So löst man Zielkonflikte in Webprojekten
Jedes Teamprojekt braucht ein gewisses Mass an Reibung. Doch was tun, wenn Teams mit unterschiedlichen Expertisen aneinandergeraten und das Projekt in eine Pattsituation bringen? Wenn Konsens das Ziel ist, weist eine gepflegte Streitkultur den Weg.
Wer oder was ist wichtiger: die User und gute Usability oder die Suchmaschinen und relevante Suchbegriffe? Das kommt ganz darauf an, wen man fragt. Aus Sicht des Auftraggebers ist es klar: weder noch. Nutzerzentrierung gilt zwar als oberstes Gebot. Doch selbst die benutzerfreundlichste Website der Welt nützt nichts, wenn sie schlecht auffindbar ist und folglich kaum Reichweite erzielt. Es ist also keine Entweder-oder-Frage – das Testen sowie das Fine-Tuning der Usability sind für ein erfolgreiches Webprojekt ebenso wichtig wie die Suchmaschinenoptimierung (SEO).
Viel wichtiger ist die Frage nach der richtigen Mischung: Wie können beide Disziplinen am besten ineinandergreifen, um den übergeordneten Zweck zu erfüllen? Die Antwort darauf ist Verhandlungssache. Und das wiederum bedingt: Auftraggeberinnen, Auftraggeber und Experten sowie Expertinnen verschiedener Fachrichtungen müssen in der Lage sein, sich zu verständigen – selbst wenn sie nicht dieselbe Sprache sprechen. Wie das funktioniert, zeigt das Beispiel eines Streitgesprächs zwischen Usability-Experte Christopher Müller, SEO-Spezialist René Petry und Isabel Steinhoff, Managing Partnerin beim Digitalisierungsnetzwerk Parato.
Streitpunkte offenlegen
Das Ziel war klar, die Rollenverteilung auch: Parato gab ein Redesign der eigenen Website in Auftrag. "Eigentlich habe ich mir das Projekt ganz leicht vorgestellt", sagte Isabel Steinhoff, als sie sich mit den beiden Experten zur Manöverkritik traf. Die Idee klang vielversprechend: Experten zusammenbringen und gemeinsam die bestmögliche Lösung finden. Das Problem: "Schon beim Kickoff-Workshop gab es unterschiedliche Meinungen zum gleichen Thema."
Usability-Experte Christopher Müller (l.), Isabel Steinhoff, Managing Partnerin beim Digitalisierungs-Netzwerk Parato und SEO-Spezialist René Petry im virtuellen Streitgespräch. (Source: Screenshot)
Die erste Streitfrage betraf die Textmenge sowie die Informationsstruktur der Website. Aus Usability-Sicht gilt hier die Devise: Weniger ist mehr – "provokativ formuliert: Kein Kunde liest viel Text", sagte Christopher Müller, Expert Consultant bei Die Ergonomen Usability. Dem widersprach René Petry, Geschäftsführer der Onlinemarketing-Agentur Sichtbar. Weniger Text, mehr Visualisierungen, das sei schön und gut, doch "300 Wörter sind das Minimum für SEO-Content." Müller entgegnete wiederum, so viel Text sei für die Startseite zu viel. "300 Wörter lesen die User nur dann, wenn sie bereits eine Vorstellung des konkreten Lösungsansatzes haben."
Sich gegenseitig Bälle zuspielen
Wie weiter, wenn man sich darauf geeinigt hat, dass man sich nicht einig ist? Am besten einen Schritt zurück machen und offene, konstruktive Fragen diskutieren, um eine gemeinsame Basis zu schaffen. In diesem Fall spielte SEO-Experte René Petry den Ball zu Christopher Müller: "Erklär doch bitte noch genauer: Was brauchen Nutzerinnen und Nutzer auf der Startseite?"
Usability-Spezialist Müller brachte das Wesentliche auf den Punkt: "Man erwartet eine Zielbestätigung." User möchten sofort beurteilen können, ob diese Firma oder dieses Angebot beim Lösen des Problems hilft. Das passiere innerhalb von Sekunden und mittels Querlesens. "Wer eine Website besucht, hat meistens Schlüsselbegriffe oder Bilder im Kopf, die man – wie der passende Schlüssel zum Schloss – auf der Zielseite finden will. Wenn der Schlüssel beim ersten Durchscannen der Landingpage passt, fordert das zum genauer Hinschauen auf." Doch je mehr Text auf einer Startseite stehe, desto schwieriger sei diese Verknüpfung von Wort im Kopf mit Wort auf Website.
