E-Voting: Neustart mit Altlasten
Seit mehr als 20 Jahren arbeiten Bund und Kantone an der Einführung der elektronischen Stimmabgabe. Doch der Weg zum E-Voting ist geprägt von überraschenden Rückschlägen. Nun soll ein Neustart dem Projekt neues Leben einhauchen. Ob aber sicheres, flächendeckendes E-Voting in der Schweiz je möglich ist, darüber sind sich Experten uneinig.
Seit Frühjahr 2019 stimmt in der Schweiz niemand mehr elektronisch ab. Nachdem Sicherheitsexperten im Quellcode des E-Voting-Systems der Schweizerischen Post (der damals einzigen noch aktiven Lösungsanbieterin) kritische Schwachstellen entdeckt hatten, wurde der Versuchsbetrieb eingestellt. Wenig später verordnete der Bundesrat gar einen Marschhalt und entschied, E-Voting nicht als regulären Stimmkanal gesetzlich zu verankern.
Doch das definitive Aus für E-Voting in der Schweiz soll dies nicht sein – im Gegenteil: "Den Stimmberechtigten soll die barrierefreie, mobile und nachvollziehbare Stimmabgabe ermöglicht werden", schreibt die Bundeskanzlei auf einer Informationsseite zum "Vote électronique". Die Behörde arbeitet im Auftrag des Bundesrats an einer Neuausrichtung des Versuchsbetriebs, und damit am nächsten Kapitel einer Geschichte, die vor mehr als 20 Jahren begann.
Genf, Neuenburg und Zürich waren die Ersten
Dass er Chancen in neuen Technologien für die Demokratie sehe, schreibt der Bundesrat bereits im Januar 2002 in einem ersten "Bericht zum Vote électronique". Er geht davon aus, dass reguläre Abstimmungen per Internet in der Schweiz frühestens 2010 eingeführt werden könnten.
Bereits vor der Veröffentlichung des Berichts riefen mehrere Kantone und das Bundesamt für Statistik eine Arbeitsgruppe ins Leben, um erste Vorabklärungen durchzuführen. Die Kantone Genf, Neuenburg und Zürich arbeiteten derweil an Pilotprojekten mit verschiedenen Systemen, um E-Voting in der Praxis zu testen. Genf entwickelte eine eigene E-Voting-Lösung, während Zürich mit Unisys aus den USA zusammenarbeitete und Neuenburg auf den spanischen Anbieter Scytl setzte – Letzterer wird später von der Schweizerischen Post übernommen.
Im Jahr 2003 findet in einer kleinen Gemeinde in Genf erstmals ein E-Voting-Versuch statt, wie Joël Reber in seiner Masterarbeit "E-Voting in der Schweiz: Eine vergleichende Analyse der Entwicklungsstände und Haltungen in den Kantonen" ausführt. Ein Jahr später wagen vier Zürcher Gemeinden erste elektronische Abstimmungen, und 2005 ist es auch in Neuenburg so weit.
Knackpunkte: Gesetze und Sicherheit
Dass E-Voting nicht nur auf Gegenliebe stösst, bekommt der Kanton Genf zu spüren. 2006 weitet er die Tests auf 14 Gemeinden aus, muss sie dann aber aufgrund politischen Widerstands stoppen, wie Reber schreibt. Der Widerstand wird mit der fehlenden rechtlichen Grundlage für E-Voting begründet. Erst nach einer Gesetzesänderung, einem darauf folgenden Referendum und schliesslich einer Volksabstimmung nimmt der Kanton die Versuche 2009 wieder auf.
Hauptgrund für die Nichteinführung von E-Voting sind aber Sicherheitsbedenken. Dies zeigt zumindest eine Umfrage, die Reber im Rahmen seiner Masterarbeit unter den Kantonen durchführte. Dass diese Bedenken nicht aus der Luft gegriffen sind, wird etwa im Herbst 2015 deutlich, als die Bundesbehörden der von neun Kantonen genutzten Unisys-Lösung eine Abfuhr erteilen. Aufgrund einer "Lücke beim Schutz des Stimmgeheimnisses" wird das System nicht für die nationalen Parlamentswahlen 2015 zugelassen. Konsequenz: Die Weiterentwicklung wird gestoppt, und die Kantone schliessen sich künftig einer der beiden übrig gebliebenen Lösungen an.
