Warum der Mobiliar-CIO auf die Frauenquote und eine Single-Cloud-Strategie setzt
Seit 2019 leitet Thomas Kühne die IT-Abteilung des Versicherungskonzerns Mobiliar. Nach seinem Stellenantritt führte er eine Frauenquote ein, startete die Reise in die Cloud und setzte auf agile Methoden. Was ihn dazu trieb und welche Projekte nun anstehen, verrät Kühne im Gespräch.
Seit bald 1000 Tagen sind Sie CIO bei der Mobiliar. Was waren die Highlights der letzten drei Jahre?
Thomas Kühne: Für mich persönlich war es das Schönste, mitzuerleben, wie sich unsere Ökosysteme weiterentwickelt haben. Wir konnten sehr viel in strategische Beteiligungen investieren und es ist toll zu sehen, wie wir damit unsere Kundenschnittstellen erweitern und gleichzeitig sichern. Aus Sicht der IT-Organisation war das grösste Highlight, dass wir mit Unterstützung des Verwaltungsrates nun unsere Public-Cloud-Strategie umsetzen können. Dazu gehört der Entscheid, komplett in die Public Cloud zu migrieren. Dieser Schritt ist zentral für unsere künftige Wettbewerbsfähigkeit.
In welche Cloud wechseln Sie denn?
Wir gehen in die Microsoft Azure Cloud. Wir haben uns bewusst für eine Single-Cloud-Strategie entschieden. Gleichzeitig beschäftigen wir uns mit einer Cloud-Exit-Strategie und bereiten uns schon jetzt darauf vor, dass wir – sollte dies eines Tages notwendig werden – innert nützlicher Frist einen Providerwechsel vollziehen könnten.
Was hat sich seit Ihrem Amtsantritt ausser der Cloud-Migration sonst noch getan?
Der zweite grosse Wandel war die Agilisierung: Schon vor meinem Antritt stellten wir unsere Organisation auf das Scaled Agile Framework (SAFe) um. In den letzten Jahren legten wir hier noch einmal einen Zacken zu. Wir organisieren nicht nur die IT-Abteilung agil. Wir haben sogenannte Kunden-Arenen gegründet, in denen wir agile, interdisziplinäre Business- und IT-Teams aufstellen mit dem Ziel, Kundinnen und Kunden aus deren Perspektive mit den Produkten und Dienstleistungen bedienen zu können.
Was hätten Sie bei dieser Umstellung rückblickend anders gemacht?
Inhaltlich hätte ich nichts anders gemacht – aber ich wäre es langsamer angegangen. Die Bildung der interdisziplinären Teams und das Verändern der Strukturen ist ein grosser Kulturwandel. Wir waren sehr schnell unterwegs und stellen fest, dass es unerlässlich ist, dass wir in die Begleitung der Betroffenen investieren.
Sie haben die veränderten Strukturen erwähnt. Was heisst das konkret?
Als ich bei der Mobiliar eingestiegen bin, beeinflussten wir als Geschäftsleitung das operative Geschäft noch sehr stark. Seit der zunehmenden Agilisierung der Organisation konzentrieren wir uns bei der Weiterentwicklung vermehrt auf strategische Inhalte. Wir sagen vor allem, was wir tun wollen. Wie es getan wird, überlassen wir im Wesentlichen der agilen Organisation. Durch diese Verschiebung gibt es bei uns in der IT auch weniger Kaderstufen. Damit schaffen wir kürzere Informations- und Entscheidungswege.
Könnten Sie sich vorstellen, künftig ganz auf Hierarchien zu verzichten und Holacracy einzuführen?
Ich persönlich habe grosse Sympathien für solche Modelle. Wenn man seine Mitarbeitenden wirklich befähigen will, selbst Verantwortung zu übernehmen und sich als Teil des Unternehmens zu verstehen, ist Holacracy das Richtige. Ich glaube aber auch, dass sich solche Modelle vor allem für KMUs eignen und ab einer gewissen Unternehmensgrösse praktisch nicht mehr funktionieren. Bei der Mobiliar haben wir 6000 Mitarbeitende und mir fehlt die Fantasie, mir vorzustellen, wie man so viele Mitarbeitende komplett holakratisch organisieren könnte.
