Peter Ohnemus im grossen IT-for-Health-Interview
2020 hat Peter Ohnemus mit Dacadoo zehnjähriges Jubiläum gefeiert. Eine lange Zeit für den Serial Entrepreneur, der schon seit der New Economy in den 1990er-Jahren Software entwickelt. Mit dem kürzlich von ihm gegründeten Digital Health Engagement Institute will er nun der Digitalisierung des Gesundheitswesens und der medizinischen Forschung Turboschub verleihen.
Vergangenes Jahr haben Sie mit Dacadoo zehnjähriges Bestehen gefeiert – was bedeutet dieses Jubiläum für Sie?
Peter Ohnemus: In der Vergangenheit sagten die Leute über mich, dass ich mit meinen Ideen und meinen Start-ups meistens ein bisschen zu früh dran gewesen sei. Das 10-Jahres-Jubiläum von Dacadoo ist nun eine Bestätigung für mich, dass wir mit der Geschäftsidee und dem Business-Case von Dacadoo richtig lagen. Wenn man sich zehn Jahre mit einem neuen Unternehmen behaupten kann, waren wir wohl dieses Mal nicht zu früh.
Was macht Dacadoo genau?
Wir entwickeln Technologielösungen für digitales Gesundheitsengagement und die Quantifizierung von Gesundheitsrisiken. Wir arbeiten mit Versicherern und betrieblichen Gesundheitsdienstleistern zusammen, um unsere Technologie auf den Markt zu bringen. Vor über zehn Jahren hatten wir die Idee, "Gesundheit" in einer einfachen und verständlichen Weise zu quantifizieren, also in einer Zahl von 0 bis 1000. Darin sollten körperliche Werte sowie Werte zum mentalen Wohlbefinden und Lebensstil einfliessen. So entstand der "Health Score". 2016 haben wir unsere "Lifestyle Navigation"-Plattform lanciert, die es Nutzenden erlaubt, auf spielerische und aktive Weise ihre Gesundheit zu messen und ihren Lebensstil zu halten beziehungsweise zu verbessern. 2018 haben wir die "Risk Engine" entwickelt, die basierend auf Gesundheitsdaten Wahrscheinlichkeiten von Lebenserwartung sowie Morbidität kalkuliert. Das stösst auch aufgrund von Covid-19 aktuell auf reges Interesse.
Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Wie zufrieden sind Sie mit dem Erreichten?
Dacadoo hat tatsächlich länger gebraucht, um so weit zu kommen, wie wir heute sind. Aber ich hätte bei der Gründung 2010 auch nie gedacht, dass sich das Thema digitale Gesundheit in der Schweiz so unfassbar langsam entwickeln würde. Wir sind noch lange nicht so weit, wie wir sein müssten. Die Trägheit des Schweizer Gesundheitswesens ist ein Risiko und wir müssen aufpassen, dass wir nicht den Anschluss verlieren. Sonst zahlt die Gesellschaft einen hohen Preis.
Wie meinen Sie das?
Mit der Effizienzsteigerung durch elektronisches Risk Management und digitale Patientendaten könnte man 25 bis 40 Prozent der Gesundheitsausgaben einsparen. Langfristig können wir uns ein Gesundheitssystem ohne zeitgemässe Digitalisierung nicht leisten.
Wie hat Dacadoo die vergangenen 18 Monate mit Corona gemeistert?
Für Dacadoo war 2020 ein sehr gutes Jahr, denn wir haben auch unser Wheel of Life lanciert, welches das digitale Gesundheitsengagement einfacher als je zuvor macht. Es umfasst sieben Bereiche, um den ganzheitlichen Gesundheitszustand eines Nutzers zu verfolgen und noch individuellere Ziele zu bieten. Es ist unser bisher genauester und ansprechendster Lifestyle-Navigator. Das hat uns 2021 den Gartner-Status "Cool Vendors In Insurance" eingebracht, worauf wir sehr stolz sind. Es war vielleicht auch ein positiver Effekt von Corona, dass die Akzeptanz für Digitalisierung nicht nur im Gesundheitswesen, sondern über alle Branchen hinweg massiv zugewonnen hat. Telehealth hat weltweit um 400 Prozent zugelegt.
