Kein Handy, kein Billett? So planen die SBB die Ticket-Zukunft
Das neue "Halbtaxplus"-Abo ist nur der Anfang: Die Verkehrsunternehmen treiben den digitalen Umbau voran. Sie wollen dafür ein eigenes Ortungssystem entwickeln, wie jetzt bekannt wird.
Der öffentliche Verkehr buhlt um neue Kundschaft. Ab dem 12. Dezember locken SBB & Co. mit einem bonusgetriebenen Abo namens "Halbtaxplus". Es soll jene Nutzerinnen und Nutzer zurück in die Züge holen, die während der Coronakrise ausgestiegen sind. Dabei setzen die ÖV-Unternehmen ganz auf das Mobiltelefon: Wer vom Angebot profitieren will, muss seine Tickets digital lösen, idealerweise per "Easyride"-Funktion der SBB.
Das Vorgehen passt zur Strategie der Alliance Swisspass. Sie plant, ab 2035 praktisch nur noch digitale Billette zu verkaufen. Die Branchenorganisation erwägt mit "myride" gar einen fundamentalen Umbau des Ticketsystems: Die Reisen der Passagiere sollen dereinst per Handy automatisch verfolgt und abgerechnet werden.
Nächsten Frühling geht ein Prototyp an den Start. In sogenannten Feldtests will die Branche herausfinden, wie die Kundschaft auf die Digitalisierungsoffensive reagiert. "Erste Elemente des E-Tarifs werden frühestens zwei Jahre nach einer erfolgreichen Testphase am Markt angeboten", heisst es in einer Mitteilung. Es sind kleine Schritte hin zur Tarifrevolution.
Branche will mehr Einfluss nehmen
Doch hinter den Kulissen plant Alliance Swisspass bereits weiter in die Zukunft. Auf der Beschaffungsplattform Simap hat sie kürzlich eine Ausschreibung platziert. Das Ziel: ausloten, was bei der digitalen Reiseabwicklung technologisch alles möglich ist. Dazu möchte sich die Alliance Swiss Pass mit dem Angebot an "smartphonebasierten Ortungssystemen" vertieft befassen.
Denn noch sind viele Fragen offen. Wie müsste die Infrastruktur für das flächendeckende E-Ticketing ausgebaut werden? Welche Rolle spielen sogenannte Beacons, also Bluetooth-Sender in den Zügen? Wie kann die automatische Reiseerfassung Anonymität garantieren? Die Anbieter können nun ihre Lösungen präsentieren.
Für den längerfristigen digitalen Umbau wollen die Verkehrsunternehmen aber kein bestehendes System einkaufen, wie aus der Ausschreibung hervorgeht. Vielmehr sucht sie einen "Entwicklungspartner für eine potenzielle künftige brancheneigene Lösung". Eine solche sei nötig, weil sich die automatische Reiseerfassung inzwischen etabliert habe und voraussichtlich in der Zukunft der bedeutendste Vertriebskanal sein werde.
Bei diesem auf Schweizer Verhältnisse zugeschnittenen System wollen SBB und Co. dann mehr mitreden. Man möchte "mehr Einfluss auf die strategische Steuerung und Weiterentwicklung der automatischen Reiseerfassung erlangen", heisst es im Papier. Bisher setzen verschiedene Verkehrsverbünde sowie die SBB auf die Technologie des Berner Unternehmens Fairtiq.
Lokalisierung wird genauer
Wohin die Reise genau geht, darüber halten sich die Verantwortlichen noch bedeckt. Im Gespräch mit Branchenkennern wird allerdings klar: Die Qualität der Standortdaten wird sich in den nächsten Jahren stark verbessern. Noch bis Ende Jahr werden die SBB in allen Wagen Bluetooth-Sender installiert haben.
Diese datenschutztechnisch unproblematischen Sender sind nicht nur für das Gratis-Internet im Zug und für seheingeschränkte Personen wichtig. Zusammen mit Standortdaten und Fahrplanvergleichen wird es gar möglich sein, zu erkennen, ob jemand im Zug sitzt oder bereits ausgestiegen ist. Das ist dann die Grundlage für ein sogenanntes "Be-in, Be-out"-Modell. Dabei müssten Passagiere ihre Reise nicht einmal mehr in der App starten – das Handy erkennt automatisch, wo Reisende ein- und aussteigen. Für jene, die weiterhin die Kontrolle in der Hand behalten wollen, könnte diese Funktion optional angeboten werden.
Und was ist mit Personen, die kein Mobiltelefon besitzen oder ihr Billett in bar bezahlen möchten? Hier denkt die Branche darüber nach, eine Zwischenlösung zu etablieren. Als Vorbild dient der Kanton Graubünden: Dort können Passagiere im Bus oder am Perron mit ihrer Debit- oder Kreditkarte ein Billett lösen. Geplant ist, dass bald durch Ein- und Ausstempeln per Karte direkt im Hintergrund abgerechnet wird.
Und für jene, die keine Bankkarte verwenden möchten, bieten die Bündner Verkehrsbetriebe Prepaid-Kartonkarten für 10 oder 20 Franken an. Was nach einem ungeplanten Zwischenhalt tönt, könnte sich tatsächlich finanziell lohnen: Der grösste Kostenblock beim Billettverkauf am klassischen Automaten ist nämlich der Unterhalt der Bargeldinfrastruktur.
Einen ähnlichen Weg geht derzeit Dänemark, wo das Unternehmen Fairtiq kürzlich einen Grossauftrag ergattern konnte: Dort setzt die Bahn ebenfalls aufs Mobiltelefon, um längerfristig vom bisherigen System mit Plastikkarten und Schranken wegzukommen. Bis es so weit ist, können bargeldaffine Kunden vermutlich weiterhin ihre Kundenkarte am Kiosk mit Guthaben aufladen und an den Schranken ein- und auschecken.
Kampf gegen Betrüger bleibt nötig
Während sich dank genauerer Ortung der Tarifdschungel bald lichten könnte, wird ein altbekanntes Problem weiter bestehen: das "Reisen ohne gültigen Fahrausweis", wie es im Branchenjargon heisst. Denn Betrügereien bleiben auch in der neuen digitalen Billettwelt möglich, etwa durch Manipulation der Ortungsdaten, falsche Personenangaben oder dem bewussten Abschalten des Handys.
Allerdings könnte nun die künstliche Intelligenz aus den grossen Datenmengen auffällige Muster erkennen und Tricksern auf die Schliche kommen. Entwickler wie der Anbieter Fairtiq gehen deshalb davon aus, dass die Verkehrsbetriebe künftig weniger Ertragsausfälle zu verkraften haben.
Ist angesichts der Vorteile für die Verkehrsunternehmen die Digitalisierungsoffensive im öffentlichen Verkehr vorgespurt? Nicht unbedingt. Das letzte Wort sollen die Konsumentinnen und Konsumenten haben, heisst es bei Alliance Swisspass. Die Branchenorganisation betont, jeder Schritt erfolge "ergebnisoffen und ohne Vorentscheide".
Dieser Artikel ist zuerst bei "Watson" erschienen.