen. Was würde die Ärzteschaft dazu bewegen, sich am Projekt EPD zu beteiligen?
Der erste und grösste Anreiz wäre ein funktionierendes Produkt. Darauf warten wir schon lange. Ein zweiter Anreiz wäre eine Tarifreform, welche die modernen Werkzeuge auch betriebsökonomisch abbildet. Nehmen wir als Beispiel die Telemedizin: Die entsprechenden Angebote werden zunehmen, doch in vielen Kantonen dürfen die Ärzte und Ärztinnen telemedizinische Konsultationen gar nicht anbieten, weil Widersprüche zu den kantonalen Gesundheitsgesetzen bestehen. Und wo es möglich ist, bestehen vielfach abrechnungstechnische Begrenzungen. Das ist problematisch, denn wir brauchen die Möglichkeit zur telemedizinischen Behandlung schon heute und künftig noch mehr. Dementsprechend sind wir auch auf entsprechende Tarifpositionen angewiesen. Und um diese einzuführen, brauchen wir ein genehmigtes Tarifwerk. Für den stationären Bereich ist eines vorhanden; im ambulanten Bereich braucht es eine Revision, die dem Bundesrat seit 2019 zur Genehmigung vorliegt.
Wie stehen Sie zum vorgeschlagenen Opt-out-Modell?
Diese Massnahme hat man vom Ausland abgeschaut. In einigen Ländern hat die Opt-in-Regelung überhaupt nicht funktioniert - und mit dem Wechsel auf Opt-out gab es eine deutliche Zunahme. Das soll nun auch in der Schweiz passieren. Ich glaube, von ärztlicher Seite müssen wir uns dazu gar nicht äussern. Es liegt an der Bevölkerung zu entscheiden, ob diese Regelung so gewollt ist oder nicht. Spannend wird allerdings die Frage, wie viele Menschen aufgrund des Opt-out-Verfahrens zwar ein EPD haben, es aber nicht bewirtschaften werden. Das ist der Knackpunkt. Denn nur wenn man es nutzt, kann das EPD auch hilfreich sein.
Das Einwilligungsverfahren ist aus Ihrer Sicht also nicht der Schlüsselfaktor. Was entscheidet dann über den Erfolg oder Misserfolg des EPD?
Der Nutzen wird entscheidend sein. Ein Schwachpunkt ist zum Beispiel die Berechtigungssteuerung. Das ist ein weiterer wunder Punkt des EPD in der Schweiz: Patientinnen und Patienten müssen die Gesundheitsfachpersonen für einen Zugang zum EPD jeweils einzeln berechtigen. Aus einer rein praktischen Sicht muss man sagen: Das kann nicht funktionieren. Heutzutage sind in einer Behandlung oftmals schon so viele Personen involviert, dass es anspruchsvoll ist, mit der Zuteilung der Berechtigungen "à jour" zu bleiben. Es wird also häufig der Fall eintreten, dass eine Ärztin oder ein Arzt auf ein EPD zugreifen möchte, es aber nicht kann, weil die nötige Berechtigung versehentlich nicht erteilt wurde. Das ist ein weiterer dysfunktionaler Prozess.
Was wäre die Alternative?
Die bessere Alternative kann man sich ebenfalls von anderen Ländern abschauen. Man könnte es so regeln, dass Gesundheitsfachpersonen mit entsprechenden Berufsausübungsbewilligungen grundsätzlich berechtigt sind, auf das EPD zuzugreifen. Die Patientinnen und Patienten werden informiert, wer auf die gespeicherten Informationen zugreift. Und falls jemand unberechtigterweise auf das EPD zugreift und somit Datenschutz- und Persönlichkeitsrechte verletzt, gibt es hohe Strafen. In solchen Fällen sind Sanktionen tatsächlich wichtig und angezeigt.
Wer ein EPD eröffnen will, muss dies bei einer Eröffnungsstelle tun. In sechs Kantonen kann man das inzwischen online erledigen. Wäre es nicht sinnvoller, wenn man das EPD gleich beim Hausarzt oder bei der Hausärztin eröffnen könnte?
