Digitale Innovation ist mehr als ein "fancy Frontend"
Nach Jahrzehnten als Berater hat Lukas Bär umgesattelt und ist heute Geschäftsführer der Stiftung Lebensart, die Wohnraum und Arbeitsplätze für Menschen im Alter und Menschen mit Beeinträchtigungen betreibt. Wie das zu seiner Funktion als Jurypräsident der Kategorie Digital Innovation des Digital Economy Awards passt, erklärt er im Gespräch.
Sie sind seit 1. März Geschäftsführer der Stiftung Lebensart, die seit über 200 Jahren Dienstleistungen für beeinträchtigte Menschen und Menschen im Alter mit unterschiedlichem Pflegebedarf anbietet. Das ist ein ziemlicher Kontrast zu Ihrer bisherigen Karriere als Unternehmensberater. Wie kam es dazu? Warum haben Sie umgesattelt? Und wie passt das zu Ihrer bisherigen Tätigkeit?
Lukas Bär: Es ist nicht ungewöhnlich, dass Unternehmensberater mit dem Erreichen einer gewissen Seniorität mit dem Gedanken spielen, in eine leitende Position auf Unternehmensseite zu wechseln. Bei mir war ausschlaggebend, dass ich nach über 20 Jahren in der Beratung nicht noch weitere 10 anhängen wollte. Das Beratungsgeschäft ist dynamisch und kompetitiv, da wird es naturgemäss zunehmend anspruchsvoll, mit den brillanten Jungen von den besten Universitäten mitzuhalten. Ich wollte da nicht irgendwann einfach zum Inventar gehören und habe deshalb für mich entschieden, dass ich noch eine neue Herausforderung anpacken möchte. Als dann die Anfrage kam, ob ich Lust hätte, mich bei Lebensart als Geschäftsführer zu engagieren, musste ich nur kurz überlegen. Ich freue mich sehr, kann ich doch in meiner neuen Rolle eine sehr sinnstiftende Tätigkeit ausüben. Bei Lebensart sind wir bestrebt, unsere Dienstleistungen kundenorientiert und nach höchsten professionellen Standards zu erbringen. Gleichzeitig verfolgen wir ambitionierte finanzielle Ziele, um unsere Existenz langfristig zu sichern. Ein Unternehmen zu führen, ist auch kein Novum für mich. Ich war über 10 Jahre Managing Partner von Abegglen, bis wir uns 2016 der skandinavischen Implement Consulting Group angeschlossen haben. Nach zwei Jahren Integration gab ich die Standortleitung in Zürich ab. Aber irgendwie fehlte mir dann doch eine Führungsrolle.
Wie steht es um die Digitalisierung in sozialen Institutionen in der Schweiz im Allgemeinen und in den Betrieben von Lebensart im Besonderen?
Die Digitalisierung ist natürlich auch in unserer Branche voll im Gang und wird nicht zuletzt durch die Vorgaben der öffentlichen Hand und Sozialversicherungen entsprechend forciert. Allerdings stehen unsere Institutionen bei den Anbieterfirmen innovativer Lösungen nicht im Hauptfokus. Wahrscheinlich ist unser Markt zu wenig lukrativ. Die Anbieter fokussieren eher auf Spitäler, weil dort die grossen Budgets liegen. Momentan liegt der Schwerpunkt der Digitalisierung überdies vor allem in der Dokumentation, etwa der elektronischen Klientenverwaltung und -dokumentation. Ich habe mich zwar schon einige Male gefragt, wie sinnvoll die Texteingabe bei der Dokumentation der Betreuungs- und Pflegetätigkeit ist. Gescheiter wären hier innovative Lösungen etwa mit Spracheingabe oder mit Trackern. So könnten sich die Pflege- und Betreuungspersonen auf die Arbeit mit den Klientinnen und Klienten konzentrieren, statt irgendwelche Rapporte in Prosa schreiben zu müssen. Aber natürlich setzen wir auch bei Lebensart IT-Lösungen wie easyDOK und heimNET ein.
Wie digitalisiert sind denn Stiftung und Betrieb konkret?
