Was Versicherungen von Banken in puncto Digitalisierung lernen können
Seit August 2023 ist Renato Premezzi CIO der Mobiliar. Zu seiner Arbeit gehören die Modernisierung der IT-Infrastruktur, das Vorantreiben der Digitalisierung, die Cloud-Transformation und die Einführung von KI-Tools. Wie es ihm dabei ergeht, verrät er im Interview.
Sie sind nun seit über einem Jahr CIO der Mobiliar. Was waren Ihre Highlights in dieser Zeit?
Renato Premezzi: Ein besonderer Höhepunkt war, dass ich direkt in die Weiterentwicklung unserer Unternehmensstrategie eingebunden war. Ein zentraler Bestandteil dieser Strategie ist die umfassende Modernisierung unserer IT-Landschaft. Wir treiben dabei nicht nur die Digitalisierung voran, sondern lösen auch nach und nach unsere Legacy-Systeme ab. Das bringt zahlreiche Herausforderungen mit sich, bietet aber auch gleichzeitig enorme Chancen. Daneben hat sich die Mobiliar als Unternehmen von Beginn an als sehr positives Umfeld gezeigt, in dem ich mich sehr wohlfühle.
Wie packen Sie und die Mobiliar diese IT-Modernisierung an?
Für uns bedeutet Modernisierung, dass wir auf eine zukunftsfähige und agile IT-Infrastruktur setzen. Diese Veränderungen betreffen nicht nur die Technologie, sondern auch unsere internen Prozesse und letztlich das Kundenerlebnis. Wir wollen eine nahtlose Integration digitaler und physischer Interaktionen schaffen, sodass unsere Kundinnen und Kunden frei entscheiden können, wann und wie sie mit uns in Kontakt treten. Dazu haben wir unser strategisches Projektportfolio so angepasst, dass wir den Fokus stärker auf die Modernisierungsinitiative legen und die Ressourcen entsprechend priorisieren. Ziel ist es, schneller auf unsere neue, cloudbasierte, flexible Zielplattform zu migrieren und dabei gleichzeitig Effizienz und Flexibilität zu gewinnen.
Wie spielt Cybersicherheit in diese strategische Ausrichtung hinein?
Cybersicherheit ist ein absolutes Top-Thema für mich – wie für jeden CIO. Die Bedrohungslage wird durch den technologischen Fortschritt immer komplexer. Es gibt immer raffiniertere Angriffe, die zunehmend auch auf KI basieren. Der nächste grosse Schritt wird durch Quantencomputing kommen, das unsere heutigen Verschlüsselungsmethoden bedroht. Deswegen bereiten wir uns schon jetzt darauf vor, quantensichere Schlüssel einzuführen. Es ist unerlässlich, dass wir immer auf dem neuesten Stand bleiben, um unsere Systeme und die Daten unserer Kunden und Partner zu schützen.
Die Mobiliar trennte sich unlängst von der Wohneigentumsplattform Liiva und passte weitere Beteiligungen an. Was steckt hinter dieser Entscheidung?
Im Zuge der Weiterentwicklung unserer Strategie haben wir unsere Beteiligungen überprüft, um uns auf unser Kerngeschäft – Versicherung und Vorsorge – zu fokussieren. Dabei haben wir uns von Plattformen getrennt, die nicht direkt zu diesem Kern beigetragen haben. Die Wohneigentumsplattform Liiva stellten wir ein, weil das Geschäftsmodell unsere Erwartungen an die Rentabilität nicht erfüllte. Flatfox integrierten wir in eine andere Beteiligung, die Swiss Marketplace Group. Gleichzeitig haben wir weiterhin Tochtergesellschaften wie die Business-Software Bexio, die Unternehmensgründungsplattform Foundera oder die Handwerkerplattform Buildigo. Diese sind für uns äusserst wertvoll, da sie unser Kerngeschäft stärken oder uns neue Vertriebswege eröffnen.
Welche IT-Projekte stehen bei der Mobiliar aktuell im Fokus?
