"Meineimpfungen.ch war ein totales Desaster"
Bezüglich E-Health hat die Schweiz noch einiges vor sich. Stefan Juon, Ralf Stäheli und Martin Schild machen eine Bestandsaufnahme und sprechen im Interview darüber, wo sich die Schweizer Gesundheitsbranche in Sachen Digitalisierung hinbewegt und welche Hürden sie dabei überwinden muss.
Wie digital ist das Schweizer Gesundheitswesen?
Stefan Juon: Das Bild, das auch gerade in der Pandemiezeit vielfach diskutiert wurde, wird der Realität bis zu einem gewissen Grad tatsächlich gerecht. Die Digitalisierung der Schweizer Gesundheitsbranche ist im Vergleich zu anderen Branchen noch nicht so weit fortgeschritten. Es wäre utopisch, zu glauben, dass wir diesen Rückstand in der nächsten Dekade aufholen könnten. Das ist aber auch gar nicht überall notwendig. Ein wesentlicher Teil eines Spitalaufenthalts dreht sich um soziale Interaktionen und die Pflege von Menschen. Es wäre eine Abstraktion, solche Bereiche hochgradig zu digitalisieren. Der persönliche Kontakt würde darunter leiden.
Martin Schild: Die digitale Transformation im Gesundheitssektor findet zweifellos statt. Die Gesamtinvestitionen sind aber eher gering, zumindest im Vergleich zur Finanzbranche. Als Hersteller sind wir überzeugt, dass aufgrund wachsender Bedürfnisse, wie der Steigerung der Patientenzufriedenheit oder Verbesserung der Telemedizin, die Digitalisierung auch im Gesundheitswesen von Jahr zu Jahr weiter zunehmen wird.
Ralf Stäheli: Das kann ich bestätigen. Unser Gesundheitswesen hat Aufholbedarf, und das nicht erst seit Corona. Trotzdem kann man die Branchen nur schlecht miteinander vergleichen. Im Finanzsektor sind mehr finanzielle Mittel vorhanden, und die Kundeninteraktionen sind anderer Natur. Im Gesundheitswesen gilt es auch, gesellschaftliche beziehungsweise soziale Aspekte zu berücksichtigen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, von einem Roboter gepflegt zu werden.
Juon: Das ist richtig, denn nur weil etwas technisch möglich ist, heisst das nicht, dass es auch Akzeptanz in unserer Gesellschaft findet. Japan tickt da etwas anders, dort ist Robotik bereits viel weiter verbreitet als bei uns.
Abgesehen von Pflegerobotern: Was sind die nächsten digitalen Trends im Gesundheitswesen?
Schild: Konkret sehen wir bei Atos Unify, dass viele Spitäler von stationären Terminals auf mobile Lösungen wie Tablets, Smartphones, bis hin zu BYOD umsatteln möchten.
Juon: Wir müssen immer reflektieren, wem die Digitalisierung überhaupt dient. Aus Spitalsicht soll entweder das Patientenwohl, die Behandlungsqualität oder aber die Wirtschaftlichkeit des Spitals davon profitieren. Zur Steigerung der Behandlungsqualität sehen wir zum Beispiel Potenzial im Einsatz von VR-Technologien oder Operationsrobotern im Operationssaal oder der KI-basierten Unterstützung beim Stellen einer Diagnose oder bei der Wahl einer Behandlungsmethode. In Sachen Patientenwohl werden sich über kurz oder lang gewisse Selfservices etablieren. Spitäler sind ein Labyrinth aus Gängen und Korridoren, in denen man sich leicht verirren kann – besonders, wenn ein Patient gesundheitlich etwas angeschlagen ist. Eine Navigations-App fürs Smartphone wäre da etwa eine Lösung. Zum dritten Punkt: Die Wirtschaftlichkeit ist zentral, das ist uns allen klar. Die Gesundheitsversorgung muss kostengünstiger und -effizienter werden. Das bedeutet den Abbau von Schnittstellen, Medienbrüchen, Mehrfachdateneingaben und mehr. Da bieten die Möglichkeiten der Digitalisierung viel Potenzial.
Stäheli: Diese drei Elemente müssen gegeneinander abgewogen werden, damit Spitäler erfolgreich digitalisieren können, gerade wegen des Kostenfaktors. Sonst kann es auch dazu kommen, dass Spitäler eine Lösung einführen, die vielleicht nicht alle Bedürfnisse abdeckt. Speziell noch zum Patientenwohl: Mir wäre es sehr wichtig, frühzeitig abgeholt zu werden. Das heisst, dass ich bereits vor dem Aufenthalt auf elektronischem Wege wichtige Informationen oder Einblick in meine Patientendaten erhalte. Oder dass ich über das Smartphone meinen Therapieplan einsehen oder wählen kann, was ich am nächsten Tag zu Abend essen möchte.