Ehrlich gesagt, war Digitalisierung bis jetzt nicht das hauptsächlichste Thema bei uns – aber klar: IT ist überall und auch wir setzen rund 60 verschiedene Applikationen ein. Bis hin zu Software für die Landwirtschaft. Ganz grundsätzlich ist der ganze Alters- und Betreuungsbereich einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Vergleichbar mit den Veränderungen, die seit einigen Jahren in der Spitallandschaft stattfinden.
Wir müssen die Digitalisierung nutzen, um die gesellschaftlichen Veränderungen abzubilden und darauf entsprechende Antworten zu finden. Gleichzeitig sind wir gefordert, den sich verändernden Vorgaben der Sozialversicherungen und der öffentlichen Hand Rechnung zu tragen. Die Digitalisierung hilft uns heute schon, effizient zwischen unseren verschiedenen Standorten zu kommunizieren und mit ihnen zu interagieren. Die Digitalisierung ist aber auch Mittel zum Zweck, um die Bedürfnisse der kommenden Generationen von Klientinnen und Klienten, Angehörigen, Mitarbeitenden und Partnerorganisationen zu adressieren. Sie werden anders kommunizieren und interagieren wollen als die heutigen.
Auf Betriebsebene sind wir beispielsweise aktuell dabei, die Medikamenten-Verblisterung und -ausgabe zu digitalisieren – dies erfordert viele Schnittstellen zu verschiedensten IT-Systemen. Zudem sind wir daran, ein Tool für die Personalrekrutierung und eine Applikation für das immer komplexer werdende Facility Management einzuführen. Bereits seit längerem automatisierten wir mit Abacus die Rechnungsfreigaben, verwalten den Eintrittsprozess für Mitarbeitende digital, nutzen Microsoft 365 mit Teams und betreiben Videokonferenzanlagen an allen Standorten. 2020 haben wir die Erneuerung der IT-Infrastruktur abgeschlossen sowie unser Netzwerk erneuert und sicherer gemacht. Damit haben wir die Basis gelegt für unsere Cloudstrategie. Im Zuge dieser Erneuerungen haben wir die Wartung von Teilen unserer IT-Infrastruktur ausgelagert. Nur so können wir die hohen Sicherheitsanforderungen an unsere Datenverwaltung und an unsere IT-Systeme sicherstellen.
Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Grenzen der Digitalisierung in Ihrer Branche? Oder anders gefragt: Wie kann die Digitalisierung den Bewohnerinnen und Bewohnern im täglichen Leben helfen?
Die Digitalisierung muss uns vor allem bei administrativen Prozessen unterstützen, damit unser Pflege- und Betreuungspersonal mehr Zeit hat für die Arbeit mit den Klientinnen und Klienten. Ich finde es deshalb bedauerlich, dass von den Anwendern viele Digitalisierungsprojekte genau gegenteilig wahrgenommen werden. Es hält sich in der ganzen Branche bis in die Spitäler hartnäckig ein Narrativ, dass Digitalisierung vor allem mehr Aufwand, mehr Ärger und mehr Schnittstellen bringt – das darf nicht sein.
Chats, Videoanrufe und andere digitale Kommunikationsmittel können nie die Nähe unserer Pflegenden und Betreuenden, der Angehörigen und der Freunde zu den Klientinnen und Klienten ersetzen. Als Notlösung während Lockdown, Kontaktbeschränkungen und Besuchsverboten, da konnte die fehlende Nähe durch digitale Hilfsmittel ein Stück weit überbrückt werden. Ein Dauerzustand kann das nicht sein.
Aber ohne Frage haben uns digitale Kommunikationsmittel enorm geholfen, den operativen Betrieb aufrechtzuerhalten.
Als Betreiberin von Alters- und Pflegeheimen beherbergen Sie die besonders vulnerablen Gruppen. Wie ist Lebensart bisher durch die Coronapandemie gekommen und wie hat die Digitalisierung dabei geholfen?