Abgesehen von der erwähnten grossen Modernisierungsinitiative im Bereich Nicht-Leben, wo wir Schritt für Schritt auf eine neue digitale Plattform umstellen, sind wir im Bereich Vorsorge daran, die Vertriebsprozesse zu verbessern und zu digitalisieren. Das Ziel ist, sämtliche modernisierten Prozesse in die Cloud zu migrieren. Dabei nutzen wir die Microsoft-Cloud als Basis für viele unserer Transformationsprozesse. Ein weiterer Schwerpunkt in der Cloud-Transformation ist der Einsatz von KI, um Daten effizienter zu nutzen und neue Wertschöpfungsmöglichkeiten zu erschliessen. Diese Projekte sind zentral für unsere zukünftige Ausrichtung.
Apropos KI: Vor etwa einem Jahr führten Sie Mobi-ChatGPT ein, eine KI-Lösung für Ihre Mitarbeitenden. Wie wird diese intern genutzt?
Mobi-ChatGPT ist mittlerweile fest in unseren Arbeitsalltag integriert. Wir haben täglich rund 600 Nutzerinnen und Nutzer; etwa ein Drittel unserer gesamten Belegschaft nutzt es regelmässig. Besonders hilfreich ist die Funktion "Ask my document", bei der Mitarbeitende Dokumente hochladen und den Chatbot gezielt dazu abfragen können. Zudem testen wir gerade eine Erweiterung namens "Ask my audio", mit der Audiodateien und Videos analysiert und zusammengefasst werden können. Diese Funktionen helfen uns nicht nur, die Produktivität zu steigern, sondern auch unsere internen Prozesse zu verbessern.
Gibt es noch andere KI-Tools, welche die Mobiliar nutzt?
Ja, unser Contact Center Mobi24 und unsere Tochtergesellschaft Protekta setzen KI in der E-Mail-Triage ein, um eingehende Nachrichten automatisiert zu kategorisieren und an die richtigen Abteilungen oder direkt an eine zuständige Generalagentur weiterzuleiten.
Können auch Mobiliar-Kunden Ihre KI-Services nutzen?
Im Moment konzentrieren wir uns primär auf den internen Einsatz, um zunächst sicherzustellen, dass die Qualität, die Sicherheit und die rechtlichen Anforderungen erfüllt sind. Wir wollen die KI-Systeme erst dann für Kunden zugänglich machen, wenn sie vollständig ausgereift sind. Unser Hauptziel ist es, die Produktivität unserer Mitarbeitenden zu steigern und gleichzeitig sicherzustellen, dass alle regulatorischen Anforderungen eingehalten werden.
Wie hat KI die Arbeitsweise Ihrer IT-Abteilung verändert?
Wir haben bereits deutliche Fortschritte erzielt. So nutzen wir beispielsweise KI in der Softwareentwicklung zur automatisierten Code-Generierung, zur Analyse bestehender Codes und zur Erstellung von Testfällen. Rund 500 unserer Entwicklerinnen und Entwickler haben sich in diesem Bereich weitergebildet und nutzen KI aktiv bei ihrer täglichen Arbeit. Die Effizienzsteigerungen, die wir dadurch verzeichnen, sind bereits spürbar. Zudem setzen wir KI in der Cybersicherheit ein.
Wie genau?
KI ist in der Lage, riesige Datenmengen in Echtzeit zu analysieren und Anomalien zu erkennen, die auf potenzielle Cyberangriffe hinweisen könnten. Dadurch können wir Bedrohungen schneller identifizieren und darauf reagieren.
Ist KI auch in der Schadenbearbeitung im Einsatz?
Ja. Bei der Schadenmeldung auf unserer Website und in der App haben Kundinnen und Kunden die Möglichkeit, den Fall in einem Textfeld zu beschreiben. So wie in der Werbung "Liebe Mobiliar ...". Die KI kann die Informationen aus dem Schadentext extrahieren und hilft damit, den Prozess zu automatisieren.
Und wie häufig kommt es vor, dass betrügerische Schadenmeldungen mit KI-generierten Bildern bei Ihnen eintreffen?
Wir stellen generell fest, dass Betrüger vermehrt KI nutzen. So generieren sie etwa seriös wirkende Phishing-Mails mit dieser Technologie. Es ist an uns, solche Trends zu antizipieren und uns darauf vorzubereiten. KI bietet Chancen und Risiken und wir müssen auf beides vorbereitet sein.