Juon: Das klingt super – wir dürfen aber auch demografische Faktoren nicht ausser Acht lassen. Die digitale Transformation führt in Teilen der Gesellschaft zu Überforderung. Für einen 80-jährigen Patienten wäre eine solche Lösung weniger zugänglich als für eine 25-jährige Patientin. Es ist nicht damit getan, dass wir analoge durch digitale Methoden ersetzen. Es wird eine Übergangsphase brauchen, wo beide Modalitäten parallel laufen. Das bedeutet mehr Aufwand und ist weniger kosteneffizient. Spitäler müssen sich deshalb sehr gut überlegen, welche Themen sie in welcher Reihenfolge angehen wollen.
Spitäler werden häufig Opfer von Cyberangriffen. Wie verhält sich das zum Wunsch nach Digitalisierung?
Juon: Cybersecurity ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Digitalisierung überhaupt gelingen kann. Speziell in unserer Branche. Nicht nur aufgrund der sensiblen Daten, sondern schon allein wegen der Geräte, mit denen wir arbeiten. Der Lifecycle eines medizintechnischen Produkts wie ein PET-CT ist nun mal deutlich länger als der eines Arbeitsplatzrechners. Wir sprechen hier von einem Zeitraum von 12 bis 15 Jahren. In IT-Sphären ist das fast schon unvorstellbar lange.
Stäheli: Digitalisierung macht ja auch verwundbarer, gerade wenn Daten, die früher analog erfasst wurden, nun auf dem Server liegen. Natürlich kann man seine Systeme weitgehend abschotten und nur on-premises betreiben. Doch wenn Spitäler neue Technologien wie eben Operationsroboter oder Diagnostiktools nutzen wollen, müssen sie zwangsweise in die Cloud. Das Spannungsfeld zwischen Sicherheit und der fortschreitenden Digitalisierung bleibt eine grosse Herausforderung.
Schild: Absolut. In der ICT herrscht eine Innovationskultur. In einer solchen Kultur ist Geschwindigkeit oftmals wichtiger als Perfektion. Wir Hersteller können Spitälern keine Lösungen anbieten, welche die geforderten Standards nicht zu 100 Prozent erfüllen. Das Gesundheitswesen kann sich das nicht leisten.
Ist E-Health in der Schweiz ein Sorgenkind?
Juon: E-Health ist eine grosse Chance, die wir nicht vergeben dürfen. Meineimpfungen.ch war ein totales Desaster, und die starke zeitliche Verzögerung beim elektronischen Patientendossier ist auch nicht ideal. Das EPD in der Version, wie sie jetzt angedacht ist, kann aus meiner Sicht nur ein Zwischenschritt sein. Man muss das EPD als Basistechnologie für E-Health verstehen. Das sollte uns dazu motivieren, sie mit voller Kraft zu unterstützen. Sobald der Austausch über verschiedene Behandlungspartner hinweg funktioniert, vom Zentrumsspital bis in die Arztpraxis im letzten Tal, dann reden wir von E-Health. Estland ist da beispielsweise schon viel weiter als die Schweiz.
Schild: Da bin ich völlig einverstanden. Um noch einmal den Link zur digitalen Transformation zu machen: Das Schweizer Spitalwesen ist stark reguliert und an staatliche Vorgaben und Richtlinien gebunden. Aber nichtsdestotrotz unterliegt das Gesundheitswesen einem enormen Kostendruck. Ich bin überzeugt, dass die digitale Transformation und E-Health-Technologien wie das EPD oder Telemedizin die Kluft zwischen dem Kostendruck und der wachsenden Erwartungshaltung der Patienten überbrücken kann – sofern sie richtig eingesetzt wird.
Juon: Es braucht unbedingt den politischen Willen auf nationaler Ebene. Es reicht offenbar nicht, die Gesetzgebung zwar zu schaffen, die Umsetzung dann aber den Kantonen zu überlassen. Der Staat muss über den Föderalismus hinweg Rahmenbedingungen schaffen, damit E-Health erfolgreich sein kann. Die Pandemie hat sehr deutlich gezeigt, was E-Health gerade in einer solchen Situation leisten kann. Sie hat aber auch schonungslos aufgedeckt, wo die Mängel sind. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Politik dies als Weckruf verstanden hat, die Rahmenbedingungen entscheidend zu optimieren.