Wir haben das bestmögliche aus der Situation gemacht. So stellten wir den Bewohnerinnen und Bewohner Smartphones zur Verfügung, wenn sie kein eigenes hatten, damit sie mit ihren Angehörigen Videoanrufe machen konnten. Unsere Mitarbeitenden engagierten sich und engagieren sich weiterhin sehr für das Wohlbefinden der Klientinnen und Klienten und suchen stets kreative Lösungen, um den Alltag trotz Einschränkungen möglichst abwechslungsreich und erfüllend zu gestalten. Intern haben wir das Intranet als Hauptinformationskanal etabliert sowie Sitzungszimmer mit der nötigen Infrastruktur für Videokonferenzen ausgerüstet und viele physische Sitzungen in Teams-Besprechungen umgewandelt. Dem Engagement unserer Mitarbeitenden und der Offenheit für interdisziplinäre Zusammenarbeitsformen ist es auch zu verdanken, dass wir diese Zeit gut meistern konnten, selbst wenn es schwierige Momente gab. Wir hatten ausserdem auch viel Glück und waren durch die ländlichen Standorte auch nicht so sehr im Brennpunkt wie etwa Heime in den Städten.
Als soziale Institution im AHV- und IV-Bereich müssen Sie ein elektronisches Patientendossier für Ihre Klientinnen und Klienten führen, sofern diese damit einverstanden sind. Aber noch immer hapert es bei der Umsetzung und der Start der Stammgemeinschaften wurde abermals verschoben. Wie schätzen Sie das Vorhaben hinsichtlich Nutzen und Machbarkeit ein? Wird das EPD jemals flächendeckend funktionieren?
Das EPD wird sicher irgendwann funktionieren ... Fragwürdig ist für mich aber nach wie vor, weshalb für Spitäler, Pflege-Institutionen, Rehazentren, Heime etc. ein Obligatorium besteht, für Ärzte jedoch nicht. Dabei wären genau diese Schnittstellen so wichtig, um eine umfassende Dokumentation über den Gesundheitszustand, Vorerkrankungen, Medikamentenverschreibungen etc. zu haben. Im Notfall kann das Leben retten.
Unsere IT geht mit den Lösungsanbietern HIN und easyDOK die Voraussetzungen für die Einführung des EPD an. Es bleiben aber viele organisatorische Herausforderungen – so darf mit der weiterführenden elektronischen Dokumentation der Admin-Aufwand nicht ins Unermessliche steigen, denn Administration gehört in der Pflege nicht oder nur bedingt zu den wertschöpfenden Tätigkeiten – hier würde ich mir mehr Pragmatismus und Verständnis für die Mitarbeitenden in der Pflege wünschen. Sie haben ihren Beruf nicht gewählt, um endlos Berichte zu schreiben, sondern weil sie sich um die Menschen kümmern wollen. In diesem Zusammenhang habe ich ja bereits die Spracheingabe erwähnt, die meiner Meinung nach der Texteingabe vorzuziehen wäre. Zudem dürften kleinere Institutionen mit all den Vorgaben und Herausforderungen rund um die IT überfordert sein. Das dürfte den Strukturwandel in unserer Branche beschleunigen und zu weiteren Zusammenschlüssen führen.
Wie beeinflusst Ihre neue Tätigkeit als Geschäftsführer von Lebensart Ihr Engagement als Jurypräsident der Kategorie Digital Innovation of the year des Digital Economy Awards? Wo sehen Sie Parallelen?
Die Parallelen sind heute überschaubar. Aber meine persönliche Ambition und auch mein Interesse für digitale Innovation sind natürlich immer noch vorhanden. In meiner neuen Funktion muss ich auch besonders kritisch abwägen, wie viel Technologie nötig ist und wie viel wir einsetzen können, ohne die Klienten oder auch die Mitarbeitenden zu überfordern. Nur wenige gehören zu den «innovators», «early adopters» oder gar zu einer «early majority». In unserer Branche erbringen wir die Dienstleistung direkt an den Menschen und im direkten Kontakt findet die Wertschöpfung statt. Wir wollen bei der Mensch-Mensch-Interaktion keine Abstriche machen, indem wir Technologie zwischenschalten und dann durch die Benutzung der Technologie weniger Zeit für die Betreuung der Menschen bleibt. Im Gegenteil: die Technologie muss immer dafür sorgen, dass die Mitarbeitenden mehr Zeit haben für die Arbeit mit den Menschen – und nicht umgekehrt.
Was hat sich Ihrer Ansicht nach durch Corona verändert im Zusammenhang mit der Digitalisierung in Schweizer Organisationen? Inwiefern werden Sie Digitalisierungsprojekte 2021 in der Jury anders beurteilen als noch 2019?
