Virtual-Reality-Revolution in der Gesundheitsbranche
Die Digitalisierung schreitet im Gesundheitswesen in beachtlichem Tempo voran. Während in der jüngsten Vergangenheit vor allem das Contact-Tracing von sich reden machte, verändert Virtual Reality den Health-IT-Sektor vergleichsweise lautlos, dafür stetig.
Die Virtual-Reality-Revolution ist einer jener Umbrüche, die sich nicht über Nacht manifestieren, sondern sich über Jahre im technologischen Bewusstsein einer Gesellschaft einnisten. Erste halbwegs brauchbare Produkte gab es zwar bereits in den 90er-Jahren - jedoch noch mit überschaubarem Erfolg. Richtig Schwung aufgenommen hatte Virtual Reality (VR) erst um 2015 mit dem Start der High-End-VR-Brille Oculus Rift des gleichnamigen Facebook-Unternehmens. Heute lassen sich VR-Anwendungen grob in zwei Kategorien einteilen: Da ist zum einen der High-End-Gaming-Markt, zum anderen kommt VR zunehmend in hochspezialisierten, professionellen Anwendungsfeldern zum Einsatz, unter anderem auch im Health-Sektor.
Ausbildung, Training und Schmerzmanagement
Bereits heute verzeichnet das Gesundheitswesen verschiedene praxistaugliche Einsatzfelder für die VR-Technologie. So wird der Ansatz im Training und in der Ausbildung eingesetzt: Operationen lassen sich in der VR realitätsnah simulieren, oder VR wird dazu genutzt, um anatomisches Wissen näherzubringen und den menschlichen Körper auf eine Weise erleb- und "greifbar" zu machen, an die noch vor nicht allzu langer Zeit kaum zu denken war.
Das Spektrum der Anwendungen umfasst aber nicht nur Lösungen, die von einem Fachpublikum bedient werden. Längst werden auch Anwendungen ersonnen, die sich direkt an den Patienten selbst richten. So wird etwa untersucht, inwiefern VR bei der Schmerzbehandlung unterstützen kann, etwa beim Setzen einer Infusionsnadel oder bei der Behandlung starker Hautverbrennungen - ein mitunter schmerzhafter Vorgang. Bei diesen Ansätzen liegt das Hauptaugenmerk nicht auf eigens entwickelte Applikationen - oftmals wird bereits erhältliche VR-Software aus den bekannten Stores genutzt. Denn schon mit Anwendungen von der Stange lassen sich spürbare Ablenkungseffekte erzielen, die sich positiv auf die Schmerzbehandlung (Medizinfachleute sprechen gerne von "Schmerzmanagement") auswirken.
Spitalangst bei Kindern
Kein Fachgebiet hat den Ideenreichtum rund um die entstehende VR-Medizin aber so angefacht wie die Kindermedizin beziehungsweise die Kinderchirurgie. Einerseits weil gerade die kleinsten Patienten empfänglich für digitale Medien sind, andererseits weil die Pädiatrie mit Herausforderungen zu kämpfen hat, für welche die VR-Technologie wie geschaffen ist. Während sich Anwendungen für Erwachsene eher auf die Behandlung (z. B. eben von Schmerzen) konzentrieren, versuchen Experten mithilfe von VR Kinder didaktisch abzuholen und so Ängste vor Operationen oder Behandlungen abzubauen. Die Spitalangst ist real und die Zahlen sind eindrücklich. Eine US-Studie schätzt, dass rund 60 Prozent der Kinder mit einer bevorstehenden Operation unter Ängsten und Unsicherheiten leiden. Brisant: Operationsangst kann sich negativ auf die postoperative Verarbeitung auswirken, den Heilungsverlauf negativ beeinflussen, Verhaltensauffälligkeiten verursachen oder die Spitalentlassung verzögern - spätestens hier werden auch die gesundheitspolitischen Dimensionen von Tech-Innovationen im Health-Bereich deutlich. Aber auch im Vorfeld einer Operation zeigen sich die Auswirkungen von Ängsten. 25 Prozent der Kinder, die keine beruhigenden Medikamente erhalten oder von ihren Eltern begleitet werden, müssen während der Anästhesie mit Gewalt festgehalten werden. Ähnlich wie in der US-Studie beschrieben, präsentiert sich die Situation in der restlichen Welt. Spitalangst bei Kindern ist ein globales Phänomen.
Gerade weil VR unter Medienexperten für junge Zielgruppen als ideale Didaktik-Maschine gilt, überrascht es nicht, dass man bei der Suche nach Lösungen gegen Spitalangst gerne auf sie zurückgreift. Das King’s College Hospital in London etwa bereitet Kinder mithilfe von verschiedenen 360-Grad-Filmen und VR-Brillen auf eine MRT-Untersuchung vor. Junge Patienten können sich so schon im Vorfeld ein Bild von der Lage machen und Unsicherheiten abbauen. Einen Schritt weiter ging das Boston Children’s Hospital. Das Spital nutzt mit "Health Voyager" eine Anwendung, die es ermöglicht, Kindern die Ergebnisse aus Darmspiegelungen mithilfe von VR altersgerecht zu erklären. Dabei werden die Untersuchungsresultate als digitales Modell abgebildet. So erhalten die Kinder die Möglichkeit, bei einer virtuellen Darmbegehung das individuelle Krankheitsbild zu begutachten und mehr über die eigene Diagnose zu erfahren.