In Ihrem ersten Jahr haben Sie in der IT eine Frauenquote eingeführt. Wie läuft es damit?
Für meinen Geschäftsbereich gilt: Jede dritte Anstellung muss eine Frau sein. Bis jetzt haben wir dieses Ziel jeweils übertroffen. Im ersten Jahr konnten wir etwa 40 Prozent Frauen einstellen. Dazu ergriffen wir verschiedene flankierende Massnahmen. Wir schreiben beispielsweise unsere Stellen standardmässig mit einem Pensum zwischen 40 und 100 Prozent aus. Früher waren es meistens 80- bis 100-Prozent-Pensen. Damit verhinderten wir jedoch jene Kandidatinnen und Kandidaten, die Teilzeit arbeiten wollten. Wir passten auch unsere Stelleninserate an, um die weibliche Zielgruppe besser anzusprechen.
Wie fördern Sie Frauen in der IT sonst noch?
Wir sind Hauptsponsor von ICT Scouts & Campus, weil das eine gute Gelegenheit ist, junge Mädchen schon früh für Informatik zu begeistern. Weiter führen wir auch regelmässig Schnupperabende für junge Mädchen kurz vor dem Berufseinstieg durch, und wir haben ein Mentoringprogramm speziell für Frauen in der IT.
Im vergangenen Jahr zeichnete ICT-Berufsbildung die Mobiliar als einen der besten IT-Lehrbetriebe aus. Was macht die Mobiliar so besonders?
Lange Zeit verfolgten wir die Strategie, primär Hochschulabgänger und -abgängerinnen oder bereits berufserfahrene Leute zu rekrutieren. Heute versuchen wir, über die ganze Ausbildungspyramide hinweg alles abzudecken – von Lernenden bis zu ETH-Doktoranden. Im Verlauf der letzten drei Jahre haben wir die Anzahl IT-Lehrstellen verdreifacht und die Betreuung unserer Lernenden professionalisiert. Zwei Personen kümmern sich vollzeitlich nur um IT-Lernende. Dazu kommen rund 20 Praxisausbildnerinnen und -ausbildner, die die Lernenden "on the Job" betreuen. Mit diesem Engagement wollen wir unsere Verantwortung gegenüber der Gesellschaft wahrnehmen: Bis 2028 fehlen in der Schweiz gemäss aktuellen Studien rund 150 000 IT-Fachkräfte. Ein Unternehmen wie die Mobiliar hat eine gesellschaftliche Verpflichtung, hier einen Beitrag zu leisten.
Ebenfalls letztes Jahr erhielt die Mobiliar einen Digital Economy Award für Digital Excellence. An der Preisverleihung war zu erfahren, dass Ihr Unternehmen in den letzten drei Jahren mehrere hundert Millionen Franken in Digitalisierungsprojekte investierte. Welches Projekt war das teuerste und warum?
Konkret investieren wir seit 2018 jährlich 175 Millionen Franken in die Modernisierung. Aktuell sind wir dabei, die Kernsysteme unserer Nichtleben-Versicherungen (also Sach- und Haftpflichtversicherungen) zu erneuern. Anstatt diese Systeme einzukaufen, bauen wir ein eigenes Kernsystem. Dabei wollen wir nicht nur ein schönes Front-End, sondern bis in die hinteren Back-Ends eine Lösung entwickeln, die es erlaubt, die ganze Wertschöpfungskette über alle Kanäle bei Bedarf vollständig zu digitalisieren.
Wie weit sind Sie mit diesem Projekt?
Letztes Jahr erreichten wir den ersten grossen Meilenstein, indem wir eine erste Produktlinie live schalteten. Damit haben wir auch im Sinne eines grösseren Proof of Concepts bewiesen, dass unser Ansatz funktioniert.
Die Mobiliar hat IT-Teams in Vietnam und Indien stationiert. Was tun diese Leute?
