EU-Kommission will "Chatkontrolle" einführen
Digitale Massenüberwachung soll in Europa Standard werden, wenn es nach dem Willen der zuständigen EU-Kommissarin geht. Nun wird auch in der neutralen Schweiz der Protest lauter.
Die am Montag veröffentlichte Warnung des Schweizer Messenger-Dienstes Threema könnte nicht deutlicher sein: Mit dem als "Chatkontrolle" bekannten Gesetzesvorschlag der EU-Kommission solle in der Europäischen Union "ein Massenüberwachungsapparat von orwellschem Ausmass" eingerichtet werden.
Aber hatten wir die EU-Chatkontrolle nicht vom Tisch? Warum ist das Schreckgespenst zurück?
Das hat mit einem "Hütchenspielertrick" zu tun, wie es der Chaos Computer Club (CCC) in einer kritischen Stellungnahme zum Vorhaben nannte.
Wo ist das Problem?
Tatsächlich könnte bereits an diesem Donnerstag der EU-Rat über das umstrittene Vorhaben, das die EU-Kommission seit 2022 aufgleisen will, abstimmen.
Zur Erinnerung: Der EU-Rat ist das Organ, das die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten der Europäischen Union festlegt. Die Präsidentschaft für dieses Gremium, die im Halbjahresrhythmus von Land zu Land wechselt, liegt bis Ende Juni bei Belgien. Und die Belgier wollen nun offenbar der EU-Kommission dabei helfen, die umstrittene Chatkontrolle doch noch über einen "Kompromissvorschlag" umzusetzen.
Die bisherige Sperrminorität gegen das Vorhaben wackle, konstatiert netzpolitik.org. Dies, weil Frankreich Zustimmung signalisiert habe. Sollte der EU-Rat am Donnerstag für die Chatkontrolle votieren, könnte das Vorhaben in die sogenannten Trilog-Verhandlungen zwischen EU-Kommission, Rat und Parlament gehen.
Sicher ist: Die zuständige EU-Kommissarin (dazu unten mehr) strebt eine digitale Massenüberwachung an. Dies mit dem noblen Ziel, Inhalte, die sich um sexuellen Missbrauch von Kindern drehen, zu bekämpfen.
Überwacht werden sollen alle Social-Media-Plattformen, Chat-Dienste und Websites, aber auch Messenger-Apps wie Threema, Signal oder WhatsApp, die die Chat-Nachrichten mit Verschlüsselung abhörsicher machen.
Damit droht eine Aufweichung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung (E2EE) von Messenger-Diensten wie Threema oder WhatsApp. Etwas, wovor Wissenschaftler und Cybersicherheits-Fachleute seit Jahren warnen. Es geht um das sogenannte Client-Side-Scanning. Inhalte sollen vor dem verschlüsselten Versenden noch auf den Geräten der User automatisch geprüft werden.
Wie argumentieren Threema, Signal und die Piratenpartei?
Der belgische Vorschlag sieht vor, dass die Nutzerinnen und Nutzer der Überwachung und damit verbundenen Aufweichung der E2EE zustimmen sollen. Wer dies nicht akzeptieren will, dürfe im jeweiligen Messenger-Dienst keine Bilder und Videos mehr versenden.
Die Chatkontrolle sei nicht nur politisch und technisch umstritten, sondern auch juristisch, ruft netzpolitik.org in Erinnerung. Am grundsätzlichen Problem, "der anlasslosen Überwachung unbescholtener Menschen", ändere der belgische Kompromissvorschlag nichts.
Der EU-Abgeordnete Patrick Breyer von der deutschen Piratenpartei kommentiert: "Wir stehen am Rande eines so extremen Überwachungsregimes, wie es nirgendwo sonst in der freien Welt existiert. Nicht einmal Russland und China haben es geschafft, Wanzen in unsere Smartphones einbauen zu lassen, wie es die EU beabsichtigt."
Um Kritiker des Vorhabens innerhalb der französischen Regierung zum Schweigen zu bringen und die Öffentlichkeit zu täuschen, enthalte der endgültige Gesetzestext "Lippenbekenntnisse zu sicherer Verschlüsselung", während diese in Wirklichkeit zerstört würde.
Hinter verschlossenen EU-Türen wurden offenbar Vorschläge gemacht, die gewährleisten sollen, dass Verschlüsselung nicht geschwächt werde und die E2EE bei Messenger-Diensten weiterhin verfügbar sei.
Von solchen unbelegten Versprechen halten die Threema-Macher nichts. Und auch bei der gemeinnützigen Signal-Stiftung, die hinter dem gleichnamigen Messenger-Dienst steht, ist die Kritik klar und deutlich. Es handle sich lediglich um rhetorische Spielchen.
Anstatt den bereits in Verruf geratenen Begriff "Client-Side-Scanning" zu verwenden, würden die Befürworter der Chatkontrolle neu von "Upload Moderation" sprechen – und sie behaupteten wahrheitswidrig, dies untergrabe nicht die Verschlüsselung, weil das Scannen stattfinde, bevor die Nachricht verschlüsselt werde.
"Es gibt keine Möglichkeit, die Integrität der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu bewahren und gleichzeitig verschlüsselte Inhalte der Überwachung auszusetzen", sagt Meredith Whittaker, Präsidentin der Signal Foundation.
Auch die Schweizer Piratenpartei reagiert nun, wie die Verantwortlichen gegenüber watson erklären. Man appelliere mit einem offenen Brief an den zuständigen Bundesrat, Aussenminister Ignazio Cassis, und bitte ihn, eine Protestnote nach Brüssel zu übermitteln.
