Was digitalen Zwillingen in der Medizin zum Durchbruch fehlt
Forschungsprojekte und Technologien für digitale Zwillinge in der Medizin sind bereits vorhanden. Claudia Witt sieht aber noch Herausforderungen, etwa bei der Interoperabilität oder im Bildungswesen. Im Interview spricht die Co-Direktorin der Digital Society Initiative (DSI) der Universität Zürich darüber, was dereinst möglich sein könnte und welche Fragen noch offen sind.
Digitale Zwillinge in der Medizin scheinen in vielen Fällen noch Zukunftsmusik zu sein. Wo, wenn überhaupt, profitieren Patientinnen und Patienten heute schon ganz praktisch davon?
Claudia Witt: Digitale Zwillinge sind bereits weit verbreitet in der Fertigungsindustrie, wo sie zur Simulation von Produktionsstrassen eingesetzt werden. In der Medizin sind es zumeist Forschungsprojekte zu einzelnen Organen, wie etwa die digitale Abbildung des Herzens. Das Projekt läuft schon viele Jahre und die Entwickler gehen davon aus, dass sie bis zu 90 Prozent der Eigenschaften des realen Herzens einer Person digital abbilden können. Ein neues Forschungsprojekt verfolgt das Ziel, Hirnoperationen im Voraus zu testen. Hierbei soll der digitale Zwilling dazu beitragen, herauszufinden, welche Behandlungsmethoden bei Schlaganfällen oder Hirnblutungen am effektivsten sind.
Was unterscheidet eine Computersimulation von einem digitalen Zwilling?
Computersimulationen sind ein Überbegriff für mathematische Modelle, die in Computerprogrammen abgebildet werden und Vorhersagen zu verschiedenen Themen wie Wetter oder Wirtschaftsentwicklung ermöglichen. Digitale Zwillinge sind ebenfalls Software, die etwas simuliert, jedoch weitaus komplexer. Sie bestehen aus zahlreichen Algorithmen und basieren auf künstlicher Intelligenz, die eine hohe Personalisierung und kontinuierliches Lernen ermöglichen kann.
Für digitale Zwillinge braucht es Daten, die im besten Fall laufend erfasst werden. Wie weit sind die dafür nötigen Technologien (Sensoren und so weiter)?
Es gibt bereits ein breites Spektrum an für die Gesundheit relevanten Sensoren, darunter Smartwatches, Wand- und Bodensensoren, Umweltdatensensoren sowie medizinische Sensoren wie Insulinmessgeräte. Ständig werden neue Sensoren entwickelt. Die aktuellen Hauptprobleme liegen jedoch in der Zusammenführung von Daten unterschiedlicher Formate (sogenannte Interoperabilität) und im Zugang zu den vorhandenen Daten, was auch die Frage der Nutzungsrechte einschliesst.
Wie hoch sind die Kosten eines digitalen Zwillings? Werden sich alle Menschen entsprechende Behandlungen leisten können?
Das steht noch in den Sternen. Es wird jedoch angenommen, dass digitale Zwillinge langfristig dazu beitragen könnten, Gesundheitskosten und damit auch Krankenkassenprämien zu senken. Dies könnte durch die Unterstützung bei der Prävention von Erkrankungen, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, geschehen, indem individualisierte Empfehlungen zu Ernährung und Bewegung gegeben werden. Darüber hinaus könnten die Diagnose und Therapie durch die Verfügbarkeit umfassenderer Informationen effizienter gestaltet werden.
Die DSI erarbeitete ein paar konkrete Fallstudien für digitale Zwillinge. Darunter ist keine über das menschliche Gehirn. Werden dereinst digitale Zwillinge eines Gehirns möglich sein? Oder fehlt uns dafür die Forschungsgrundlage?
Letztlich kann alles in Algorithmen dargestellt werden, worüber ausreichende Erkenntnisse vorliegen – einschliesslich des Gehirns. Es ist sinnvoll, mit Körperbereichen zu beginnen, über die bereits detailliertes Wissen vorhanden ist, wie etwa dem Herz.
Wie beurteilen Sie das Potenzial von digitalen Zwillingen für die Pharmazie beziehungsweise für die Entwicklung neuer Medikamente?
Sie könnten vielseitige Möglichkeiten bei der Entwicklung neuer Medikamente bieten, etwa eine präzisere Anpassung von Medikamenten an individuelle Patientenprofile, was die personalisierte Medizin stärkt. Durch die Simulation von Medikamenteninteraktionen an verschiedenen digitalen Zwillingen könnten neue Wirkstoffe vorab getestet werden, was Tierversuche reduzieren kann. Zusätzlich könnten digitale Zwillinge den Entwicklungsprozess von Medikamenten beschleunigen, indem sie gezielte Simulationen ermöglichen, die die Auswahl der erfolgversprechendsten Wirkstoffe für klinische Studien unterstützen.