Ganz und gar nicht. Das administrative Onboarding inklusive der Identitätsüberprüfung und weiteren Formalitäten ist eine öffentliche Aufgabe. Der Gesetzgeber kann das zwar delegieren, aber sicherlich nicht an die Gesundheitsfachpersonen. Unsere Aufgabe ist es, Menschen zu behandeln und zu betreuen. Das allein wird angesichts des Fachkräftemangels immer herausfordernder. Eine Gesundheitsfachperson muss inzwischen zwei Drittel ihrer Arbeitszeit für administrative Tätigkeiten aufbringen. Diesen Anteil dürfen wir nicht noch weiter erhöhen - wir müssen ihn dringend reduzieren.
Wie stellen Sie sich den idealen Onboarding-Prozess vor?
Es sollte auf jeden Fall elektronisch möglich sein und sich gut in die Alltagsgestaltung der Patienten und Patientinnen integrieren lassen. So kann ich mir zum Beispiel vorstellen, dass man ein EPD beim Beantragen eines amtlichen Ausweises eröffnen könnte. Oder dass man das EPD gleich bei der Geburtsanmeldung eröffnet, wie es beispielsweise in Estland der Fall ist. Es gibt also verschiedene Möglichkeiten - aber es kann nicht die Aufgabe der Gesundheitsfachpersonen sein.
Wie viele Ärztinnen und Ärzte können heute ein EPD eröffnen?
Das kann ich nicht beziffern. Innerhalb der Praxisärzteschaft ist nach heutigem Stand jedoch nur eine Minderheit dazu in der Lage. Alle Ärztinnen und Ärzte, die neu eine Berufsausübungsbewilligung beantragen, müssen sich einer EPD-Gemeinschaft anschliessen. Bei den Spitälern ist noch nicht einmal die Hälfte bereit, obwohl für sie die Verpflichtung bereits früher vorlag.
Spitäler sind allerdings seit 2020 gesetzlich verpflichtet, das EPD anzubieten.
Die Spitäler haben aber auch ganz andere Herausforderungen in Zusammenhang mit der digitalen Transformation. In einigen Fällen muss man zuerst die digitalen Infrastrukturen modernisieren. Aus Ländern mit hohem Digitalisierungsgrad habe ich gelernt, dass ein Spital einen zweistelligen Prozentsatz seiner Aufwendungen in Digitalisierungs- und Automatisierungsprojekte stecken muss. Und zwar laufend. Das bedingt viel Know-how, sprich: Es braucht hochqualifizierte Fachkräfte, zum Beispiel aus dem Bereich der Medizininformatik, aber auch Gesundheitsfachpersonen in Führungspositionen. Diesen Bedarf hat man in der Schweiz bis dato vernachlässigt. Deswegen sind wir diesbezüglich im Notfallmodus unterwegs. Zudem stehen wir in einem harten Wettbewerb um Gelder. Und wenn nun die Diskussion über die steigenden Kosten im Gesundheitswesen wieder losgeht, müssen wir uns gut überlegen, worin wir investieren und zu welchem Zweck. Denn eines ist klar: Digitalisierung kostet. Und die Vorstellung, wonach die Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung über die Zeit generell Kosten einspart, ist ein Mythos.
Was braucht es, damit die Digitalisierung den Leistungserbringenden im Gesundheitswesen einen Mehrwert bieten kann?
Naheliegend und einfach wäre zum Beispiel die nutzenbringende Digitalisierung des Formularwesens, das in der Medizin eine wichtige und alltägliche Rolle spielt. Es würde bereits viel Zeit sparen, wenn diese Prozesse digitalisiert wären im Sinne des "Once only"-Prinzips. Das heisst, dass die bereits vorhandenen Daten im Klinik- oder Praxisinformationssystem genutzt werden könnten und nicht redundant erhoben werden müssen. In diesem Bereich sind die Prozesse schnell automatisierbar, weil Formulare bereits weitgehend strukturierte Daten enthalten. Bis jetzt ist es aber nach wie vor so, dass wir die meisten meldepflichtigen Krankheiten per Fax oder Post melden müssen.
Sehen Sie also in erster Linie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in der Pflicht?