Anknüpfen, anerkennen und kontern
"Beim Wort 'Zielbestätigung' fühle ich mich wieder abgeholt", sagte Petry. Anschliessend erklärte er seine Sichtweise – und zwar auf kurze, pragmatische Weise. Ziel ist es, dass alle Beteiligten verstehen, warum das wichtig ist. "Über die Google-Suche bekommt der User zunächst eine Art Pitch. Und auf der Ergebnisseite sucht er die Stichworte, die bei ihm Vertrauen auslösen und ein Indiz dafür sind, ob das Ergebnis seine Problemstellung deckt."
Auftraggeberin Isabel Steinhoff schlüpfte gewissermassen in die Rolle der Moderatorin. Sie fasste zusammen: "Die Ursache für den Konflikt ist also darin zu suchen, dass ihr von zwei verschiedenen Ausgangspunkten gestartet seid. SEO will auf der ersten Seite der Suchergebnisse landen und Usability will eine gute Website respektive ein gutes Nutzererlebnis."
"Durchaus denkbar", sagte Müller. Bei einem starken Fokus auf Usability bestehe die Gefahr, den Weg zum Produkt respektive zur Webseite zu wenig zu beleuchten. Und es sei klar: Jede Website will zunächst einmal gefunden werden. Das funktioniere nur über möglichst relevante Suchbegriffe.
Ein Zugeständnis, gefolgt von einem Einwand: Der von Petry erwähnte Pitch sollte kurz und bündig sein. Ebenso wichtig sei eine gescheite visuelle Benutzerführung, da der User den Inhalt erst einmal überfliege, um seine Ziele zu bestätigen und Vertrauen aufzubauen. "Das passt halt schlecht zum SEO. Zudem sind viele Nutzerinnen und Nutzer lesefaul – das zeigen auch unsere Benutzertests: Selbst wenn das Interesse an einem Produkt bereits sehr konkret ist, werden die meisten Texte nach relevanten Stückchen durchgescannt. Deshalb wieder etwas provokant: Content is dead!"
Den grössten gemeinsamen Nenner finden
Isabel Steinhoff formulierte ihre Folgerung als Frage: "Du meinst also, der Aufwand für das ganze Texten lohnt sich nicht?" Müller präzisierte: "Für den User soll es einfach und prägnant sein; kurz, verständlich und damit nicht unbedingt mit Keywords gespickt. Der Aufwand zahlt sich dann aus, wenn die Aussage klar ist."
Auch Petry stimmte zu. Die Formulierung "Content ist King" sei zu einer hohlen Phrase verkommen. "Aber fangen wir mal vorne an", sagte er. "Die Startseite hat die meiste SEO-Power, fokussiert sich aber meistens auf den Brand und eben nicht auf das Problem des Nutzers oder der Nutzerin. Wenn wir aber ein Fokus-Keyword haben, das alles Wesentliche in einem Begriff rüberbringt, dann schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe." Wer die Website besucht, sollte demnach in nur einem Wort erfahren, was zum Angebot gehört – und was nicht. "Bei Parato wäre das 'Digitalisierung' – das muss unbedingt vorkommen", sagte Petry.
Ein Vorteil von SEO liege darin, dass man das Suchvolumen schon vor der Planung von Aktivitäten überprüfen könne, fuhr Petry fort. Die Anzahl Suchabfragen liesse sich so als Indikator für den möglichen Erfolg respektive als Proof of Concept herbeiziehen. Derselbe Ansatz gelte auch in der Usability, ergänzte Müller. "So sind Usability-Tests mit Benutzern ganz früh im Prozess, beispielsweise am Ende eines Design-Sprints, am wirkungsvollsten; dann sind die Ideen und Lösungsansätze noch formbar, die Menschen im Prozess noch flexibel im Kopf."
Isabel Steinhoff hat aus dem Streitgespräch einiges gelernt, wie sie sagte. Zunächst einmal: Der vermeintliche Widerspruch zwischen Usability und SEO ist kein Entweder-Oder-Konflikt. "Wir werden an beiden Achsen weiterschrauben", sagte sie. Die Diskussion habe zudem gezeigt, dass es eine gemeinsame Schnittfläche gebe. "Mein grösstes Learning bestand darin, die Stärken beider Disziplinen zu erkennen, abzuwägen und den besten Mix für die Zielerreichung zu finden. Man muss die Schwergewichte einfach bewusst ausloten."