Andreas Uebelbacher im Interview

Accessibility im Web: Warum Barrierefreiheit in der Schweiz ins Stocken gerät

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Barrierefreie Websites sind noch längst nicht so verbreitet, wie sie es sein sollten. Andreas Uebelbacher von der Stiftung "Zugang für alle" spricht über die dringendsten Probleme bezüglich Accessibility im Web und über die Frage, ob ein Metaversum zu mehr Inklusion beitragen kann – oder ob es alles nur noch schlimmer macht.

(Source: Reneshia/AdobeStock.com)
(Source: Reneshia/AdobeStock.com)

Alle Menschen auf der Welt sollten freien Zugang zum Web haben – das sagt der Web-Erfinder Tim Berners-Lee. Tatsächlich sind aber nach wie vor viele Menschen aus weiten Teilen der Onlinewelt ausgeschlossen. Wie kann das sein?

Andreas Uebelbacher: Es ist tatsächlich so: Der Stand beim Thema Barrierefreiheit von digitalen Inhalten ist bei weitem nicht so gut, wie er eigentlich sein müsste, wo doch die Vorkehrungen dafür schon in der Grundkonzeption von HTML sozusagen mit eingebaut worden sind. Leider werden bei Umsetzungen aber die entsprechenden technischen Standards wie auch die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer noch immer zu wenig berücksichtigt, und das betrifft alle Formate, ob HTML/CSS, PDF oder andere. Die Ursachen dafür sind vielfältig, liegen aber meist im mangelnden Bewusstsein und im fehlenden Know-how in Projekten. Man könnte auch sagen: Da wurden in den letzten Jahrzehnten in dramatischem Ausmass Produktionskapazitäten für die Erstellung digitaler Inhalte hochgefahren, und da ist es nicht erstaunlich, dass Professionalität und Qualität leiden. Wir sind sozusagen noch immer in der Phase, in der Autos ohne Sicherheitsgurte oder Knautschzonen gebaut werden. Schlimm ist nur, dass es bei der Barrierefreiheit genau diejenigen Nutzer und Nutzerinnen trifft, die am meisten auf diese digitalen Inhalte angewiesen wären, und für die die Digitalisierung das grösste Potenzial aufweist.

Andreas Uebelbacher, Leiter Dienstleistungen, Stiftung "Zugang für alle". (Source: zVg)

In Software- und Webprojekten kommt das Thema Accessibility oftmals gar nicht zur Sprache – und wenn doch, fällt es immer wieder dem Faktor Zeit respektive Geld zum Opfer. Wie soll sich das ändern?

Also eigentlich ist Barrierefreiheit gar nicht teuer, wenn einmal das Wissen da ist, die Produktionsprozesse darauf ausgerichtet sind, und die entsprechenden Anforderungen frühzeitig berücksichtigt werden. Teuer ist es ja nur deshalb, weil sozusagen ein Teil der Grundausbildung von Entwicklerinnen, Content-Produzenten und Designerinnen komplett fehlt und erst während konkreter Projekte nachgeholt werden muss. Da erhalten Agenturen den Auftrag, Websites umzusetzen, und die müssen während des Projekts noch HTML lernen, oder wie man Formularfelder mit Labels verknüpft und wie man eine korrekte Überschriften-Struktur umsetzt. Oder Werbeagenturen verkaufen für dutzende von tausenden Franken einige Sekunden Video-Produktion, und vergessen dabei völlig die sehr günstig zu erstellenden Untertitel. Meist geht es um grundlegende Dinge, und die werden nicht weggelassen, weil das teuer wäre. Ändern kann sich das nur durch drastisch verbesserte Ausbildung bei allen Akteuren, vor allem auch auf Auftraggeber-Seite. Dann wüssten auch Auftraggebende, worauf sie achten müssen, was ihnen da wirklich geliefert wird, und sie könnten die Anbieter strikt in die Pflicht nehmen, ohne dafür überrissene Preise bezahlen zu müssen.

Welches sind die dringendsten Probleme bezüglich Barrierefreiheit im Netz?