Für das Beispiel der digitalen Übermittlung von meldepflichtigen Krankheiten sind die Behörden die Taktgeber: Ja, durchaus. Das wünschen sich Ärzte und Ärztinnen schon seit 10 Jahren. Sie können das aber nicht selbst in die Hand nehmen. Sie können nur diejenige Technologie nutzen, die ihnen auch zur Verfügung gestellt wird.
Wie erklären Sie sich, dass das BAG diese Aufgabe - selbst nach dem Fax-Gate während der Coronapandemie - nach wie vor nicht gelöst hat?
Man hat das Problem zu wenig priorisiert. Bis zur Pandemie gab es noch nicht einmal eine Abteilung, die sich um die Digitalisierung im Gesundheitswesen kümmern sollte. Es gab zwar bereits eHealth Schweiz als Koordinationsorgan zwischen Bund und Kantonen - dieses war aber personell und finanziell schmal ausgestattet. Länder, welche uns in der Digitalisierung weit voraus sind, haben alle viel höhere öffentliche Investitionen getätigt.
Sie haben die fehlende Digitalisierung des Formularwesens erwähnt. Was erwarten Sie sonst noch von der digitalen Transformation des Gesundheitswesens?
Grundsätzlich brauchen wir im Gesundheitswesen Lösungen für die digitale Kommunikation, die sich in die Praxis- und Klinik-Informationssysteme integrieren lassen, damit es nicht zu einer doppelten Datenerfassung kommt. Um auf das Beispiel EPD zurückzukommen: Wesentlich praktikabler als eine PDF-Ablage wäre ein Patientendossier, das einen schnellen Zugang zu einem sogenannten "critical data set" ermöglicht, also zu wichtigen Informationen wie etwa aktuellen Diagnosen und Medikationsplänen sowie zu einer Dokumentation bekannter Allergien. Wir sollten das EPD also neu aufsetzen - und zwar so, dass es möglichst vielen Menschen nützt. Das funktioniert nur in Zusammenarbeit mit Gesundheitsfachpersonen.
Wie kann man Gesundheitsfachpersonen besser in Digitalisierungsprozesse miteinbeziehen?
Die FMH hat gemeinsam mit allen national organisierten Verbänden der Gesundheitsfachpersonen einen Verein namens IPAG eHealth gegründet. Dieser Verein widmet sich den Inhalten der digitalen Transformation. Das heisst, wir setzen uns für die Einführung von standardisierten Austauschformaten ein, beispielsweise für die Übermittlung von Berichten oder für elektronische Medikationspläne. An diesem Verein können Gesundheitsfachpersonen mit ihrer Expertise direkt partizipieren. Das ist allerdings nur ein Beispiel, das nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die öffentliche Hand - über Steuergelder finanziert - deutlich mehr investieren muss, um die geeigneten Infrastrukturen für die digitale Transformation aufzubauen. Das betrifft allerdings nicht nur das Gesundheitswesen. Ich würde dem Bundesrat sogar empfehlen, in einem ersten Schritt den Fokus nicht zu stark auf das Gesundheitswesen zu richten, sondern auf nutzbringende digitale Dienstleistungen für die Gesellschaft im Allgemeinen. Wenn das funktioniert, zieht auch die Gesundheitsversorgung mit.
Wie beurteilen Sie die Kommunikationskampagne des BAG, die die Ärzteschaft zu einer freiwilligen EPD-Mitgliedschaft motivieren soll?
Ich halte es für unsinnig, ein Produkt zu bewerben, das noch nicht existiert oder zumindest noch nicht funktional ist. Das kann sogar kontraproduktiv sein, weil man so schnell Vertrauen verspielt. Sobald wir jedoch ein nutzbringendes EPD haben, kann man durchaus eine Werbekampagne fahren, um die Bevölkerung davon zu überzeugen. Gesundheitsfachpersonen muss man allerdings nicht bewerben, sondern informieren. In aktuelle Werbekampagnen fliessen Millionenbeträge, die wir eigentlich lieber in die Produktentwicklung investieren würden.