Welche Auswirkungen werden digitale Zwillinge auf die Zusammenarbeit im medizinischen Behandlungsteam haben?
Digitale Zwillinge werden die Teamprozesse in der medizinischen Versorgung beeinflussen. Die Einführung kann bestehende Rollen und Verantwortlichkeiten im Team verändern, was zu Unsicherheiten und Spannungen führen kann. Unterschiedliche technische Kompetenzen und Einstellungen können Kommunikationsbarrieren erzeugen, die die Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung erschweren. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, sind klare Kommunikation, umfassende Schulungen und eine sorgfältige Integration der digitalen Zwillinge essenziell.
Im Positionspapier, das Sie und das Strategy Lab der Digital Society Initiative verfasst haben, nennen Sie eine ganze Reihe von Bereichen, die in Zusammenhang mit digitalen Zwillingen gefordert sind: Bildung, Industrie, Gesetzgeber und so weiter. Wo sehen Sie aktuell den akutesten Handlungsbedarf in der Schweiz?
Ganz klar in der Bildung. Über alle Altersgruppen hinweg müssen wir dringend unsere Digitalkompetenz ausbauen. Nur so können wir in Zukunft informierte Entscheidungen auch im medizinischen Bereich treffen. Leider sind die Lehrpläne an Schulen und Hochschulen zu starr, und Änderungen dauern viel zu lange. Meiner Meinung nach müssen wir umdenken und mehr inhaltlich flexible Lernmodule schaffen, die es ermöglichen, schnell auf neue Entwicklungen einzugehen.
Das eidgenössische Parlament behandelt dieses Jahr mit Digisanté ein gigantisches E-Health-Programmpaket. Kommen darin digitale Zwillinge vor?
Sie sind kein explizites Thema, aber die Ziele des Programms würden die notwendigen Voraussetzungen schaffen. Die Umsetzung der digitalen Transformation zwischen den verschiedenen Beteiligten soll koordiniert und ein sicherer und nahtloser Datenaustausch etabliert werden, um die Effektivität und Effizienz der Gesundheitsversorgung zu verbessern. Zudem sollen notwendige Rechtsgrundlagen auf Kantons- und Bundesebene identifiziert und angepasst werden, um den digitalen Wandel zu unterstützen.
Laut den Umfrageergebnissen der DSI sprachen sich letztes Jahr über 60 Prozent der Bevölkerung für digitale Zwillinge in der Medizin aus. Ehrlich gesagt bin ich erstaunt über diese hohe Zustimmung – respektive darüber, dass so viele überhaupt wissen, was digitale Zwillinge sind. Was halten Sie von diesem Befund?
In der Umfrage haben wir zunächst in einem Erklärvideo erläutert, was ein digitaler Zwilling ist, bevor wir die Fragen dazu gestellt haben. Dass so viele auf die Frage, ob sie bereits jetzt einen digitalen Zwilling nutzen würden, mit «Ja» geantwortet haben, fand auch ich bemerkenswert. Allerdings kann ich das gut nachvollziehen, wenn man sich die Gründe dafür ansieht. Die Hauptgründe waren: Erkrankungen frühzeitig zu erkennen, den Verlauf vorhersagen zu können und eine bessere Abstimmung der Behandlung mit anderen Therapien zu ermöglichen.
Nur eine Minderheit der Befragten drückte in der Umfrage Vertrauen gegenüber privatwirtschaftlichen Unternehmen (Pharma-, Tech-Konzerne oder Krankenkassen) aus. Was bedeutet das für diese Unternehmen?
Ich habe mich natürlich gefreut, dass das Vertrauen in uns als Universitäten und Spitäler hoch ist, aber Krankenkassen, die Pharmaindustrie und Technologieunternehmen sind als Anbieter von digitalen Zwillingen naheliegender. Aus meiner Sicht haben gerade diese nun die Aufgabe, mehr Vertrauen aufzubauen. Ein wesentlicher Faktor dabei ist die Transparenz darüber, was mit den Nutzerdaten geschieht. Diese Verteilung des Vertrauens hängt allerdings auch vom Land ab, in dem man lebt. Wir hatten indische Journalisten zu Besuch und diskutierten die Ergebnisse. Sie vermuteten, dass in ihrem Land eher der Industrie als dem Staat mehr Vertrauen entgegengebracht wird.
Wann könnte es Ihrer Ansicht nach möglich sein, einen kompletten menschlichen Körper als digitalen Zwilling abzubilden?
Ich könnte mir vorstellen, dass dies in Forschungsprojekten innerhalb der nächsten zehn Jahre Realität wird. Allerdings wird es deutlich länger dauern, bis digitale Zwillinge des gesamten menschlichen Körpers breit angewendet werden.