So kann "Citizen Development" funktionieren
Die Transitionsphase hin zur digitalen Verwaltung zeichnet sich durch einen bunten Blumenstrauss wünschenswerter digitaler Dienstleistungen aus. Wie diese Herausforderungen effizient und kostengünstig gemeistert werden können, zeigt ein Use Case aus dem Kanton Aargau.
Obschon die digitalen Instrumente der Informations- und Kommunikationstechnologien seit mehreren Jahrzehnten aus dem Arbeitsalltag in der öffentlichen Verwaltung nicht mehr wegzudenken sind, stellt die Geschwindigkeit der neuen Möglichkeiten den öffentlichen Sektor vor grosse Herausforderungen. Wie kann die zentrale Informatik das geforderte Tempo bei gleichbleibend hoher Qualität stemmen? Ein Ansatz der Informatik Aargau (IT AG) des Kantons Aargau adressiert die Thematik unter dem Begriff "Citizen Development". Auf Basis einer modernen Low-Code-Plattform wird es den Kunden ermöglicht, E-Government-Anwendungen inklusive automatisiertem Geschäftsprozessmanagement in kürzester Zeit selbst per Mausklick zu erstellen – ganz ohne Programmierkenntnisse.
Microservice- und Microfrontend-Architekturen als erster Befreiungsschlag
Im Zuge der Einführung des Technologiemanagements hat die Informatik Aargau fundamentale Änderungen im Bereich der kantonalen E-Government-Infrastruktur angestossen. Anstelle von monolithischen und proprietären Systemen wird das Paradigma der Microservice-Architekturen verfolgt. Mittels eines API-first-Ansatzes stellen Querschnittsfunktionen, wie etwa das Identitäts- und Zugriffsmanagement oder die Vorgangskontrolle, ihre Funktionalitäten und Inhalte per REST API zur Verfügung. Diese Microservices können sowohl standardisierte als auch individuelle Lösungen sein. Damit stellt der Kanton Aargau ein Ökosystem für Anwendungen im Webbereich für seine Portale und für die gesamte IT-Landschaft zur Verfügung. Dies unterstützt die Entwicklung von E-Services, Apps und Systemintegrationen mit einer Fülle von wiederverwendbaren und standardisierten Komponenten. Dabei wird einerseits auf den Einsatz der neuesten Technologien im Webbereich geachtet, andererseits aber auch auf konfigurative Werkzeuge im Selfservice-Ansatz für stark nachgefragte Bereiche wie Formulare oder Schnittstellen. Mit dem Architekturkonzept der Microfrontends, das auf dem Frontend-Framework "React" basiert, können komplett unabhängige Anwendungen im kantonalen Content Management System (CMS) nahtlos integriert werden. Der Kanton Aargau setzt dabei auch im CMS auf API-first, das System ist "Headless" und die Inhalte im Portal werden per API bezogen. Das kantonale Open-Government-Data-Portal war der erste Auftritt dieses Konzepts. Im Anschluss wurde die Beantragung des Covid-Zertifikats und das Smart-Service-Portal veröffentlicht.
Dezentrale Entwicklung mit Citizen Development
Die neuen Architekturkonzepte haben zu modernen Technologien und Lösungsansätzen geführt, die viele neue Möglichkeiten eröffnet haben. In einem ersten Schritt ging es darum, die Herausforderungen zu verstehen und mögliche Lösungskonzepte mit geeigneten Technologien zu eruieren. Die Beschleunigung der Time-to-Market für neue digitale Dienstleistungen kann damit jedoch nicht gemeistert werden. Hier lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Während in der Anfangszeit des Internets noch Webseitenpflege manuell und vor allem ausschliesslich mit IT-Kenntnissen umgesetzt werden konnte, wurde es mit dem Aufkommen der CMS für Autorinnen und Autoren möglich, Webseiteninhalte ohne spezifische Programmierkenntnisse zu pflegen. Dies wird im Kanton Aargau intensiv dezentral in der Organisation angewendet. Dasselbe Konzept möchte der Kanton auch für die Entwicklung von E-Services umsetzen.
Dabei steht der Selfservice-Ansatz im Vordergrund: Es soll möglich sein, neue digitale Dienstleistungen ohne Projektrahmen zu veröffentlichen. Damit soll ein wesentlicher Beitrag für die Erhöhung der Time-to-Market digitaler Dienstleistungen im Kanton Aargau geleistet werden. Mit der Dezentralisierung der Entwicklung – und obsoleter Projektabwicklungen – soll auch die Kostenreduktion spürbar werden. Mit der Zeit können so zahlreiche E-Services umgesetzt werden, ohne dass der Aufwand die Kapazitäten der internen IT übersteigt. Mit neuen Erkenntnissen soll zudem, ganz im Sinne der digitalen Transformation des öffentlichen Sektors, ein Beitrag für die Optimierung interner Prozesse geleistet und anderen Kantonen neue Möglichkeiten aufgezeigt werden.
Heutige Low-Code-Plattformen haben zwischenzeitlich einen hohen Maturitätsstand erreicht und adressieren vier Bausteine. Der konkrete Plattform-Entscheid ist abhängig vom Einsatzzweck: Ist dieser mehr applikationsgetrieben, bieten sich Produkte mit Selfservice-App und Mobile-Funktionalität an. Steht der Geschäftsprozess im Vordergrund, eignen sich eher Produkte im Sinne eines Selfservice-Portals mit Prozess-Enforcement. Für den Kanton Aargau wurden die grafische Benutzeroberfläche in den Handlungsfeldern Formulardesigner, Workflow-Engine und Aufgabenverwaltung für eingehende Anträge als zentral identifiziert.
Eine nahtlose Integration in die bestehende Portalinfrastruktur mit React-Frontends, lauffähigen Backends inklusive Business Process Management und Dokumentation sind dabei wichtige Kriterien. Für den konkreten Entscheid der Low-Code-Plattform für das Citizen Development im Kanton Aargau war deshalb zentral, auf die Erfahrung eines produktunabhängigen Dienstleisters zurückzugreifen. Zusammen mit einem Team von Adesso wurde der Entscheid in Co-Kreation in drei Schritten erarbeitet.
Ausblick
Für den erfolgreichen Durchbruch braucht es jedoch mehr als "bloss" Technologie. Hoogsten & Borgmann kommen in ihrer Arbeit "Empower the Workforce, Empower the Company? Citizen Development Adoption" 2022 zum Schluss, dass für eine erfolgreiche Adaption von Citizen Development der technologische, organisatorische und inter-organisatorische Kontext festgelegt werden muss. Für den Kanton Aargau heisst dies, dass das Citizen Development in die föderalen Strukturen eingebettet und verankert werden muss.
Eine interkantonale Zusammenarbeit durch Bereitstellung von Erfahrung, Best Practices bis hin zum gegenseitigen Austausch von konkreten E-Services unter "Gleichgesinnten" verspricht einen grossen Mehrwert: hohe Geschwindigkeit bei gleichzeitig niedrigeren Kosten und entsprechend gute Akzeptanz sowohl verwaltungsintern als auch im Verkehr mit Bürgern und Organisationen.