Finanzdienstleister im FOMO-Fieber
Schon komisch, dass Banken, die sich bezüglich neuer Technologien typischerweise risikoavers und dementsprechend zögerlich zeigen, ausgerechnet der künstlichen Intelligenz einen Vertrauensvorschuss gewähren. Sie tun das zumindest gemäss einer Umfrage des Anbieters von KI-Technologien Abbyy, an der sich 1200 IT-Verantwortliche aus den USA, dem Vereinigten Königreich, Deutschland, Frankreich, Australien und Singapur beteiligten. Die Kernbefunde: 93 Prozent der befragten Führungskräfte aus dem Finanzdienstleistungsbereich vertrauen Large Language Models im Allgemeinen; 82 Prozent von ihnen gehen davon aus, dass ihre Bank oder ihre Versicherung von KI profitieren wird; und ganze 97 Prozent rechnen damit, dass ihre Budgets für KI-Ausgaben im kommenden Jahr steigen.
Viel spannender ist jedoch die Frage, warum Finanzdienstleister so erpicht darauf sind, in ChatGPT und Konsorten zu investieren. Denn hinter dieser Absicht stecken offenbar nicht bloss nüchterne Entscheidungen mit dem Zweck, die betriebliche Effizienz zu steigern oder Geld zu sparen. Was die Führungskräfte aus dem Finanzwesen im Hinblick auf KI-Investitionen gemäss der Umfrage vielmehr antreibt, ist die nackte Angst, etwas zu verpassen – besser bekannt als Fear of Missing Out, in Kurzform: FOMO. 69 Prozent der befragten IT-Entscheiderinnen und -Entscheider aus der Banken- und Versicherungsbranche gaben an, dass sie befürchten, ihr Unternehmen könnte den Anschluss verlieren, wenn sie KI-Technologien nicht nutzen würden.
Somit drängt sich die Frage auf, woher diese Angst kommt – falls sie denn so weit um sich greift und die KI-Investitionen auch wirklich antreibt. Umfrageergebnisse sollte man schliesslich immer mit Vorsicht interpretieren, vor allem dann, wenn nicht nur wissenschaftliche Interessen dahinterstecken. Doch angenommen, der Befund stimmt und die Finanzbranche leidet in puncto KI tatsächlich an FOMO-Fieber: Ist diese Angst berechtigt und angezeigt oder grenzt sie an Hysterie?
Aus heutiger Sicht lässt sich das nur schwer sagen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass man diese Sorge ernst nehmen sollte. Denn KI ist eine Schlüsseltechnologie, die ganze Wirtschaftszweige umpflügt, was verständlicherweise Unsicherheit auslöst. Was hingegen als gesichert gelten kann, ist der Nutzen, den künstliche Intelligenz in vielen gesellschaftlich relevanten Gebieten mehrfach unter Beweis gestellt hat, und zwar längst vor dem Aufkommen von ChatGPT. Allein in der Finanzbranche gibt es eine Fülle von erprobten Einsatzgebieten, zum Beispiel in der Betrugserkennung, Handelsüberwachung, Cybersicherheit, im Risikomanagement und im Bereich Compliance, um nur einige zu nennen. Das Potenzial ist also längst erkannt – und die Gefahr, durch Nichtstun ins Hintertreffen zu geraten, ist durchaus real.
Dass sich nun auch die Schweizer Finanzbranche dieser Gefahr stellen muss, liegt allerdings nicht nur an der technologischen Entwicklung, sondern auch an einem hausgemachten Problem. Der Finanzplatz Schweiz fällt gegenüber der Konkurrenz zurück und sein Ruf als «sicherer Hafen» hat durch den Zusammenbruch der Credit Suisse im März 2023 erheblich gelitten, wie die Unternehmensberatung Deloitte feststellt. Zwar bleibt die Schweiz in der internationalen Vermögensverwaltung noch die Nummer eins, doch der Vorsprung zum Vereinigten Königreich und den USA schmilzt dahin.
Wenn sie ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten wollen, bleibt den Banken also kaum eine andere Option, als etwas Neues auszuprobieren. Ein bisschen Angst, etwas zu verpassen, kann dabei ganz hilfreich sein – denn von selbst dürfte sich wohl keine Kreditanstalt aus der Komfortzone katapultieren.