Plötzlich sind alle Systeme tot
Noch sieht es gut aus für den digitalen Stimmkanal. "Bundesrat will E-Voting für die ganze Schweiz", titelt die "Netzwoche" im April 2017. Demnach plant die Landesregierung, das E-Voting offiziell der Urne und der brieflichen Stimmabgabe gleichzustellen. Doch dann geht es Schlag auf Schlag: Im November 2018 entscheidet der Kanton Genf, die Entwicklung seines E-Voting-Systems aus finanziellen Gründen einzustellen – die einzige verbleibende Anbieterin ist nun die Schweizerische Post, mit der von Scytl entwickelten Lösung.
Schliesslich stossen im März 2019 Sicherheitsspezialisten, allen voran die Kanadierin Sarah Lewis, im Rahmen eines öffentlichen Intrusionstests auf die Schwachstellen im Programmcode des Scytl-Post-Systems. Es ist der Todesstoss für das letzte verfügbare E-Voting-Angebot.
Kurze Sternstunde des Moratoriums
Infolge dieser Entwicklung zeigen sich Politiker zunehmend kritisch gegenüber dem Vorhaben E-Voting, und die Anfang 2019 gestartete Volksinitiative, die ein landesweites E-Voting-Moratorium fordert, erhält reichlich Zuspruch. Prominent entscheidet sich der Kanton Zürich im Sommer 2019, in den kommenden drei Jahren auf Tests zu verzichten.
Generell sei die Zustimmung für elektronisches Abstimmen in der Bevölkerung eingebrochen, schreiben die Initianten im Oktober unter Berufung auf eine Studie der Universität Zürich. Wenig später fordert der Nationalrat den Bundesrat auf, den Versuchsbetrieb von E-Voting einzustellen, bis die bestehenden Probleme nachweislich behoben seien.
Dennoch kommt die Volksinitiative nicht zustande. Das Initiativkomitee stoppt im Juni dieses Jahres die Unterschriftensammlung. "Sie wurde eingestellt, weil zuerst das Genfer System und jetzt noch das Postsystem gescheitert sind", schreibt Volker Birk vom Chaos Computer Club (CCC) Schweiz, der die Initiative unterstützt. Die Forderung nach einem Moratorium habe sich erübrigt, denn de facto sei gerade eines aktiv. Sein Kollege Hernâni Marques ergänzt: "Wir waren in einer ungünstigen Lage – hatten zu wenig Unterschriften, etwa nur die Hälfte der benötigten 100 000." Die Coronakrise habe ihr Übriges zur erfolglosen Unterschriftensammlung beigetragen.
Weichen werden gestellt
Die Haltung des CCC gegenüber E-Voting habe sich nicht geändert, schreibt Birk: "E-Voting wäre so schön, wenn es machbar wäre. Leider geht es nicht, ohne die Demokratie de facto aufzugeben." Marques ergänzt: "Als CCC-CH stehen wir bereit, bei der Inbetriebnahme neuer praktischer E-Voting-Systeme, die bei realen Abstimmungen zum Einsatz kommen, erneut aufzuzeigen, dass diese weder sicher noch vertrauenswürdig sind."
Dies könnte schon bald der Fall sein, denn die Schweizerische Post arbeitet am Neustart. Das Unternehmen kaufte der inzwischen insolventen Scytl den Programmcode für ein E-Voting-System ab und entwickelt diesen nun auf eigene Faust weiter. "Dafür hat die Post ihr bestehendes Spezialistenteam in Neuenburg ausgebaut", schreibt Post-Sprecherin Jacqueline Bühlmann auf Anfrage. Ab 2021 will die Post den neuen Quellcode veröffentlichen, damit ihn unabhängige Experten auf mögliche Schwachstellen prüfen können. "Das Ziel mit der Einbindung der externen IT-Community ist es, die Sicherheit weiter zu maximinieren, bevor das System zum ersten Mal eingesetzt wird", schreibt Bühlmann. Der CCC ist vom Vorhaben der Post enttäuscht: "Ich persönlich hatte auf ein Einsehen gehofft. Diese Hoffnung hat sich augenscheinlich nicht erfüllt. Bei der blutigen Nase, die sich die Post geholt hat, hat mich das überrascht", schreibt Birk. Die Argumente des CCC würden bei der Post weder verstanden noch zur Kenntnis genommen. "Dass man nun von allen Fakten unbeirrt weitermacht, lässt vermutlich wenig Raum für Hoffnung."