Gemäss unserer Erfahrung aus einer grossen Zahl von Projekten, in denen wir regelmässig Websites auf Barrierefreiheit hin prüfen, sind die häufigsten auftretenden Barrieren die folgenden: unzureichende Kontraste, fehlende oder falsche Struktur-Informationen (d.h. Überschriften, Listen, Tabellen sind nicht korrekt umgesetzt, v.a. auch bei PDF-Dokumenten), eingeschränkte Tastaturbedienbarkeit (Fokus ist beim Tabben zu wenig sichtbar, interaktive Elemente sind nicht erreichbar), verlinkte und informative Grafiken weisen keine Textalternative auf, und Formularfehler (Labels und Fehlermeldungen sind nicht mit Feldern verknüpft, etc.). Das deckt sich stark auch mit der regelmässig durchgeführten Analyse der Startseiten einer Million wichtiger Websites durch die NPO WebAIM in den USA. Unterschiede ergeben sich daraus, dass die Analyse dort rein automatisiert erfolgt, und bestimmte Anforderungen weniger erfasst werden können, bei unserem Experten-basierten Ansatz die Quantifizierung demgegenüber sicher schwieriger ist.

Wer ist von den Barrieren im Web besonders betroffen? Und inwiefern?

Je nach Art des Web-Angebots können ganz verschiedene Bedarfsgruppen gravierend und auch unnötig eingeschränkt werden bei der Nutzung, ob mit visueller, auditiver, motorischer oder kognitiver Behinderung. So können etwa sehbehinderte Nutzerinnen und Nutzer Inhalte nicht wahrnehmen aufgrund des schlechten Kontrasts, gehörlose Menschen verpassen die Informationen im Instruktions-Video weil die Untertitelung fehlt, eine Tastaturnutzerin sieht zwar die Radiobuttons im Formular, aber aufgrund der schlechten Umsetzung sind diese beim besten Willen gar nicht erreichbar ohne Zeigegerät. Oder Menschen mit reduziertem Konzentrationsvermögen können wegen dauerhaft sich bewegender Elemente den anderen, statischen Inhalt nicht mehr nutzen. Was man sagen kann, ist, dass blinde Nutzer und Nutzerinnen oft deshalb besonders von Barrieren betroffen sind, weil für ihre Art der Nutzung digitaler Angebote mittels Screenreader ganz viele verschiedene Anforderungen erfüllt sein müssen, damit dieser Kanalwechsel funktioniert. Und damit ist das Risiko grösser, dass sie irgendwo in diesem Spektrum auf eine unüberwindliche Barriere treffen. Besonders betroffen sind Menschen mit verschiedenen Formen von Behinderungen sicher dann, wenn für sie der digitale Kanal der einzig mögliche ist, wie sie überhaupt an Informationen oder Dienstleistungen gelangen können.

An blinde Nutzerinnen und Nutzer denkt man beim Thema Accessibility relativ häufig. Welche Personengruppe geht Ihrer Meinung nach oft vergessen? Und was sind die Bedürfnisse dieser Menschen?

Blinde Nutzer und Nutzerinnen sind tatsächlich eine Gruppe, an die man oft im Zusammenhang mit digitaler Barrierefreiheit denkt. Zum Glück ist bei Berücksichtigung dieser Anspruchsgruppe in einem Projekt bereits eine ganze Reihe von Anforderungen weitgehend bekannt, auch für andere Behinderungsformen, beispielsweise die Tastaturbedienbarkeit für Menschen mit motorischen Einschränkungen. Wichtige Gruppen, die unseres Erachtens eher zu wenig berücksichtigt werden, sind etwa gehörlose Menschen. So ist die korrekte – und eben nicht die automatisch erstellte fehlerhafte – Untertitelung von Videos, so wenig aufwändig sie wäre, noch lange nicht Standard, und Gebärdensprache-Videos sind leider noch immer eine Ausnahmeerscheinung. Ebenso selten trifft man Angebote in leichter Sprache an, welche sicher auch, aber nicht nur Menschen mit kognitiven Einschränkungen zugute kommen.

Wo steht die Schweiz bezüglich Accessibility im internationalen Vergleich?

Das ist nicht ganz einfach einzuschätzen und belastbare Erhebungen für einen direkten Vergleich sind uns derzeit nicht bekannt. Zwar wird Barrierefreiheit in anderen Staaten wie beispielsweise in den USA teils viel drastischer eingefordert, auch mit richtiggehenden Klagewellen gegen nicht barrierefreie Webangebote. Auf EU-Ebene scheint uns das Thema auf politischer Ebene weiter zu sein – die EU gibt auch den Takt vor für die Entwicklung der Accessibility-Standards in der Schweiz. In konkreten Projekten haben wir aber den Eindruck, dass die Schweiz im europäischen Vergleich durchaus mithalten kann. Wann immer wir etwa in einem grösseren IT-Projekt involviert sind, in dem Anbieter aus dem EU-Raum den Zuschlag für Umsetzungen erhalten, dann ist damit noch keinesfalls gewährleistet, dass das Know-how vorhanden ist und die Entwicklungen entsprechend barrierefrei erfolgen.