Wie schätzen Sie das Potenzial von KI-Assistenten wie beispielsweise ChatGPT für das Gesundheitswesen ein?
Solche Tools kommen schon inzwischen praktisch überall zum Einsatz, zum Beispiel zur Unterstützung von studentischen Arbeiten, Bewerbungen, für die Strukturierung von Texten, Zusammenfassungen oder Übersetzungen. Auch Gesundheitsfachpersonen arbeiten mit ChatGPT. Ihnen muss jedoch bewusst sein, dass sie stets verpflichtet sind, das Berufs- respektive das Patientengeheimnis und die Persönlichkeitsrechte wie auch den Datenschutz zu wahren - und dass es dementsprechend sehr heikel sein kann, solche Dienste im medizinischen Kontext zu verwenden. Ein No-Go wäre beispielsweise, personenbezogene Daten ohne Anonymisierung respektive Pseudonymisierung ins Prompt-Fenster einzugeben. Man muss sich also immer wieder gut überlegen, wie man diese Dienste abfragt und welche Schwächen sie haben. Denn was man dort eingibt, wird benutzt, um Algorithmen zu trainieren. Abgesehen von den Risiken sehe ich ein grosses Potenzial für den Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Medizin und bin davon überzeugt, dass AI-Instrumente wie ChatGPT schon bald zu unseren alltäglichen Arbeitsinstrumenten gehören. Das gilt übrigens nicht nur für Dialogsysteme, sondern grundsätzlich für KI-Systeme, die im ärztlichen Alltag unterstützen können. Zuerst müssen wir allerdings noch lernen, richtig damit umzugehen.
Was halten Sie davon, Dienste wie ChatGPT nicht nur als Schreibassistenten einzusetzen, sondern auch in der medizinischen Diagnostik?
Das klingt hochspannend und ich denke, dass wir solche Tools in Zukunft tatsächlich auch in der Diagnostik brauchen können. In diesem Kontext wäre jedoch die Quellentransparenz enorm wichtig. Wir müssten also nachvollziehen können, aus welchem Pool die Informationen stammen und wie das System AI-basiert lernt. Zudem müssten die Informationen verlässlich und möglichst vollständig sein, was durchaus anspruchsvoll ist. Informationen im medizinischen Kontext müssen zum Beispiel ethnische Abstammungen, Geschlecht, Alter, Vorkrankheiten, Medikamente und viele weitere Faktoren differenzieren. Das ist aber kein Hinderungsgrund - im Gegenteil. Im Arbeitsalltag greife ich schon längst nicht mehr ins Bücherregal, das wäre für die heutige Zeit viel zu limitiert. Stattdessen greife ich auf Datenbanken für Medizinalfachpersonen zu. Und solche Datenbanken können genutzt werden, um KI-Anwendungen zu trainieren, die bei der Diagnose unterstützen sollen. Solche Anwendungen zu nutzen, wird Teil des ärztlichen Handwerks sein, für einige auch zur ärztlichen Kunst avancieren. Darauf freue ich mich schon.
Was wünschen Sie sich für das Gesundheitswesen der Zukunft?
Ich wünsche mir, dass wir weg vom Kostenfokus kommen und uns mehr auf den Nutzen konzentrieren. Wenn wir die richtigen Anreize schaffen, müssen wir uns nicht vor einer Kostenexplosion fürchten. Man muss sich aber auch bewusst machen, dass Gesundheit in der Schweiz ein teures Gut bleibt - eines, das wir immer auch sozial mitfinanzieren müssen.
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Persönlich
Yvonne Gilli ist seit Februar 2021 Präsidentin der Ärztevereinigung FMH. Von 2016 bis 2020 war sie Mitglied im Zentralvorstand der FMH und zuständig für den Bereich "Digitalisierung". Sie ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und verfügt über den Fähigkeitsausweis FMH in klassischer Homöopathie und Traditioneller Chinesischer Medizin. Sie arbeitet in einer Gruppenpraxis mit den Schwerpunkten Komplementärmedizin, Gynäkologie und psychotherapeutische Beratung. Von 2007 bis 2015 amtierte sie als Nationalrätin (Grüne/SG).