Unter welchen Bedingungen künftige E-Voting-Versuche stattfinden werden, ist noch nicht klar. "Aufgrund der Coronavirus-Pandemie wurde vom 5. Mai bis 17. Juli 2020 ein moderierter, schriftlicher Dialog durchgeführt", schreibt Urs Bruderer von der Sektion Kommunikation der Bundeskanzlei und erläutert: "Die im Rahmen des Dialogs behandelten Themen liegen im Bereich der vier Ziele: 1. Weiterentwicklung der Systeme, 2. Wirksame Kontrolle und Aufsicht, 3. Stärkung Transparenz und Vertrauen sowie 4. Stärkere Vernetzung mit der Wissenschaft." Bis zum Redaktionsschluss lag die Auswertung des Dialogs der Behörde noch nicht vor. Sie werde jedoch in den nächsten Wochen veröffentlicht, stellt Bruderer in Aussicht. Der Ständerat scheint der Bundeskanzlei zu vertrauen und sprach sich im September gegen ein eigenes E-Voting-Versuchsverbot aus.
Einer der Teilnehmer des Expertendialoges ist Matthias Stürmer, Leiter der Forschungsstelle Digitale Nachhaltigkeit am Institut für Informatik der Universität Bern. "Der Dialog war sehr intensiv und hochprofessionell organisiert, sowohl vonseiten der Bundeskanzlei als auch durch den Moderator Christian Folini", kommentiert er sein Engagement. Dass der Austausch wegen der Pandemie ausschliesslich online stattfand, habe die Qualität gefördert: "Es war zwar nicht sehr spassig, da wir nie mündlich diskutieren und fachsimpeln konnten, dafür war die Tiefe und Substanz der Beiträge mit allen Ausführungen und Quellenverweisen deutlich grösser als bei Live-Diskussionen."
Alte Gräben bleiben
Die Ausgangslage sei ideal für einen Neustart, gibt sich Stürmer optimistisch: "Wir haben vieles gelernt, sind einige Male auf die Nase gefallen. Wenn wir es jetzt schaffen, aufzustehen, die Grabenkämpfe zu beenden und gemeinsam eine Vision für eine sichere, transparente E-Voting-Zukunft zu entwickeln, dann kann es gelingen." Voraussetzung sei aber, dass alle Stakeholder in die gleiche Richtung ziehen. Dazu zählt Stürmer nicht nur die Bundeskanzlei und die Kantone, sondern auch die Post als Anbieterin sowie den Chaos Computer Club. Letzterer müsse "sein notorisches E-Voting-Bashing beenden und lernen, konstruktive Kritik anzubringen".
"Es ist richtig, dass wir unsere Argumente sehr pointiert vorbringen", kommentiert Hernâni Marques vom CCC den Vorwurf des Bashings. Er betont aber auch, dass weder Journalisten noch Behörden zeigen konnten, dass der Club Fake News verbreite. Gefragt nach der Zukunft von E-Voting in der Schweiz schreibt er: "Wir rechnen damit, dass es praktisches Schweizer E-Voting auf absehbare Zeit nicht geben wird: Dies hängt damit zusammen, dass die gesamte ICT-Industrie auf sehr fragiler Grundlage steht. Weder auf Ebene der Hardware noch auf Ebene der eingesetzten Betriebssoftware herrscht ausreichendes Vertrauen, um Computern unsere Abstimmungsdemokratie bedingungslos anzuvertrauen." Der CCC sei bereit, eine neue Volksinitiative zu lancieren, "wenn wir feststellen, dass Kantone und Bund wieder freidrehen und sich daran machen, die Schweizer Demokratie zu gefährden".