Was treibt Sie bei Dacadoo an? Was ist Ihre Motivation?
Ich bin gross geworden in der Datenbankwelt und habe mich immer mit grossen Datenmengen auseinandergesetzt. Daten, und was man aus ihnen machen kann, haben mich immer fasziniert. Als ich mich dann ab 2009 mit dem Gesundheitswesen befasste, konnte ich kaum glauben, wie altmodisch und ineffizient dieses betrieben wurde und immer noch betrieben wird. Stichwort: Fax-Übermittlung. Besonders nachdenklich hat mich auch gemacht, dass einige kantonale Gesundheitsämter ihre Coronazahlen per Fax ans BAG übermittelten ... Aber auch sonst: Noch immer erfassen die verschiedenen Leistungserbringer – von Krankenkasse über Hausarzt und Spezialisten bis Spital und Apotheke – Patientendaten in separaten Silos. Das ist maximal ineffizient. Meine Vision wäre hier, eine gemeinsam genutzte Dateninfrastruktur mit Gesundheitsdaten und Personendaten in einem sicheren, verschlüsselten Umfeld zu nutzen. Man stelle sich dieses unglaubliche Potenzial vor, das Digitalisierung und Vernetzung von Gesundheitsdaten bietet. Welche Vorteile und Fortschritte damit in Forschung, Diagnostik und medizinischer Behandlung möglich würden. Solche Möglichkeiten der Verknüpfung von Daten faszinierten mich damals und begeistern mich heute nach wie vor.
Wie schätzen Sie die Entwicklung des Gesundheitswesens beziehungsweise den Stellenwert von Gesundheit im Zuge von Corona ein?
Corona hat unter anderem bewirkt, dass den Menschen sehr deutlich vor Augen geführt wurde, dass sie nicht ewig leben. Normalerweise macht man sich in meinem Alter, ich bin 56 und gesund, kaum Gedanken über das eigene Ende. Das fängt wohl erst ab 75 Jahren an. Damit man aber mit einer hohen Lebensqualität bis ins hohe Alter fit und zufrieden leben und die Zeit geniessen kann, die man hat, ist ein gesunder Lebensstil wichtig. Wer sich bewusst wird, dass es ein Ende gibt, tut alles dafür, um seine Lebenszeit zu verlängern. Dieses Bewusstsein ist mit Corona sicherlich massiv gestiegen.
Kürzlich haben Sie das Digital Health Engagement Institute (DHEI) gegründet. Warum braucht es das?
Die Non-profit-Stiftung DHEI soll das führende Forschungsinstitut für Digital-Health-Engagement-Tools und Digital Health Benchmarking werden. Das Institut versammelt Professoren und Experten aus den Bereichen Gamification, Verhaltenswissenschaft, Big Data und Datenverarbeitung im Gesundheitswesen aus der ganzen Welt, um die Prävention von nicht übertragbaren Krankheiten durch Lifestyle-Navigatoren und Wohlfühl-Apps voranzutreiben. Wir haben das Institut auch gegründet, um unabhängige Forschung zu betreiben. Ich möchte hier vorausschicken, dass ich selbst kein Asket bin und durchaus ab und zu eine gute Zigarre geniesse und ein Glas Rotwein trinke. Es geht mir mit dem DHEI nicht darum, die Menschen in ihrem Genussverhalten einzuschränken. Sondern es geht mir darum, die persönlichen Gesundheitsdaten, Daten aus dem Gesundheitswesen, aus der Medizin und der medizinischen Forschung so zu verknüpfen, dass wir damit zum Beispiel den Krebs besiegen können. Wenn wir aber eine künstliche Intelligenz mithilfe von Machine Learning trainieren wollen, dann brauchen wir dafür Daten – sehr viele Daten. Wir können keine Prävention machen, wenn wir keine Daten haben, aus denen wir lernen können. Insofern finde ich es etwas seltsam, dass wir politisch in der Schweiz so ein Theater um unsere Gesundheitsdaten machen. Denn einerseits wollen die Menschen Heilung, wenn sie krank sind, behindern aber die Forschung, indem sie ihre Daten nicht zur Verfügung stellen wollen – natürlich verschlüsselt –, aus Angst, jemand könnte sie missbrauchen. Stellen Sie sich vor, jemand bekommt die Diagnose Krebs. Diese Person wird sofort freiwillig alle ihre Daten für die Forschung zur Verfügung stellen, wenn dadurch die Überlebenschance steigt. Dass die Pharmaindustrie es innert zwölf Monaten geschafft hat, die Ausbreitung von Covid-19 mit Impfungen zu bremsen, ist der vernetzten Auswertung von Daten zu verdanken. Mit dem "Digital Health Engagement Institute" DHEI wollen wir erreichen, dass die Akzeptanz von digitaler Gesundheit gesteigert wird.