Sie sind als Softwareentwickler tätig und sind gewissermassen die Erweiterung unserer eigenen agilen Entwicklungs-Teams. Sie sind voll in unsere Wertschöpfung integriert. Die Offshore-Partnerschaft mit dem Anbieter in Vietnam haben wir seit fast fünf Jahren und mit unserem neuen indischen Partner arbeiten wir seit über einem Jahr zusammen. Zudem haben wir auch noch kleinere Nearshore-Aktivitäten im europäischen Ausland.
Warum betreiben Sie überhaupt Outsourcing?
Unser Ziel ist es, uns gegen den bereits bestehenden und weiter zunehmenden Fachkräftemangel in der Schweiz abzusichern. Wir wissen nicht, ob wir bei unserem aktuellen Wachstum in den nächsten Jahren die benötigten Kapazitäten in der Schweiz finden werden. Dank unserer Partner haben wir die Möglichkeit, unsere Population an Informatikerinnen und Informatikern breiter zu streuen. Im Zuge der Offshoring-Aktivitäten kommt es auch nicht zu einem internen Stellenabbau – im Gegenteil: Wir stellten zusätzliche Mitarbeitenden ein, weil das Offshoring zusätzliche Fähigkeiten erfordert.
Die Mobiliar bietet schon seit einiger Zeit eine Cyberversicherung an, die jedoch keine Deckung für Lösegeldzahlungen enthält. Wäre eine Deckung für Lösegeldforderungen nicht das beste Verkaufsargument für eine Cyberversicherung?
Wir – aber auch das Nationale Zentrum für Cybersicherheit – raten grundsätzlich von Lösegeldzahlungen ab, weil wir keine Anreize für kriminelle Machenschaften schaffen wollen.
In letzter Zeit haben Ransomware-Angriffe deutlich zugenommen. Halten Sie auch angesichts dieser Veränderung an der Maxime des Nicht-Zahlens fest?
Wir investieren lieber in die Prävention, damit es gar nicht erst zu einem Angriff kommt. Entscheidend ist etwa ein gut funktionierendes, vom Netzwerk getrenntes Backup. Im Cybergeschäft setzen wir darum insbesondere auch auf Sensibilisierungstrainings für Mitarbeitende oder einen selbstständigen Überwachungsdienst, der bei Schwachstellen das Unternehmen informiert.
Die Mobiliar beteiligt sich an diversen Start-ups wie Bexio oder Flatfox. Warum?
Kundinnen und Kunden mögen es einfach. Am liebsten erhalten sie eine Dienstleistung komplett aus einer Hand, anstatt Angebote auf verschiedenen Plattformen zusammensuchen zu müssen. Darum wollen wir ihnen künftig mehr bieten als reine Versicherungslösungen. Mit unseren beiden Ökosystemen rund ums Thema Wohnen und KMUs bauen wir für sie einen ganzheitlichen Service auf und erweitern so unsere Angebotswelt. Mit dem Immobilienportal Flatfox bieten wir intelligente Tools für den digitalen Vermietungsprozess an. Bexio wiederum bietet Schweizer Kleinunternehmen, Selbstständigen und Start-ups cloudbasierte Business-Software. Das Unternehmen verringert die administrative Last für KMUs, damit sie sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können.
Besteht bei all diesen Beteiligungen nicht die Gefahr, sich zu verzetteln?
Nein, wir verfolgen mit den beiden Ökosystemen eine klare Strategie und ergänzen die Ökosysteme gezielt mit neuen Beteiligungen und Partnerschaften.
Wo sehen Sie die IT der Mobiliar in weiteren drei Jahren?
Unser grösstes Thema bleibt die Erneuerung der Kernsysteme. Als nächster Schritt wollen wir das KMU-Geschäft komplett auf die neue Technologie überführen. Und ich bin überzeugt, dass wir den ersten Teil unserer Lösungen komplett in der Public Cloud betreiben werden. Starke Entwicklungen erwarte ich im Bereich der Datennutzung: Der Umgang mit Daten wird einen Teil des Erfolgs eines guten Versicherers ausmachen. Daten helfen uns, gezielter auf Kundenbedürfnisse eingehen zu können. Wir können jetzt schon gewisse Schäden automatisch klassifizieren und dadurch rascher bearbeiten. Ich rechne damit, dass es hier noch einmal einen zusätzlichen Push geben wird.