Gibt es Bereiche, aus denen die Mobiliar KI bewusst heraushält?
Im Moment machen wir noch keine Einschränkungen. Wir probieren die Technologie intern aus und identifizieren spannende Use Cases. Dabei gilt jedoch, dass der Mensch die Entscheidungsgewalt und Verantwortung behält. Aufbauend auf unseren Erfahrungen erarbeiten wir aktuell eine klare Governance. Zudem wollen wir KI stärker in unsere Unternehmensstrategie einbinden.
Ist KI alles in allem für die Mobiliar wirklich eine Entlastung? Oder eher ein Mehraufwand?
Beides. Es gibt spannende KI-Anwendungen, die wir uns zunutze machen. Wir müssen uns aber auch vor neuen KI-Gefahren schützen. Wir versuchen, uns auf skalierbare Anwendungsfälle zu fokussieren, die unsere Produktivität unterstützen. Und tatsächlich: Diese rechnen sich für uns bereits.
Beruflich waren Sie schon für verschiedene Banken und Versicherungen tätig. Wer hat Ihrer Meinung nach in puncto Digitalisierung die Nase vorn?
Das ist unterschiedlich. Bei der Kundenschnittstelle hat eine Bank eine viel höhere Frequenz als eine Versicherung. Fast täglich interagiert die Kundschaft mit der Bank, um den Kontostand zu prüfen oder Zahlungen zu tätigen. Banken mussten folglich digitale Kanäle früher einführen. Darum ist die Bankenwelt an dieser Schnittstelle sicherlich weiter als die Versicherungswelt. Letztere holt aber rasant auf und mischt mit bestimmten Unternehmen schon an vorderster Front mit.
Und wo sehen Sie Versicherungen im Lead?
Eine Stärke von Versicherungen und insbesondere der Mobiliar sind digitale End-to-End-Prozesse. Schon unsere Legacy-Systeme hatten einen sehr hohen Automatisierungsgrad. Demgegenüber digitalisierten andere Unternehmen anfangs zwar die Kundenschnittstelle. Dahinter liefen die Prozesse jedoch manuell weiter, was das Kundenerlebnis verschlechterte. Eine weitere Stärke der Mobiliar ist, dass sie Digitalprojekte bis zum Ende durchzieht, wie etwa die Erneuerung unserer Legacy-Systeme. Von dieser Entschlossenheit, nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben, könnten sich andere Unternehmen vielleicht ein Stück abschneiden.
Versicherungen sind in der Schweiz stark reguliert. Ist das für die Digitalisierung hemmend oder förderlich?
Es ist wichtig, den gesetzlichen Rahmen auch in der digitalen Welt abzubilden. Schon jetzt gibt es beispielsweise im Vorsorgebereich hohe gesetzliche Anforderungen, die wir bei der Digitalisierung berücksichtigen müssen. In Zukunft werden neue KI-spezifische Regelungen dazukommen. Die damit verbundene Komplexität zu managen, ist Teil unseres Geschäftsbereichs, und es liegt an uns, darin kundenfreundliche und effiziente Dienste anzubieten. Dass Regulierungen auch förderlich sind, zeigt sich etwa an diversen Cybersicherheitsstandards, die nicht nur uns, sondern der ganzen Gesellschaft zugutekommen.
Zur Person
Renato Premezzi ist seit Mitte August 2023 Mitglied der Geschäftsleitung der Mobiliar. Als Chief Information Officer (CIO) leitet er eine Abteilung von 650 Mitarbeitenden (das sind rund 10 Prozent der insgesamt 6400 Mitarbeitenden der Mobiliar). Vor seinem Wechsel zur Mobiliar war Premezzi bei der Credit Suisse, wo er zuletzt interimistisch als CTIO Swiss Bank amtete. Insgesamt arbeitete er über 16 Jahre bei der Grossbank. Davor war er sieben Jahre lang beim Rückversicherer Swiss Re tätig gewesen. Der 56-jährige Premezzi hat einen Bachelor-Abschluss in Wirtschaftsinformatik sowie vertiefende Zertifikate der IMD Business School for Management and Leadership und des Hamburger Instituts IOS.