Wie soll das gelingen?
Das Internet ist damals erst richtig durchgestartet, als es mit HTML einen "Standard" dafür gab, mit welcher Programmiersprache man Websites baut. Ein solcher Standard für Gesundheitsdaten ist FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources, Anm. d. Red.), der von Health Level Seven International oder HL7 ins Leben gerufen wurde und den auch Apple und Google unterstützen. Würden alle Leistungserbringer im Gesundheitswesen auf einen Standard setzen, gäbe es etwa die Situation nicht mehr, dass eine private Klinik und ein Universitätsspital nicht in der Lage sind, Daten direkt von System zu System auszutauschen, sondern Texte und Bilder hin und her schicken müssen, die erst wieder für das jeweilige System codiert oder optimiert werden müssen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir im allgemeinen digitalen Gesundheitswesen Standards brauchen und vor allem in der Schweiz, wo wir vier Industrien haben, die davon direkt oder indirekt leben, inklusive der Export – Versicherungen, die Uhrenindustrie, Big Pharma und die Spitäler. Das DHEI wurde auch mit dem Ziel gegründet, eine einheitliche Datenbasis für Gesundheitsdaten zu fördern, die auf einem gemeinsamen Standard basieren, um die verschiedenen existierenden Datenquellen miteinander zu verknüpfen und auf dieser Basis länder- und institutionsübergreifend Forschung zu betreiben. Wir wollen dieses "HTML für das Gesundheitswesen" vorantreiben.
Wie sind Dacadoo und DHEI verbunden?
Mein Ziel ist, dass die beiden völlig unabhängig voneinander funktionieren. Ich werde in den kommenden Jahren helfen, das Institut aufzubauen und mich auch irgendwann wieder vom Institute zurückziehen. Das DHEI wird seine Erkenntnisse auch unseren Mitbewerbern zur Verfügung stellen.
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens in der föderalen Schweiz scheint nicht vom Fleck zu kommen. Das EPD ist noch immer nicht in allen Kantonen verfügbar. Woran krankt die Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen?
Das stimmt leider. Wir bringen es leider nicht fertig, Bund und Kantone, BAG und indirekt die Finma für die Versicherungen beim Gesundheitswesen auf eine Linie zu bekommen. Und ich habe echte Sorgen, wenn wir hier nicht endlich in die Gänge kommen. Das Problem ist, dass die Politiker in der Schweiz keine grosse digitale Erfahrung und Ausbildung haben. Hätten wir mehr Leute in der Regierung und im Parlament, die digitale Erfahrung und Weitsicht hätten, gäbe es schon längst die nötigen digitalen Rahmenbedingungen. Deshalb finde ich die EU-DSGVO gut. Jeder kennt die Regeln und kann sich danach richten. Als Unternehmer brauchen Sie verbindliche Spielregeln und können dann unsere digitalen Plattformen entwickeln. Ein weiteres Problem ist, dass wir mit staatsnahen Betrieben wie Swisscom und Post Unternehmen haben, die jeweils ihre eigenen Agenden im Gesundheitswesen vorantreiben wollen. Das geht nicht in der digitalen Standardwelt. Wir brauchen Open APIs. In der digitalen Welt einigt man sich auf eine Schnittstelle, also eine API, und darauf programmiert man dann die jeweiligen Softwarelösungen. Aber irgendwie scheint das in der Schweiz nicht möglich zu sein. Aus meiner Sicht vernichten wir hier Milliarden digitales Wachstum pro Jahr – Versicherungen, Uhrenindustrie, Big Pharma und Spitalwesen bleiben in der analogen Welt stehen.