Laut Ihrer Accessibility-Studie vom Herbst 2020 war nur ein Viertel der Schweizer Onlineshops barrierefrei zugänglich. Was hat sich Ihrer Erfahrung nach seither geändert?

Leider viel zu wenig. Auch wenn wir inzwischen diese Shops nicht mehr im gleichen Umfang erneut geprüft haben, so zeigt eine Sichtung einzelner repräsentativer Angebote, dass insbesondere dort, also bei Angeboten des täglichen Informations- oder auch Warenbedarfs, nur wenige Fortschritte erkennbar sind. Vor allem Onlineshop-Betreiber haben unseres Erachtens das Umsatz-Potenzial mit Menschen mit Behinderungen noch zu wenig erkannt, werden in der Schweiz aufgrund des fehlenden regulativen Drucks nicht in die Pflicht genommen und setzen noch zu häufig auf den marktschreierischen Marketing-Ansatz, nur "lauter" sein zu wollen als ihre Mitbewerber, nicht aber qualitativ besser. Positive Ausnahmen bestätigen die Regel, aber leider gibt es von diesen Ausnahmen noch zu wenige.

Was können Schweizer Webentwicklerinnen und -Entwickler tun, um das Problem zu entschärfen?

Zwar braucht es für grosse Richtungsanpassungen auch beim Thema Barrierefreiheit Top-Management-Support, und der fehlt oft leider noch immer, oder es bleibt bei Lippenbekenntnissen ohne Ressourcenbereitstellung. Ganz kostenlos ist vor allem ein Turnaround nicht, von einer fehlenden Berücksichtigung des Themas zur umfassenden Professionalisierung der Web-Entwicklung in Bezug auf Barrierefreiheit. Aber es bieten sich durchaus auch Ansatzpunkte von der Basis her, getrieben durch Entwicklerinnen und Entwickler oder Content-Verantwortliche. Schliesslich geht es bei vielen Anforderungen der Barrierefreiheit um das grundlegende Einhalten des HTML-Standards. Das sollte eigentlich ganz normales Handwerkszeug von Web-Entwicklern und -Entwicklerinnen sein, ob Felder mit Labels verknüpft werden, grafische Schalter korrekt beschriftet werden, die Sicherstellung der Tastaturbedienbarkeit oder auch der korrekte Umgang mit Semantik (Überschriften, Listen, Tabellen, Paragraphen, etc.). Das ist alles nicht Hexenwerk, und mit dem Accessibility Developer Guide hatten wir schon 2018 das handlungsrelevante Know-how bereitgestellt, inklusive vieler barrierefreier Beispiel-Umsetzungen.

Wird es eines Tages möglich sein, das Problem der mangelnden Barrierefreiheit im Web allein durch Soft- und Hardware zu lösen?

Nein, das ist derzeit Wunschdenken. Bisherige teilautomatisierte Lösungen, wie zum Beispiel sogenannte Accessibility-Layer, mit denen schlechte Websites zugänglich werden sollen, erreichen längst nicht, was sie versprechen. Das ist im übertragenen Sinn der Ansatz, ein Gebäude erst als baufälligen Pfusch zu erstellen, und das dann mit Aussengerüsten gradebiegen zu wollen – das klappt nicht. Und im Web-Standard HTML sind ja bereits viele Vorkehrungen für Barrierefreiheit eingebaut, und dennoch mogeln sich da zu viele Akteure drum herum und arbeiten nicht gemäss Spezifikation.

Wenn Sie an die grossen Technologiekonzerne denken: Welches Unternehmen würden Sie in Bezug auf Accessibility als vorbildlich bezeichnen – und von welchem würden Sie sich mehr Engagement wünschen?

Na ja, insofern diese Technologiekonzerne eine Vorbildfunktion ausüben sollten, würden wir uns da noch mehr wünschen, und zwar von allen. Da gibt es sicherlich einige gute Initiativen, aber umgekehrt gab es in den letzten Jahren auch erstaunliche Dinge, wie zum Beispiel, dass neue Browser-Versionen lanciert werden, wobei Barrierefreiheit offenbar keine Rolle spielte. Später wird das dann wieder nachgerüstet beziehungsweise gradegebogen, aber Inklusion ist das nicht. Wir sind aber als Stiftung in der Schweiz auch primär auf Projekte zu Websites und Mobile Apps von Schweizer Anbietern fokussiert und testen die entsprechenden ausländischen Angebote nicht umfassend und ausreichend.