Weiter erinnert die Piratenpartei an den vom Nationalrat Ende 2023 "mit überwältigender Mehrheit" angenommenen parlamentarischen Vorstoss, mit dem der Bundesrat aufgefordert wurde, die Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz vor der Chatkontrolle zu schützen.
Zudem würden diese Woche Kundgebungen in Bern abgehalten, teilte Monica Amgwerd, Generalsekretärin der Piratenpartei Zürich, am Dienstag mit.
Was sagen bekannte europäische Politikerinnen und Politiker?
In einem offenen Brief appellieren 36 Politikerinnen und Politiker aus Europa an die EU-Mitgliedstaaten, gegen die sogenannte Chatkontrolle zur Bekämpfung von sexueller Gewalt gegen Kinder zu stimmen.
Man sei davon überzeugt, dass die vorgeschlagenen Massnahmen mit den europäischen Grundrechten unvereinbar seien, heisst es in dem Papier, das der deutschen Nachrichtenagentur "dpa" vorliegt.
"Anstatt Kinder effektiv vor sexualisierter Gewalt im Netz zu schützen, greift der Kompromissentwurf auch weiterhin massiv in den Schutz der digitalen Privatsphäre aller ein", sagt Tobias Bacherle, deutscher Grünen-Bundestagsabgeordneter und Mitinitiator des Protests. Der digitalpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und Mitinitiator, Maximilian Funke-Kaiser, sagte, die "Chatkontrolle" schaffe keine zusätzliche Sicherheit für Kinder, sondern führe zum Ende der privaten Kommunikation über Messenger, wie man sie kenne.
Zu den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern gehören unter anderem die bekannte deutsche Sicherheitspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP und ihr Parteikollege Konstantin Kuhle sowie Konstantin von Notz und Emilia Fester von den Grünen.
Neben Politikern aus nationalen Parlamenten wie beispielsweise Deutschland und Österreich unterzeichneten auch Europaabgeordnete das Papier.
In dem offenen Brief heisst es weiter: "Wir setzen uns für den Schutz des Rechts auf anonyme und pseudonyme Nutzung des Internets sowie für die Stärkung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ein." Alle verhandelnden Regierungen würden dringend dazu aufgerufen, die aktuellen Pläne abzulehnen.
Wer ist verantwortlich?
Initiantin der geplanten Chatkontrolle ist die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, eine aus Schweden stammende sozialdemokratische Politikerin.
Sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen verbreite sich mit dramatischem Tempo im Internet, sagt die hochrangige EU-Vertreterin und beruft sich dabei auf fragwürdige Statistiken aus den USA.
Eine bisher unveröffentlichte Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) zeigt gemäss dem Nachrichtenmagazin "Spiegel" jedoch, dass vor allem die falschen Verdächtigungen aus den USA massiv gestiegen seien.
Recherchen von netzpolitik.org haben zudem fragwürdige Verbindungen und Einflussnahme (Lobbying) durch US-Unternehmen aufgedeckt, die offenbar auf ein lukratives Geschäft hoffen, was die technische Umsetzung der Massenüberwachung in Europa betrifft.
Was wären die negativen Folgen der geplanten Chatkontrolle?
Eine automatisierte Überwachung der gesamten digitalen Kommunikation wäre verheerend, wie Threema in seiner aktuellen Stellungnahme schreibt:
- Unter dem Vorwand von Kinderschutz könnten EU-Bürgerinnen und EU-Bürger "nicht mehr sicher und privat im Internet kommunizieren".
- Die drohende massive Verschlechterung der Datensicherheit "wäre ein schwerer Schlag für den Standortvorteil des europäischen Marktes".
- Berufsgruppen wie Anwälte, Ärzte und Journalisten könnten ihrer Schweigepflicht bzw. dem Quellenschutz im Internet nicht mehr nachkommen.
- Kinder wären durch die Chatkontrolle nur ein wenig besser vor Missbrauch geschützt. Bevor Missbrauchs-Darstellungen (englische Abkürzung: CSAM) überhaupt online geteilt werden könne, müsse ein Kind im echten Leben missbraucht worden sein. Genau hier müsse effektiver Kinderschutz ansetzen. Dies lasse die digitale Massenüberwachung ausser Acht.
- Für Minderjährige könnte die Massenüberwachung aber auch negative Konsequenzen haben. Einvernehmliches "Sexting" würde verunmöglicht.
- Tatsächlich überwachen Mark Zuckerbergs Meta-Konzern und andere Betreiber bereits freiwillig ihre Social-Media-Plattformen und versuchen, die Verbreitung illegaler Inhalte einzudämmen. Allein bei den deutschen Behörden gingen Jahr für Jahr zehntausende Hinweise auf online verbreitete Bilder von Kindesmissbrauch ein, wie der "Spiegel" schreibt. Doch die Zahl der falschen Verdächtigungen sei massiv gestiegen.
Sicher ist: Sollte die EU tatsächlich von Messenger-Diensten verlangen, die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung aufzuweichen, wird der Streit eskalieren.
Threema droht unverhohlen damit, "alle Optionen sorgfältig prüfen", inklusive rechtlicher Schritte, technischer Workarounds (Umgehung). Und weiter: "Sollte es keinen anderen Weg geben, werden wir andere Kommunikationsdienste aufrufen, die EU mit uns zu verlassen."