Wie könnte die Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen beschleunigt werden?
Es muss sich ein Regierungsmitglied/Bundesrat persönlich dazu committen, indem er oder sie persönliche Verantwortung dafür übernimmt und als Botschafter des digitalen Gesundheitswesens auftritt.
Aber es gibt ja für die Digitalisierung der Verwaltung in der Schweiz nun eine neue Organisation, mit einem "Mr. Digitalisierung", Daniel Markwalder, dem Delegierten des Bundesrats für digitale Transformation und IKT-Lenkung. Es gibt mit "Mr. Cyber", Florian Schütz, einen Delegierten für die Cybersicherheit, mit "Mr. E-Government", Peppino Giarrita, einen Beauftragten von Bund und Kantonen für die Digitale Verwaltung Schweiz (DVS) – braucht es für die Beschleunigung des digitalisierten Gesundheitswesens auch noch einen "Mr. oder eine Ms. E-Health"?
Nein. Das Problem an dieser Art der Organisation ist ja gerade, dass die Verantwortung für die digitale Transformation von der Regierung "delegiert" wird. Aber, und das haben Sie schon hundertfach an jeder IT-Konferenz der Welt gehört: Digitalisierung ist Chefsache! Das kann man nicht delegieren! In jedem Land, das die digitale Transformation der Verwaltung erfolgreich gemeistert hat, nehmen wir als Beispiele Estland oder Dänemark; dort haben sich die jeweiligen Premierminister persönlich dafür eingesetzt. Der Bundesrat muss, so leid es mir tut, in Sachen Digitalisierung selbst viel mehr Verantwortung übernehmen und sich die Finger schmutzig machen.
Nach so vielen Jahren als Serial Entrepreneur: Wird es Ihnen nach über zehn Jahren bei Dacadoo nicht langweilig? Was sind Ihre nächsten persönlichen Ziele als Unternehmer?
Sie haben Recht. Zehn Jahre sind eine lange Zeit für mich. Ich habe noch nie so lange am gleichen Ort gearbeitet (lacht). Das hat auch damit zu tun, dass die Digitalisierung des Gesundheitswesens kein Sprint ist, sondern ein Marathon! Aber es ist auch nicht so, dass ich ausserhalb von Dacadoo inaktiv wäre. Ich habe etwa anderen Start-ups bei der Finanzierung geholfen und sie beraten. Ausserdem hatte ich während Corona, als unsere Reisetätigkeit eingeschränkt war, sehr viel Zeit, um über neue Dinge nachzudenken. Nachdem wir nun mit dem Health Score fertig sind und das Wheel of Life lanciert haben, werden Sie in den kommenden zwölf Monaten etwas Neues von uns hören. Ich habe mich intensiv mit dem Finanzmarkt auseinandergesetzt: Bald wird es einen Wealth Score geben, den unser Quant Team gerade fertig entwickelt.
Peter Ohnemus
Die Karriere von Peter Ohnemus ist nicht nur von Erfolgen geprägt. Einen Höhepunkt erreichte er mit seiner SQL AG, die er Anfang der 1990er an Sybase verkaufte. Später folgte mit dem Absturz seiner Fantastic Corporation der Tiefpunkt. Er rappelte sich wieder hoch und gründete die Asset4, die er 2009 an Thomson Reuters verkaufte.
2010 gründete er Dacadoo, das sich der Digitalisierung des Gesundheitswesens verschrieben hat. Das Unternehmen besteht heute aus 120 Mitarbeitenden aus mehr als 15 Ländern an Standorten in Europa, im asiatisch-pazifischen Raum und in Nord- und Südamerika.
2021 lancierte er das Digital Health Engagement Institute (DHEI), mit dem Ziel, eine einheitliche Datenbasis für Gesundheitsdaten zu fördern, die auf einem gemeinsamen Standard basieren, um die verschiedenen existierenden Datenquellen aus dem Gesundheitswesen miteinander zu verknüpfen und auf dieser Basis länder- und institutionsübergreifend Forschung zu betreiben. Peter Ohnemus hat fünf Töchter. Eine von ihnen studiert Medizin.