Unter dem Stichwort "Metaverse" wollen bereits einige Unternehmen die Digitalisierung sozialer Aktivitäten auf das nächste Level bringen. Könnte so ein Metaversum zu mehr Inklusion beitragen oder sind noch mehr Barrieren vorprogrammiert?

Mal abgesehen von gravierenden Datenschutz-Problematiken oder davon, dass sich dann plötzlich alle Europäer und Europäerinnen nur noch in US-amerikanischen, virtuellen Räumen bewegen sollen, haben neue technologische Entwicklungen immer Chancen und Risiken, ebenso für Menschen mit Behinderungen. So könnten sich etwa Menschen mit motorischen Einschränkungen in diesen Räumen gleichermassen frei bewegen wie alle anderen auch. Umgekehrt können aber auch dort wieder bestimmte Gruppen abgehängt werden, wenn nicht entsprechend für gute Zugänglichkeit gesorgt wird, nicht zuletzt auch ältere, oder wenig technikaffine Nutzerinnen und Nutzer.

Ihre Stiftung wurde letztes Jahr 20 Jahre alt. Welches war der grösste Meilenstein im Bereich Accessibility in den vergangenen 20 Jahren?

Ich denke, das Abstellen auf einzelne Ereignisse ist da nicht so einfach, weil diese zwar grossen Symbol-Charakter haben können wie etwa die Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention durch die Schweiz im 2014. Aber die Frage ist dann unmittelbar, was das ganz konkret und direkt erkennbar für Betroffene bewirken konnte. Und dann bleiben die direkten positiven Folgen teils weit hinter dem zurück, was man sich erhofft hatte, oder es dauert viel länger, bis positive Wirkungen erkennbar werden. Zu nennen ist sicher die Standardisierung der Accessibility-Anforderungen in der Richtlinie WCAG 2.0 im Jahre 2008, welche bewusst Technologie-unabhängig formuliert wurde. Seither ist klar, was für Barrierefreiheit gefordert ist, und zwar für alle möglichen digitalen Formate. Da gibt es kein "moving target" mehr, zumal in den neueren Versionen der WCAG die bestehenden Anforderungen auch stabil geblieben und lediglich erweitert worden sind. Aus unserer Sicht braucht das Thema Barrierefreiheit einen langen Atem, da muss man über viele Jahre dran bleiben können, so konnten wir im ersten Quartal 2022 die 100. Zertifizierung einer Website aussprechen, und das war eine kontinuierliche Leistung der Mitarbeitenden der Stiftung "Zugang für alle", die teils schon seit Gründung der Stiftung mit dabei sind. Trotzdem bleibt das oft ein Tropfen auf den heissen Stein in der Vielzahl von Web-Angeboten, wenn Barrierefreiheit nicht umfassend berücksichtigt wird.

Was wird wohl der nächste Durchbruch für die Barrierefreiheit sein?

Gab es denn schon einen? Wenn man sich lange genug mit dem Thema beschäftigt hat, dann erwartet man gar keinen Durchbruch mehr, dann versucht man mit realistischen Erwartungen kontinuierlich auf bessere Zugänglichkeit hinzuarbeiten. Denn grosse technische Neuerungen braucht es eigentlich gar nicht, es bräuchte vor allem einmal die flächendeckende Einhaltung grundlegender Webstandards. Leider passiert das noch viel zu oft nicht. Kollegen und Kolleginnen mit einer Behinderung sagen mir, sie fühlen sich bei den meisten neuen Websites, die sie besuchen, wie wenn das jeweils ein früher, sehr unfertiger Beta-Test wäre. Sicherlich hilfreich wäre es, wenn die verschiedenen Aktivitäten in der Schweiz zum Thema Barrierefreiheit, die derzeit noch wenig vernetzt und folglich auch etwas unkoordiniert laufen, in einem übergreifenden Netzwerk besser aufeinander abgestimmt würden. Dadurch könnten die Energien der verschiedenen Akteure gebündelt werden, und damit liesse sich hoffentlich die Taktzahl des Fortschritts erhöhen. Und ein deutlicher Fortschritt ist weiterhin dringend nötig.

Webcode
DPF8_251341