Ich denke nicht, dass wir in der Jury grundsätzlich anders urteilen werden als vor Corona. Verändert hat sich hingegen die Wahrnehmung von Digitalisierung in der Öffentlichkeit. Die Pandemie hat uns gezeigt, wie nützlich digitale Kommunikationskanäle, digitale Arbeitsmittel, und digitale Prozesse sind, um den Betrieb von Unternehmen sicherzustellen. Und sie hat gezeigt, wo in Unternehmen oder auch in der öffentlichen Verwaltung Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung besteht. Wir müssen heute mit dem Award also nicht mehr in erster Linie um die breitere gesellschaftliche Akzeptanz von Digitalisierung kämpfen. Denn Digitalisierung wird - meiner Einschätzung nach - im Vergleich zu vor Corona weniger als Bedrohung, sondern vielmehr als nützlich und förderlich für die Zusammenarbeit wahrgenommen.
Welche Art von Digitalisierungsprojekten wird Ihr Interesse im Rahmen des diesjährigen Digital Economy Awards besonders wecken? Was hat in der Kategorie «Digital Innovation of the Year» eine besonders gute Chance auf den Sieg?
Digitale Innovation ist für mich mehr als ein "fancy Frontend". Ich finde es besonders spannend, wenn alteingesessene Unternehmen mit langjähriger Geschichte es schaffen, digitale Prozessinnovation in ihre Organisation einzubauen und konsequent anzuwenden. Wenn digitale Innovationsprojekte langlebig sind und dazu beitragen, dass im Unternehmen die Digitalisierung vom Projektstadium ins Tagesgeschäft transferiert wird, dann ist auch das für mich eine Leistung, die eine Auszeichnung verdient.
Welches Digitalisierungsthema liegt Ihnen persönlich besonders am Herzen?
Jetzt stehe ich beruflich wieder voll in der Welt der Old Economy – daher interessieren mich persönlich vor allem auch Projekte, die das Potenzial haben diese zu wandeln. Das Problem dabei ist: Wenn man von Innovation spricht, stehen junge, dynamische, agile Start-ups im Fokus. Uns muss es aber gelingen, die Digitalisierung der alten Wirtschaftswelt voranzubringen – diesen gesamtwirtschaftlich wichtigen Hebel dürfen wir nicht vernachlässigen.
Digital Economy Award
Bereits zum dritten Mal wird der Digital Economy Award vergeben. Bis zum 23. Juni 2021 sucht die Jury die "digital reifsten Unternehmen der Schweiz" und die innovativsten Digitalprojekte. Die Gewinner werden an der Gala-Veranstaltung im Hallenstadion am 11. November 2021 in vier Kategorien ausgezeichnet: "Digital Innovation Of The Year", "The Next Global Hot Thing", "Digital Excellence Award" sowie "Highest Digital Quality". Die Preisverleihung findet am Schluss der diesjährigen Digitaltage statt. Zudem werden mit dem "NextGen Hero" auch herausragende Nachwuchstalente geehrt, wie die Veranstalter mitteilen. Für die Kategorie "NextGen Hero" beginnt die Frist für Einreichungen am 5. Mai und läuft bis zum 30. Juli 2021.
Zur Person
Lukas Bär ist Jurypräsident der Kategorie «Digital Innovation of the Year» des Digital Economy Awards und Geschäftsführer der Stiftung Lebensart.
Lebensart bietet umfassende Dienstleistungen für beeinträchtigte Menschen und Menschen im Alter mit unterschiedlichem Pflegebedarf an. Ihre sechs Standorte stehen für Sicherheit, Geborgenheit und Lebensqualität. Bei Lebensart arbeiten mehr als 700 Mitarbeitende.
Zuvor sammelte Lukas mehr als 20 Jahre Erfahrung als Strategieberater und Geschäftsführer. Zuletzt war er Partner bei der skandinavischen Implement Consulting Group. Er ist ein ausgewiesener Strategieexperte und erfahrener Grossprojektmanager mit starken Kommunikations- und Change-Management-Fähigkeiten.
Er ist Co-Autor von "Strategic Agility - The modern strategist's playbook" und war viele Jahre Vorstandsmitglied in verschiedenen Unternehmen und Organisationen.